von Thomas Großmann

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1. Juli 2011

In Ägypten erzählt man sich gerne Witze, auch über den gestürzten Präsidenten Husni Mubarak: „Mubarak stirbt und findet sich in der Hölle wieder. Dort trifft er auf seine beiden Vorgänger Sadat und Nasser. Sie fragen: ‚Traf dich eine Kugel oder wurdest du vergiftet?‘ Mubarak antwortet: ‚Es war Facebook!‘“ Tahar Ben Jelloun, marokkanisch-französischer Schriftsteller, erzählt diesen Witz in seinem Mitte April erschienenen Buch „Arabischer Frühling. Vom Wiedererlangen der arabischen Würde.“ Der Begriff Buch ist nicht ganz richtig. Eher handelt es sich um ein literarisches Notizbuch, das den Beginn einer neuen Zeit in der arabischen Welt in einzelnen Texten beobachtet, beschreibt und nicht minder ersehnt. Gleich zu Beginn bekommt der Leser einen Einblick in das Denken Husni Mubaraks und auch seines früheren tunesischen Amtskollegen Zine el-Abidine Ben Ali: Ihre Gedanken kreisen nur um das Wohl des Volkes und den Ruhm des Vaterlands. Mit fürchterlicher Migräne erleben sie ihre Entmachtung als ein Komplott, als Sabotage an ihrem Lebenswerk. Ein weiteres literarisch-dokumentarisches Stück im zweiten Teil des Büchleins ist das Essay „Der Funke“. Ben Jelloun versetzt sich in das Leben eines jungen Tunesiers, um seine Verzweiflung an einem Alltag aus Armut und Polizeiwillkür nachzuempfinden, die so groß ist, dass er sich öffentlich verbrennt. Eine Analogie zum realen Fall des jungen Mannes, der infolge seiner schweren Verbrennungen am 4. Januar 2011 starb. Sein Tod war in Tunesien der Funke, der zu den Massendemonstrationen führte und den Präsidenten Ben Ali und seine Familie ins Exil zwang.

Ben Jelloun, dem kürzlich der Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück zuerkannt wurde, sieht sich in der Tradition des öffentlichen Intellektuellen, die in Frankreich bis auf Émile Zola und sein „J’accuse…!“ in der Dreyfus-Affäre zurückgeht. Daher beginnt auch das Buch mit der Zurückweisung der Behauptung, die arabischen Intellektuellen – zu denen sich Ben Jelloun zählt – würden zu den Verhältnissen in ihren Heimatländern schweigen. In den fünfzig Jahren seit die arabische Welt unter mehr oder weniger unverhohlenen Diktaturen leide, entgegnet Ben Jelloun, „sind die Intellektuellen nie verstummt und haben sich nie damit abgefunden, verachtet und gedemütigt zu werden“.[1] Wie zum Beweis für diese Behauptung sind am Ende des Buches zwei Artikel Ben Jellouns abgedruckt, die 2003 in französischen Zeitungen erschienen sind und in der Tat nicht mit Kritik sparen.

Wer aus zeithistorischer Perspektive auf Ben Jellouns Texte schaut, fühlt sich an die Zeit um 1989 erinnert. Auch damals waren es einzelne Dissidenten, die die Kritik an den Parteidiktaturen Ostmitteleuropas formulierten bzw. überhaupt formulieren konnten. Nicht zuletzt deshalb, weil sie durch persönliche Kontakte und ihren Grad an Bekanntheit den Zugang zu westlichen Medien hatten. Dass diese Kritik mitunter über Jahre sowohl in Ost wie auch in West verhallte bzw. nur wenig Wirkung zeigte, ist eine auffällige Gemeinsamkeit zwischen der früheren Sphäre des Staatssozialismus und der arabischen Welt der jüngsten Vergangenheit. Überhaupt scheinen viele Gemeinsamkeiten auffällig, trotz der zweifellos gewaltigen Unterschiede in Kultur und Kontext.

