von Susanne Schattenberg

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2. September 2022

"Er gab uns die Chance auf Freiheit.
Er verachtete den Krieg.
Er verachtete die Realpolitik. Er war überzeugt, dass die Zeit, in der die Weltordnung mit Gewalt erzwungen wird, vorbei war. Er glaubte an die Wahl des Volkes. Er ließ politische Gefangene frei. Er hat den Krieg in Afghanistan und das atomare Wettrüsten gestoppt. (…)
Er liebte seine Frau mehr als seine Arbeit, die Menschenrechte schätzte er höher als den Staat und den friedlichen Himmel mehr als seine persönliche Macht. (…)
Er machte sowohl seinem Land als auch der Welt ein unglaubliches Geschenk – er schenkte uns 30 Jahre Frieden. Ohne die Bedrohung durch einen globalen Atomkrieg. Wer kann das noch? Doch das Geschenk gibt es nicht mehr. Und Geschenke wird es nicht mehr geben."

 

Unter all den Nachrufen, die einen Tag nach dem Tod Michail Gorbatschows, dem 30. August 2022, erschienen, war dieser vom Friedensnobelpreisträger Dmitrij Muratow, dem ins Ausland geflüchteten Chefredakteur der Nowaja Gaseta, der „Neuen Zeitung“, sicher der ergreifendste und verzweifeltste. [Quelle] Ohne den Namen Putin zu nennen, erklärt Muratow Gorbatschow darin zum genauen Gegenstück des heutigen russischen Präsidenten. Nicht nur erscheint Gorbatschow als Lichtgestalt und geradezu Messias, der den Menschen Frieden, Freiheit und Sorglosigkeit brachte. Es klingt auch an, als hätten die Menschen nicht verstanden, was er ihnen schenkte und würden erst jetzt erwachen und begreifen, was sie an ihm hatten, da er nicht mehr ist: Keiner mehr, der uns Frieden schenkt; keiner mehr, der zwischen uns und der Atomkatastrophe steht.

Nicht nur Muratow bewertet Gorbatschow im Lichte von Putins Angriffskrieg und Diktatur. Auch in Putins Umgebung fällt man sein Urteil vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse.

Wohl den schamlosesten Nachruf schrieb Irina Alksnis für die staatliche Presseagentur Ria Nowosti: „Eine alte Weisheit besagt, dass der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist. Michail Gorbatschow dient als Beispiel dafür, wie die guten Absichten eines Staatsführers die Hölle auf Erden für ein ganzes Land bedeuten können. (...)" Er trägt die Verantwortung für ein zerstörtes Land, für den Alptraum der 1990er Jahre, für die Millionen von Menschen, die in Bürgerkriegen, ethnischen Säuberungen, Terroranschlägen und Bandenkriegen vernichtet wurden, für die Millionen von ungeborenen Menschen. (...)." [Quelle] Statt einer Lichtgestalt war er also der Teufel persönlich; statt Erlösung brachte er seinem Volk Verdammnis. Das ist eine neue Zuspitzung der üblichen Kreml-Propaganda, nach der Gorbatschow für das Chaos der 1990er Jahre verantwortlich sei, mit dem Putin dann aufgeräumt hätte. Alksnis lässt keinen Zweifel daran, dass es nicht nur darum geht, die Folgeerscheinungen des Umbruchsprozesses zu beseitigen, sondern die Auflösung der Sowjetunion selbst zurückzudrehen: "Der Zusammenbruch der UdSSR war eine nationale Katastrophe, mit deren Folgen wir seit vier Jahrzehnten zu kämpfen haben. Zwischendurch schien das Schlimmste überstanden zu sein. Aber die Verwandlung der Ukraine in einen Nazi-Kubus zeigt, dass das infernalische Schwungrad, das vor mehr als dreißig Jahren in Gang gesetzt wurde, immer noch in Bewegung ist. Russland muss und wird das beenden." [Quelle] Stark-Trek-Anhänger*innen mögen an diesem Vergleich mit einem "Borg-Kubus", der größten Bedrohung der weltraumreisenden Menschen im 24. Jahrhundert durch Maschinenmenschen, die in würfelförmigen Raumschiffen reisen, Gefallen finden. Tatsächlich ist es kaum an Zynismus zu übertreffen, Gorbatschow als Ursache für einen Krieg darzustellen, den Putin begonnen hat, und die Ukraine mit Nazis und den Borg zu vergleichen, während die größte Bedrohung für die Menschheit derzeit von Russland ausgeht.

Damit ist der Streit um die Bewertung Gorbatschows und seinem Erbe voll entbrannt, die sich zwischen diesen zwei Polen von Seligsprechung und Verteufelung bewegt. Dabei geht es weniger um die historische Figur, als um die Deutungsmacht über das Hier und Jetzt.

Weder als Heilsbringer noch als Dämon, sondern als naiven Dummkopf stellte Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow Gorbatschow dar: "Er glaubte aufrichtig, dass der Kalte Krieg enden und eine romantische Zeit beginnen würde. Diese Romantik hat sich nicht bewahrheitet. Die Blutrünstigkeit unserer Gegner hat sich gezeigt. Es ist gut, dass wir das rechtzeitig erkannt und verstanden haben." [Quelle] Neutral und staatsmännisch, man könnte auch meinen: nichtssagend fiel dagegen der Kommentar Putins aus: "Er führte unser Land in einer Zeit schwieriger, dramatischer Veränderungen, groß angelegter außenpolitischer, wirtschaftlicher und sozialer Herausforderungen. Er hatte ein tiefes Verständnis für die Notwendigkeit von Reformen und versuchte, seine eigenen Lösungen für die drängenden Probleme anzubieten." [Quelle] Bände sprechen dagegen die Aussagen am Tag nach dem Tod, der Kreml habe noch nicht verfügt, ob es am Samstag, den 3. September, ein Staatsbegräbnis geben werde, und Putin habe noch nicht entschieden, ob er anwesend sein werde. [Quelle] Putin hat an anderer Stelle genügend deutlich gesagt, was er von Gorbatschows Politik und Vermächtnis hält: Die Auflösung der Sowjetunion war die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ und die Ukraine in die Eigenstaatlichkeit zu entlassen grob fahrlässig.

