von Martina Winkler

  |  

1. August 2017

Tschechische Autoren geraten eher selten in den Radius der Wahrnehmung internationaler Literaturkritiker. In diesem Jahr aber ist es wieder einmal soweit: Jaroslav Kalfařs Roman Spaceman of Bohemia wird in den US-amerikanischen Feuilletons als literarische Sensation gefeiert; die Übersetzung ins Deutsche soll in den nächsten Wochen erscheinen (ebenso die französische Version, in spanischer und tschechischer Übersetzung ist das Buch bereits auf dem Markt). Es handelt sich aber bei diesem Roman nicht nur um einen literarischen Höhepunkt, der Spannung und Witz verspricht, sondern auch um eine interessante Auseinandersetzung mit Geschichtsbildern, nationalen Identitätskonzepten und Stereotypen, mit denen „die Tschechen“ gern beschrieben werden.

Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: Der Physiker Jakub Procházka wird für ein Raumfahrtprogramm ausgewählt und begibt sich auf einen mehrmonatigen Flug zu einem neu entdeckten Kometen, um die kosmische Staubwolke Chopra zu erforschen. Diese Reise erfüllt schließlich zwar nicht die in sie gesetzten Hoffnungen der gesamten Nation, doch für den Astronauten wird sie zum Anlass, sein Leben zu überdenken und zu ändern.

Der Roman erfüllt in mancher Hinsicht die Erwartungen, um nicht zu sagen: Klischees, im Umgang mit tschechischer Literatur und Geschichte. In anderer Hinsicht allerdings stellt er genau diese Klischees sehr erfolgreich und unterhaltsam infrage, sowohl formal als auch inhaltlich.
An erster Stelle ist wohl der Topos der Emigration zu nennen: Wir haben es mit einem tschechischstämmigen Autor im Ausland zu tun – Kalfař ist als Fünfzehnjähriger in die USA ausgewandert und hat dort seine vielversprechende literarische Karriere mit verschiedenen renommierten Auszeichnungen und Fellowships begonnen. Dass sein Buch in der Literaturkritik - und auch in diesem kurzen Beitrag - stets als „tschechisch“ eingeordnet wird, ist angesichts dieser literarischen Sozialisation nicht ganz unproblematisch. Andererseits - jedes Nachdenken über diesen Roman ist von vielen "einerseits-andererseits" bestimmt - fordert der Autor diese Zuordnung natürlich heraus.
Denn Kalfařs Erstling spielt vollständig in der Tschechischen Republik (abgesehen von den Szenen im Weltall), bereits der Titel betont die geografische Zuordnung, der Text ist gespickt mit tschechischen Namen und Ausdrücken, und der Roman kann als Kaleidoskop verschiedenster Versatzstücke des tschechischen Geschichtsnarrativs begriffen werden. Und so wird das Buch nicht nur in eine neuere Welle von „Emigrantenliteratur“ eingeordnet, sondern auch mit der Tradition Milan Kunderas und Josef Škovereckýs in Verbindung gebracht, obwohl gerade der kaleidoskopische Charakter eher an die Romane und Comics Jaroslav Rudišs erinnert. Autor wie Buch sind also sehr tschechisch - einige Kritiker wollen auch auf den Vergleich mit Hašeks „Švejk“ nicht verzichten - und doch wieder nicht. Denn es ist die Position des Außenseiters, die hier ausgelotet und regelrecht zelebriert wird. Kalfařs Held Jakub Procházka betrachtet nicht erst als Astronaut die Welt von außen. Bereits als Kind gilt er, aus der Stadt kommend, den Dorfkindern als Fremder. In der sozialistischen Gesellschaft wird er zudem als Sohn eines Mitarbeiters der Geheimpolizei misstrauisch beäugt und zugleich beneidet. Zentrum (Prag, Staatssicherheit, Nationales Heldentum) und Peripherie, das Dazugehören und das Ausgeschlossensein stehen in einem dynamischen Verhältnis zueinander und strukturieren die Spannung kollektiver Identität. Kalfař spielt mit nationalen Klischees, sei es der allgegenwärtige Konsum von Bier und Bratwurst, sei es die Rede von den „goldenen tschechischen Händen“, sei es die Benennung eines Kapitels mit „Prague in Spring“.
Ein kurzer Satz fasst diese Dimension des Buches in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zusammen: „I embraced the kitsch“. Procházka, der nationale Ausnahmeheld mit dem Allerweltsnamen, verkörpert die Facetten einer Nation, die außerhalb ihrer Grenzen weitgehend nur als Klischee bekannt ist und von dieser Reduktion auf Touristenattraktion ebenso profitiert wie mit ihr kämpft. Er erkennt den Kitsch, beschreibt ihn und genießt ihn dennoch, und er lädt den Leser ein, es ihm gleichzutun. Dabei ist Procházka nicht nur ein postmoderner Spieler, der souverän mit Identitäten hantiert, sondern mindestens ebenso sehr Objekt und womöglich Opfer des tschechischen Strebens nach globaler Anerkennung. In dieser Situation scheint alles möglich - eine Neuerzählung der Geschichte des Reformers Jan Hus, das Auftauchen eines vielarmigen Wesens aus dem All, das Procházka nach einer anderen mittelalterlichen Figur als Hanuš tauft, und die Vorliebe dieses Wesens für Nutella in großen Mengen - alles ist möglich, bis auf eines: nationale Indifferenz.