So wie einige Oppositionelle des „Neuen Forum“ der DDR vor 1989 kritisiert Ben Jelloun die Bigotterie der westlichen Länder im Umgang mit diktatorischen Regimes in aller Welt. Die arabischen Diktaturen waren bis vor wenigen Monaten willkommene politische Partner (im Kampf gegen islamistische Terrornetzwerke) und begehrte Geschäftspartner (für Öl, Waffen, Investitionen). „Die europäischen Staatschefs tragen große Verantwortung für die Aufrechterhaltung jener unbeliebten autoritären Regime. […] Die Europäer schließen die Augen überall, wo sie Geschäfte machen, ob in China, Libyen oder Algerien.“[2] Trotz der eingeflochtenen Kritik bleibt Ben Jelloun optimistisch, dass sich der „Mantel aus Scheinheiligkeit und Gefälligkeit“ ein Stück weit lüften werde und Geschäfte nicht länger den alleinigen Vorrang vor den Menschenrechten haben. Dass Öffentlichkeit und eine kritische Presse hierbei eine große Rolle spielen, lässt der Autor an einigen Stellen durchscheinen. 

 

Revolte des Ichs

Doch das eigentliche Thema des Buches ist der Stolz des teilnehmenden Beobachters über die Welle der Selbstbefreiung in den arabischen Ländern und die Quelle, aus der sich dieser Aufstand speist. Der Autor sieht die Motive dieser Revolutionen in der Sehnsucht der Jugend nach einem selbstbestimmten Leben in Würde, frei von staatlicher Bevormundung und polizeilicher Willkür. „Neue Werte, die eigentlich alte Werte sind, haben das Terrain der arabischen Protestbewegung erobert: Freiheit, Würde, Gerechtigkeit, Gleichheit.“[3] Es sind diese Werte, die Ben Jelloun jubeln lassen und für ihn den Aufbruch in eine neue Zeit anzeigen. „Diesmal haben die Araber ihr Schicksal in die eigene Hand genommen und beschlossen, den Zug der Moderne zu besteigen, ohne sich hinter einem Alibi zu verstecken oder Schuldgefühle an den Rest der Welt zu verteilen.“[4]

Die Zeit der politischen und auch religiösen Führer geht damit ihrem Ende entgegen, meint der Autor, auch wenn die europäisch-westliche Wahrnehmung (noch) eine andere ist. Auch hier zeigen sich Ähnlichkeiten mit den Revolutionen von 1989, die schon im Januar und Februar 2011 in vielen Zeitungsberichten zitiert wurden: die spontanen und ungesteuerten Proteste auf den Straßen und Plätzen, die wichtige Rolle der Jugend, die zum Stein des Anstoßes für die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen werden. Und immer wieder die Sehnsucht nach Würde – in der DDR hieß es „aufrechter Gang“ – und ein Ende schrankenloser Willkür und alltäglicher Korruption. Es ist die Entdeckung des politischen Ichs, die nach Meinung Ben Jellouns die arabische Welt auf Dauer verändern wird, wenn auch nicht von heute auf morgen.

 

