von Ulrich Herbert

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1. November 2013

Der Boom der westdeutschen Wirtschaft in den späten fünfziger Jahren hatte einen enormen Bedarf an Arbeitskräften zur Folge, der bis 1961 vor allem durch den steten Zufluss an jungen und gut ausgebildeten Flüchtlingen aus der DDR gedeckt wurde. Nach dem Mauerbau und dem damit verbundenen Ausbleiben der Flüchtlinge aus der DDR nahm der Arbeitermangel aber bald alarmierende Ausmaße an, zumal noch weitere Faktoren hinzukamen: Die geburtenschwachen Kriegsjahrgänge traten ins Erwerbsleben ein, die verbesserte Altersversorgung hatte einen früheren Eintritt ins Rentenalter zur Folge, die Ausbildungszeiten verlängerten sich und die durchschnittliche Lebensarbeitszeit  sank.

Bereits Mitte der fünfziger Jahre hatte sich die Bundesregierung daher grundsätzlich darauf festgelegt, diese Lücke durch Heranziehung ausländischer Arbeiter zu schließen. 1961 setzte dann auch die massierte Anwerbung ausländischer Arbeiter im großen Stil ein, vor allem in den südeuropäischen Ländern mit hohem Arbeitskräfteüberschuss – in Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, Jugoslawien, erst später in der Türkei.

Dabei wurde die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte in der Bundesrepublik wie in anderen Industrieländern unter durchweg positiven Vorzeichen gesehen. Während für die Bundesregierung hohe Wachstumszahlen und Preisdämpfung im Vordergrund standen, wurde für die Arbeitgeber die Beschaffung von Arbeitskräften vor allem für weniger qualifizierte Arbeitsplätze sehr viel einfacher. Außerdem konnten sie auf diese Weise einen durch Arbeitskräftemangel entstehenden Lohndruck in den unteren Lohngruppen vermeiden. Aus Sicht der Gewerkschaften schließlich verbesserten sich durch die Beschäftigung von Ausländern die Bedingungen für die angestrebten Arbeitszeitverkürzungen.

Auch für die Entsendeländer schien es nur Vorteile zu bringen – dort würden die Arbeitslosenzahlen gesenkt, die Zahlungsbilanzen durch die Lohntransfers verbessert und die Qualifikationsstruktur der Arbeiterschaft durch ihre Tätigkeit in deutschen Fabriken erhöht – ein „Stück Entwicklungshilfe für die südeuropäischen Länder“, wie westdeutsche Politiker häufig hervorhoben. So stieg die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik von 279.000 im Jahr 1960 (1,3 Prozent aller Erwerbstätigen) auf 1.314.000 (6,1 Prozent) im Jahr 1966.

Gemeinsame Überzeugung aller Beteiligten war es, dass es sich bei der Beschäftigung der „Gastarbeiter“ – der Begriff setzte sich nun durch, nachdem das zuvor gebräuchliche „Fremdarbeiter“ unangenehme historische Reminiszenzen hervorgerufen hatte – um ein zeitlich begrenztes Phänomen, um eine Übergangserscheinung handele. Über etwaige Folgewirkungen und längerfristige Perspektiven der Beschäftigung der steigenden Zahl von Gastarbeitern machten sich die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft zu dieser Zeit hingegen keine Gedanken. Mit dem neuen Ausländerrecht wurde aus dieser Überzeugung eine bindende Vorschrift: Ausländische Arbeitskräfte erhielten zunächst nur für ein Jahr das Aufenthaltsrecht, waren aber während dieser Zeit an den Arbeitgeber in Deutschland gebunden. Aber auch die meisten „Gastarbeiter“ sahen ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik nur als vorübergehenden Arbeitsaufenthalt an. Mit dem hier verdienten Geld wollten sich die meisten nach einigen Jahren eine neue, bessere Existenz im Heimatland aufbauen. Dadurch blieben die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den Heimatländern der Vergleichsmaßstab, an dem sie ihr Leben in Deutschland beurteilten. Infolgedessen waren sie eher als die Deutschen bereit, sowohl schmutzige als auch besonders schwere Arbeit zu akzeptieren, mehr Überstunden zu machen, auf einen ihrem Lohn entsprechenden Lebensstandard und Konsum zu verzichten und möglichst billig zu wohnen. Zudem zeigten sie in der Regel an politischen und gewerkschaftlichen Aktivitäten in der Bundesrepublik kein Interesse. 90 Prozent der ausländischen Männer waren im Jahre 1966 als Arbeiter beschäftigt – gegenüber 49 Prozent der deutschen Männer. Fast drei Viertel der Ausländer waren in der Industrie tätig und arbeiteten dort als an- oder ungelernte Arbeiter.

In der westdeutschen Bevölkerung stieß die Anwesenheit der Ausländer zunächst auf wenig Interesse. Eher hatte es den Anschein, als sei sie als eine offenbar unvermeidliche Begleiterscheinung des Wirtschaftswunders angesehen worden. Eine problematische Konstellation entstand erst im Herbst 1965, als mit der beginnenden Rezession die Anwesenheit ausländischer Arbeiter und die – wenn auch minimale – Zunahme der Arbeitslosigkeit unter deutschen Arbeitnehmern zusammenfielen. Der unbedingte Vorrang deutscher vor ausländischen Arbeitern war die sich daraus ableitende Forderung, die nun in polemischen Angriffen gegen die angebliche Bevorzugung von Ausländern ihren Ausdruck fand.

