Am 6. April 2014 jährt sich zum zwanzigsten Mal der Beginn des Völkermords in Ruanda. 800.000 Menschen, die allermeisten von ihnen Tutsi, waren in den Monaten April bis Juli 1994 umgebracht worden. Täter waren Angehörige der Bevölkerungsgruppe der Hutu, zu der mit großem Abstand die meisten Bewohner Ruandas zählten.
Zwanzig Jahre – eine lange und zugleich auch sehr kurze Zeit. Wer heute in der ruandischen Hauptstadt Kigali ankommt, kommt in eine Stadt, die auf den ersten Blick nichts mehr gemein hat mit der fast menschenleeren Ansammlung von zerschossenen oder verwüsteten Häusern, auf die die größtenteils aus Tutsi bestehende siegreiche Rebellenarmee am 4. Juli 1994 gestoßen war. Hochhäuser, Einkaufszentren, dichter Autoverkehr und ein quirliges Straßenleben künden augenscheinlich von einem Leben, das Frieden und Zuversicht atmet. Wer ist Hutu, wer Tutsi, während des Völkermords eine buchstäblich lebensentscheidende Frage, scheint ohne Bedeutung zu sein, ganz so wie es die Regierung mit der Devise „Wir sind alle Ruander“ fordert. Auf dem Land ein ganz ähnlicher Eindruck. Ob im Norden, vor dem Völkermord der Hauptschauplatz eines Bürgerkriegs, der viele Menschen das Leben kostete, oder ob im Süden, letzte Zufluchtsregion vor der millionenfachen Massenflucht von Hutu ins benachbarte Ausland, überall herrscht eine scheinbar unspektakuläre Normalität, bisweilen sogar eine Art Stolz über die Fortschritte, die das Land in den letzten zwanzig Jahren beispielsweise in der Infrastruktur, im Gesundheitswesen oder in der Bildung gemacht hat. Man lebt und ist der Zukunft zugewandt, das ist die Stimmung, die allem Anschein nach vorherrscht. Vom Völkermord ist nicht die Rede.
Dabei ist die Erinnerung daran unübersehbar. In Kigali weisen etliche Hinweisschilder auf die zentrale Genozidgedenkstätte Gisozi hin, wo Gebeine von 250.000 Opfern in großen Kammern bestattet sind und Texte sowie Bilderreihen Entstehung und Verlauf des Völkermords erklären. Tafeln an öffentlichen Gebäuden und größeren Hotels listen die Namen derer auf, die dort beschäftigt waren und zumeist schon im April 1994 umgebracht wurden. Und auf dem Land gibt es kein größeres Dorf, in dem nicht in einem Gebäude – oft unter Zurschaustellung von Gebeinen und Tötungsinstrumenten – oder auf einem Stein der lokalen Völkermordtoten gedacht wird.
Wie ist der Widerspruch zwischen dem täglichen Leben und der sich überall im Land
manifestierenden Erinnerungsaufforderungen zu erklären? Ist es so, wie von offizieller Seite behauptet wird, dass die Ruanderinnen und Ruander die Lehren aus der Vergangenheit gezogen haben, und auf dem besten Wege der Versöhnung sind? Dann wäre das Nebeneinander von Leben und Erinnerung Zeichen einer gelungenen Aufarbeitung, eines wiedergewonnenen gesellschaftlichen Normalzustands, der nicht dauernd, und schon gar nicht gegenüber Fremden, thematisiert werden muss.
Und in der Tat kann Ruanda auf ein einzigartiges justizielles Instrument verweisen, das von seinem Konzept her „die Wunden der Vergangenheit zu heilen vermag“, wie ab 2002 große Tafeln, die auf öffentlichen Plätzen oder am Straßenrand standen, verkündeten. Gacaca (gesprochen „Ga-tscha-tscha) ist der Name dieses Instruments und er steht für eine Form der Justiz, die ohne öffentliche Anklage und ohne professionelle Verteidigung, nur in Anwesenheit der betroffenen Parteien und der lokalen Bevölkerung, Recht spricht. Richterinnen und Richter sind Frauen und Männer, die aufgrund ihrer sozialen Stellung und Lebenserfahrung die Autorität besitzen, ein Urteil fällen zu können, das von möglichst allen Seiten akzeptiert wird. Oberstes Ziel ist die Wiederherstellung des sozialen Friedens, dann erst geht es um die Bestrafung des Täters. Einsicht in das begangene Unrecht, Bitte um Verzeihung, Gewährung von Verzeihung und ein in diesem Licht ergehendes Urteil, das sind die wesentlichen Verfahrensstufen der Gacaca-Justiz.