Ebenso komplex und spannungsreich wie das Verhältnis von innen und außen ist auch die Relation von früher und später, und damit das hier entworfene Geschichtsbild. Geschichte ist bei Kalfař keine linear strukturierte Vergangenheit, sondern ein Panorama unterschiedlicher Zeitschichten. Hier spielen das Narrativ des Romans, das Leben des Protagonisten und die „nationale“ Geschichte zusammen. In allen drei Bereichen sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpft: Ein „vorbei“ gibt es nicht. Geschichte wird genutzt und umgeschrieben, alles ist offen. Kalfařs Spiel mit historischen Elementen kann ernst und geradezu schmerzhaft sein, wie bei der Auseinandersetzung mit der Routine geheimdienstlicher Überwachung von 1989 und dem Schicksal von Dissidenten. Dieses Spiel ist ebenso voller Ironie, wie bei seiner Begegnung mit russischen Astronauten im Weltall. Es ist absurd, wie bei seiner Neuerzählung des Schicksals Jan Hus'. Und nichts davon ist singulär, unwiederholbar oder auch nur linear. Geschichte wird vielmehr zu einer Masse von Ereignissen, Emotionen und Symbolen, die stets aufs Neue zusammengesetzt werden.

In den letzten Jahren sind nicht wenige literarisch spannende Texte erschienen, die sich mit verschiedenen Aspekten der tschechischen Geschichte auseinandersetzen. Dazu gehören wichtige Werke, die auf kaum zu ertragende Weise die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges und der darauf folgenden Jahre verarbeiten, wie die Bücher Kateřina Tučkovás und Radka Denemarkovás.[1] Ironische, mit dem Topos der verzerrenden Kindheitserinnerung arbeitende Texte schildern die Absurditäten der Normalisierungszeit (Irena Dousková).[2] Formal und inhaltlich innovativ schließlich sind die bereits erwähnten Rundumschläge Jaroslav Rudišs.[3]
Mit Kalfařs Werk erhält diese literarische Landschaft eine weitere Perspektive, die absolut lesenswert ist: die unmittelbare Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von persönlichen, kollektiven und historischen Erfahrungen, von tragischen und komischen Momenten. Großartig.

Die deutsche Ausgabe des Romans „Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt“ wurde von Barbara Heller ins deutsche übersetzt, er erscheint am 5. August 2017 bei Tropen/Klett-Cotta.


[1] Kateřina Tučková: Vyhnání Gerty Schnirch, Brno 2008 (eine deutsche Übersetzung steht leider noch aus). Radka Denemarková: Peníze od Hitlera, Brno 2006 (dt.: Ein herrlicher Flecken Erde, München 2009).
[2] Irena Dousková: Hrdý Budžes, Praha 1998 (dt.:Der tapfere Bella Tschau, München 2006).
[3] Jaroslav Rudiš: Národní třída, Praha 2013 (dt.: Nationalstraße München 2016). Ders./Jaromír 99: Alois Nebel. Na trati, Praha 2006 (dt.: Alois Nebel. Leben nach Fahrplan, Dresden 2013).