In der Wirtschaftskrise 1966/67 schien sich das Prinzip des vorübergehenden Arbeitsaufenthalts der „Gast“-Arbeiter zu bestätigen, denn fast 300.000 ausländische Arbeiter kehrten in dieser Zeit in ihre Heimat zurück. Als die Konjunktur im Jahre 1968 dann aber wieder anzog, und zwar unerwartet stark, behalf man sich erneut mit der Anwerbung ausländischer Arbeiter, und zwar in großem Stil. Mithilfe zusätzlicher Gastarbeiter sei es möglich, die wachsenden Lücken in den Belegschaften zu schließen und zugleich den lohntreibenden Effekt der Arbeitskräfteknappheit zu verhindern, hieß es von Seiten der Industrie, die dringend Arbeitskräfte benötigte. Dies sei auch im öffentlichen Interesse, assistierte die ZEIT, denn „ein Gastarbeiter dürfte das Sozialprodukt der Bundesrepublik Deutschland um etwa zwanzigtausend Mark jährlich vermehren. Der ihm ausgezahlte Lohn liegt wohl durchschnittlich in der Größenordnung von 10.000 Mark, während aus seinem Arbeitsprodukt ein Betrag von 10.000 Mark in Gestalt von Steuern, Sozialbeiträgen und Bruttogewinn des Arbeitgebers anfällt. Die Vermehrung der Zahl der Gastarbeiter zunächst von einer Million auf 1,5 oder auch 2 Millionen würde nicht zuviel sein.“

Damit war die Perspektive für die nächsten Jahre gewiesen. Zwischen 1968 und 1973 wurden mehr als 1,5 Millionen ausländische Arbeitskräfte in die Bundesrepublik geholt, sodass der Ausländeranteil unter den Beschäftigten von 4,7 auf 11,9 Prozent stieg. Die weit überwiegende Zahl der Angeworbenen stammte nun aus der Türkei, sie stieg von 85.000 (1964) auf mehr als 600.000 (1973) an; seit Ende Januar 1972 waren die Türken die größte unter den nationalen Gruppen der Gastarbeiter. Auch sie wurden überwiegend als ungelernte Arbeiter eingesetzt, vor allem in der Schwerindustrie, im Automobilbau sowie im Baugewerbe, und ermöglichten so weiterhin den Aufstieg deutscher Arbeiter in besser bezahlte Positionen.  

Mit dem Ende der Hochkonjunktur und der 1973 einsetzenden tief greifenden Krise begann die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik in erheblichem und bis dahin nicht bekanntem Maße zu steigen. Daraufhin beschloss die Bundesregierung im November 1973 in Reaktion auf die Ölpreiskrise, ein Anwerbeverbot für ausländische Arbeitskräfte zu erlassen. Dadurch, so das Kalkül, würde sich die Zahl der Ausländer in Westdeutschland jährlich um etwa eine Viertelmillion vermindern, sodass die Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik in etwa zehn Jahren mindestens auf die Hälfte reduziert würde. Tatsächlich sank die Zahl der beschäftigten ausländischen Arbeitnehmer von 1973 bis 1978 auch um etwa 900.000 auf 1,8 Millionen. Allerdings kehrten in dieser Zeit nur etwa 500.000 „Gastarbeiter“ in ihre Heimat zurück – insbesondere in jene Länder, die einen wirtschaftlichen Aufschwung zu verzeichnen hatten wie Italien, Spanien oder Griechenland. Viele „Gastarbeiter“ jedoch waren arbeitslos geworden und blieben dennoch in der Bundesrepublik. Bis 1975 hatte die Zahl der arbeitslosen Ausländer immer deutlich unter derjenigen der Deutschen gelegen, nun stieg sie überproportional an. Bereits 1981 waren 5,5 Prozent der Deutschen, aber 8,2 Prozent der Ausländer arbeitslos. Zudem holten viele ausländische Arbeiter, vor allem aus der krisengeplagten Türkei, ihre Familien aus der Heimat zu sich nach Deutschland, sodass die Zahl der in der Bundesrepublik lebenden Ausländer 1980 sogar um eine Million höher lag als 1972. Dabei wuchs vor allem der Anteil der Frauen. 1961 hatten tausend ausländischen Männern 451 Frauen gegenübergestanden, zwanzig Jahre später war das Verhältnis in der jüngeren Altersgruppe nahezu ausgeglichen. Auch stieg die Zahl der Kinder ausländischer Eltern stark an: 1974 lag der Anteil der Neugeborenen mit ausländischen Eltern schon bei 17 Prozent, während die Ausländerquote bei 6,7 Prozent lag.

Das Kalkül des Anwerbestopps war also nicht aufgegangen. Vielmehr deuteten alle Anzeichen darauf hin, dass immer mehr Ausländer auf längere Zeit, wenn nicht auf Dauer, in der Bundesrepublik bleiben wollten. Sie gründeten Familien, bekamen Kinder und zogen aus den Wohnheimen in Mietwohnungen. Zugleich sank ihre Sparquote, der Konsumanteil stieg und die Verbindungen zur Heimat wurden lockerer – aus den „Gastarbeitern“ waren Einwanderer geworden. Allerdings war ihnen selbst das durchaus nicht immer bewusst; gerade für die „Gastarbeiter“ der ersten Generation blieb ihr Aufenthalt in Deutschland noch lange, und vielfach bis an ihr Lebensende, ein vorübergehender. Auch die bundesdeutsche Politik beharrte auf dem Prinzip, Deutschland sei „kein Einwanderungsland“. Zwar wurden seit Ende der siebziger Jahre erste Debatten über die „Integration“ der „Gastarbeiter“ geführt, jedoch setzte sich die ausländerpolitische Konzeption einer „Integration auf Zeit“ durch, nach der ein Daueraufenthalt nur in Ausnahmefällen vorgesehen war.

Erst in den späten neunziger Jahren wurde diese ausländerpolitische Grundlinie aufgegeben und die Integration der ausländischen Bevölkerung zur neuen Leitlinie gemacht.