Interessant ist, wie sich die Bevölkerung positionieren wird. Denn immerhin wird die Trauerfeier im Säulensaal des Gewerkschaftshauses stattfinden, wo seit Lenin alle sowjetischen Staatsführer aufgebahrt wurden. Alle, die wollen, können sich hier am Samstagvormittag zwischen 10:00 und 14:00 Uhr von dem letzten Generalsekretär der KPdSU und dem einzigen Präsidenten der Sowjetunion verabschieden, bevor die Beisetzung auf dem Neujungfrauenfriedhof stattfindet, wo nicht nur Gorbatschows Frau Raissa liegt, sondern auch Nikita Chruschtschow und Boris Jelzin (neben vielen anderen Prominenten) begraben sind. Die Verabschiedung von Idolen, denen der Staat nicht die letzte Ehre erweisen wollte, hat schon in der Sowjetunion den Menschen so manches Mal die Möglichkeit geboten, ihre Trauer als öffentliche Demonstration für eine andere Geisteshaltung zur Schau zu stellen. Es wird sich zeigen, ob sich nicht Tausende Menschen vorm Gewerkschaftshaus oder vor dem Neujungfrauenfriedhof versammeln werden, um nicht nur Gorbatschow zu ehren, sondern damit auch ihr Unbehagen, um nicht zu sagen: ihr Entsetzen über den Krieg auszudrücken.

Das könnte eine Neubewertung Gorbatschows in der Bevölkerung bedeuten, die ihn bekanntermaßen keineswegs als Lichtgestalt begriff, als die Muratow ihn nun gezeichnet hat. Die große Mehrheit sah nur das Alkoholverbot, die leeren Geschäfte und das Versagen des Staats angesichts der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 und des Erdbebens in Armenien 1988, das Festhalten am Einparteienstaat, das bürokratische Schikanieren von NGOs und den mangelnden Respekt gegenüber dem Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow. Die Öffnung des Landes, der Wegfall der Zensur und das Zulassen von Meinungsfreiheit machte nicht dafür dankbar, sondern wütend über das, was das Land an Wirtschaftskraft nicht erreicht und die Partei den Menschen an Möglichkeiten und Wahrheiten vorenthalten hatte. Das klingt in Muratows Zeilen an: Es war ein Geschenk, das erst jetzt realisiert wird, da es fort ist. Ob das mehr Menschen heute so sehen, wird sich zeigen. Ähnlich äußerte sich Aleksej Nawalny, der unterstrich, dass Gorbatschow die letzten politischen Gefangenen frei ließ. "Und die Tatsache, dass Menschen wie ich heute über den Gefängnissender von seinem Tod erfahren, charakterisiert perfekt die Rolle rückwärts", die sein Land nun vollzogen habe. „Meine Haltung gegenüber Gorbatschow entwickelte sich von unbändigem Zorn – er stand den von mir verehrten "Radikaldemokraten" im Weg – zu melancholischem Respekt. (...) Er verließ die Macht friedlich und freiwillig und respektierte den Willen der Wähler." [Quelle] Gorbatschow sei maßgeblich daran beteiligt, dass das 20. Jahrhundert ein Ende fand. Damit meint er wohl das Jahrhundert der Wölfe, der Vertreibung und Diktaturen.

Aber ist das 20. Jahrhundert vorbei, die Zeit der Diktatoren, der Angriffskriege und der atomaren Bedrohung? Wie es bei Muratow anklingt und Alksnis offen propagiert, ist Putin dabei, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und das sowjetische Imperium wiederherzustellen. Die Meinungs- und Pressefreiheit hat er bereits abgeschafft, unabhängige Parteien gibt es de facto nicht mehr, das Versammlungsrecht ist nicht mehr existent, dafür gibt es wieder politische Gefangene. Was bleibt, ist die Unabhängigkeit der anderen ehemaligen Sowjetrepubliken (mit Ausnahme von Belarus), der Staaten in Ostmitteleuropa und die deutsche Wiedervereinigung. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte anlässlich Gorbatschows Tod, die Demokratie sei in Russland gescheitert. [Quelle] Das klingt wie Putin, der 2022 formulierte, Russland sei für ein Mehrparteiensystem nicht bereit. Aber für den Moment trifft Scholzʼ Diagnose zu. Von Gorbatschows Werk sind derzeit nur noch Scherben vorhanden. Muratow schreibt, dass ihm einst Gorbatschow mit einem Augenzwinkern steckte: "Jeder Diktator sollte immer an einem geheimen Ort ein vollaufgetanktes Flugzeug bereitstehen haben…" Dies ist ein frommer Wunsch bezogen auf Putin.

Noch ist offen, welches Gedenken an Gorbatschow sich bei Russinnen und Russen langfristig durchsetzen wird: die Lichtgestalt oder der Borgkubus. Über das Schicksal seines Erbes wird maßgeblich der Ausgang des Kriegs in der Ukraine entscheiden. Für den Moment gilt: "Doch das Geschenk gibt es nicht mehr. Und Geschenke wird es nicht mehr geben."