Die Rolle der Medien

Eine weitere Gemeinsamkeit, die der Arabische Frühling mit den friedlichen Revolutionen teilt, ist die große Bedeutung von Bildern, Medien und deren mediale Wahrnehmungen. So wie damals die Fernsehbilder von Flüchtlingen in den bundesdeutschen Botschaften von Budapest, Prag und Warschau zur Mobilisierung des Protests beitrugen, wurde von vielen Kommentatoren dem Internet, insbesondere Facebook, Twitter und Youtube, die Hauptrolle für den Umsturz in Tunesien und Ägypten zugewiesen. Doch auch die Berichterstattung von Aljazeera wird hervorgehoben, jener Fernsehsender aus Katar, der sich zu einem transnationalen arabischen Kommunikationsraum vor allem für Nachrichten entwickelt hat. Die Verlockung eines simplen Zusammenhangs zwischen den Medien und der Reaktion der Massen ist allerdings groß. Auch 1989 wurde sehr schnell als Fernsehrevolution wahrgenommen. So schrieb der damals in München arbeitende Historiker Hagen Schulze – teils mit kulturkritischem Unterton – in der Wochenzeitung „Die Zeit“ über die „Revolution in der Glotze“: „… unsere Fernsehkultur beschert uns nicht mehr zeitaufwendige Geschichten, sondern rasch wechselnde Bilder, optische Fragmente, die nur durch einige bruchstückhafte Kommentare der Berichterstatter notdürftig zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die Demonstration in Prag liefert genau die selben Bilder wie die in Dresden oder in Warschau, und das aus gutem Grund: Die Demonstration in Prag findet statt, weil die Menschen die Fernsehbilder aus Dresden in den Köpfen haben, wie auch die Dresdener Demonstranten sich nach Warschauer Vor-Bild verhalten.“[5] Ben Jelloun verzichtet auf Überlegungen zu direkter Medienwirkung in den Revolutionen. Er weist stattdessen auf einen anderen wichtigen Punkt hin: „Getragen wird sie [die Bewegung des Arabischen Frühlings, Th. G.] von einer Generation von jungen Menschen, von denen einige im Ausland gelebt haben und die alle im Gegensatz zu ihren Eltern die Fenster zur Außenwelt aufgerissen haben. Sie haben gesehen, wie junge Menschen in anderen Ländern leben; sie haben festgestellt, dass Freiheit eine Voraussetzung für wahres Leben ist.“[6] Dieses Fenster zur Welt, von dem Jelloun spricht, das sind Fernsehen und Internet. Er verweist damit auf die langfristigen Wirkungen der Massenmedien, die mindestens genauso zur Revolution beigetragen haben wie die emotionalen Bilder des Augenblicks.    

 

Eine neue Zeit

„Nichts wird mehr so sein wie vorher, weder in den Ländern selber, noch außerhalb“, ist sich Ben Jelloun sicher. „Die anderen arabischen Länder, in denen die Voraussetzungen für Bewegungen und Aufstände dieser Art herrschen, werden notgedrungen ihre Systeme reformieren und stärker auf die Einhaltung der Menschenrechte achten. Der Bürger wird nicht länger ein der Willkür eines ihn verachtenden Regimes ausgesetzter Untertan sein, er wird zum Individuum mit einem Namen, einer Stimme und allen Rechten.“[7] Für den Beobachter, weit entfernt vom Alltag in den arabischen Ländern, ist es schwer zu beurteilen, ob sich der Optimismus des Autors in den letzten Wochen und Monaten schon bestätigt hat. Im Falle Syriens und Libyens sind ein Ende der Gewalt und die Hoffnung auf einen Neuanfang momentan noch nicht absehbar. Ägypten, Tunesien und auch Marokko scheinen sich jetzt in einer Art Transformationsphase zu befinden – mit offenem Ausgang.

Dass es sich bei den fast gleichzeitigen Revolutionen und Aufständen um eine Zäsur für die gesamte arabische Welt gehandelt hat, ist nachvollziehbar. Auch wenn die Zukunft ungewiss ist, hilft diese Zäsur vielleicht der europäischen und amerikanischen Zeitgeschichte, sich der Entwicklung in der arabischen Welt wissenschaftlich anzunehmen. Dazu kann etwa ihre Einbindung in den Kalten Krieg durch die Zusammenarbeit einzelner Länder mit den USA oder im Falle Syriens mit der Sowjetunion dienen oder der Vergleich der Revolutionen des Jahres 2011 mit denen von 1989. [8] Eine Annäherung an die Geschichte des arabischen Raums in diesem Sinne könnte das Gesichtsfeld einer eurozentrischen Zeitgeschichte erheblich erweitern.

 


Tahar Ben Jelloun: Arabischer Frühling. Vom Wiedererlangen der arabischen Würde, Berlin Verlag, Berlin 2011. 128 Seiten, 10 Euro.

[1] S. 7

[2] S. 24f.

[3] S. 11

[4] S. 12

[5] Hagen Schulze, Revolution in der Glotze, in: Die Zeit, Nr. 12 vom 16.3.1990, S. 55.

[6] S. 90.

[7] S. 26.

[8] Ben Jelloun verweist z.B. darauf, dass die mit sowjetischer Unterstützung in der DDR ausgebildete Polizei Syriens eine wesentliche Stütze des Regines ist (S. 68).