In den auf den Tag genau zehn Jahren, in denen Völkermordverbrechen vor Gacaca-Gerichten verhandelt wurden (18. Juni 2002 – 18. Juni 2012), mussten sich zirka eine Million Menschen, 90 Prozent davon männlichen Geschlechts, einer Anklage stellen. Die meisten Verurteilungen erfolgten wegen Plünderung und Sachbeschädigung, Delikte, für deren Begehung die Verpflichtung zur Leistung von Schadensersatz die einzig zulässige Strafe war. Bei Mord, Totschlag oder gefährlicher Körperverletzung (30 Prozent der Fälle) gab es hingegen einen Strafrahmen, der bis zur Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe reichte. Hier vor allem sollte das wahrheitsfördernde und friedensstiftendes Potential von Gacaca wirken. Je früher ein Täter gestand, desto geringer seine Strafe. Selbst ein mehrfacher Mörder konnte so, wenn ihm die Vollständigkeit des Geständnisses sowie die aufrichtige Bitte um Verzeihung von den Opfern beziehungsweise Überlebenden bescheinigt worden war, zu einer Freiheitsstrafe von lediglich acht Jahren verurteilt werden, ein geringer Teil davon noch zur Bewährung ausgesetzt und zudem versehen mit der Möglichkeit, gemeinnützige Arbeit zu verrichten.
Wenn man also nach einer Erklärung für den Eindruck des verbreiteten inneren Friedens in Ruanda sucht, wird man sie in der Art der Vergangenheitsaufarbeitung finden können. Über 13.000 Gerichte urteilten die Verbrechen dort ab, wo sie begangen worden waren, in Anwesenheit der Bevölkerung, aus der die Opfer, Täter und Mitläufer stammten. Idealere Geschichtsstunden sind kaum denkbar.
Doch eben darum, eben weil die ruandische Erfolgsgeschichte vor dem Hintergrund ihres Anlasses so perfekt anmutet, tauchen Zweifel auf. Es sind Zweifel, die sich gerade an der Gacaca-Justiz festmachen, sich von dort aber auf andere Bereiche erstrecken. Zu hören sind sie an vielen Orten Ruandas, in den Städten, auf dem Land, allerdings üblicherweise erst dann, wenn sich eine gewisse Vertraulichkeit eingestellt hat. Denn die Zweifel öffentlich zu äußern, ist sehr gefährlich, da sie sich auf das moralische Fundament der neuen Regierung und ihrer weltweiten Reputation beziehen. Im Kern geht es um Folgendes: Der Gacaca-Justiz wird vorgeworfen, eine einseitige Justiz gewesen zu sein. Das einnehmende, hehre Konzept dieser Justiz sei missbraucht worden, um ein Narrativ entstehen zu lassen und zu festigen, das mit der Kollektivschuld der Hutu operiere. Unter Ausnutzung der Wucht des Völkermordvorwurfs werde verschwiegen, dass die damalige Rebellenbewegung, deren wichtigste Mitglieder heute an der Spitze von Militär und Politik stünden, selbst etliche Verbrechen begangen und dadurch ganz erheblich zur prägenozidalen Radikalisierung beigetragen habe. Aus diesem Tabu folgten andere, wie das absolute Verbot der Kritik an der Besetzung einflussreicher Posten mit Tutsi und an der Regierungspolitik überhaupt oder an der aggressiven Politik im benachbarten Ostkongo. Kurzum, der Völkermord werde politisch, justiziell und militärisch instrumentalisiert, um die Herrschaft einer Minderheit zu sichern. Auch der wirtschaftliche Fortschritt komme längst nicht allen Ruandern, sondern nur einer kleinen Gruppe zugute, die auffälligerweise in großer Nähe zur herrschenden Partei des Staatspräsidenten Paul Kagame, der Rwandan Patriotic Front, stünde.
Übertrieben? Gut möglich, wie gewöhnlich eine Kritik zur Übertreibung neigt, die sich nicht einmal in Ansätzen artikulieren darf und jederzeit Gefahr läuft, mit der ganzen Härte diverser Gesetze zur Absicherung des offiziellen und mit der Staatspolitik identischen Narrativs bestraft zu werden. Dessen ungeachtet jedoch bleibt das Bild einer immer noch zerrissenen Gesellschaft, die unter der eisernen Faust des Staatspräsidenten in einem Modellstaat leben und in die Zukunft katapultiert werden soll. Und die wichtigste Frage dabei lautet: Wie viel Unrecht verträgt der Fortschritt?