von Dietmar Kammerer

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1. Dezember 2010

Die Diskussion um Videoüberwachung ist einseitig auf ihre antizipierte Zukunft ausgerichtet, die Anfänge der visuellen Kontrolle öffentlichen Raums bleiben weitgehend unberücksichtigt. Eine fundierte Einschätzung der künftigen Entwicklung der Technik ist jedoch kaum möglich, solange ihre Vergangenheit unaufgearbeitet bleibt. Der Beitrag rekonstruiert die frühen Jahre des polizeilichen Einsatzes von Videokameras in der Bundesrepublik, mit dem Augenmerk auf Straßenverkehr und Versammlungen. Dabei kann aufgezeigt werden, dass bereits in dieser Erkundungsphase verkehrspolizeiliche um allgemein schutzpolizeiliche und kriminalpolizeiliche Zwecke ergänzt wurden. Abschließend wird – für den Bereich der Verkehrsüberwachung – ein Dilemma im Einsatz polizeilichen Bilder als Beweismaterial skizziert: Je mehr sich die Polizei auf den Bildbeweis verlässt, umso mehr muss sie mit der steigenden medialen Kompetenz der Beschuldigten rechnen, die in der Folge nach technischen Innovationen – von Standbild zum Bewegtbild – verlangt.

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The discussion on video surveillance is largely oriented towards the anticipation of its possible futures, whereas the beginnings of the visual control of public space are a largely unexplored field. Yet any understanding of the future development of CCTV must remain fragmentary, as long as its past is unaccounted for. This paper aims to reconstruct the early years of public space CCTV in the Federal Republic of Germany, with the focus of CCTV as a tool for traffic and/or crowd control. It is argued, however, that even in this early phase of technology adoption, functions of mere traffic control were complemented with repressive functions of criminal prosecution. The conclusion takes a look at a typical dilemma in the career of the police image as evidence: The more police work relies on image technology, the more it must take into acount the growing media competence of the incriminated subjetcs, who start to question the reliability of the technology used.

 

Einleitung

Die Diskussion um Videoüberwachung ist einseitig auf ihre – mit Hoffnung oder Skepsis beschriebene – Zukunft ausgerichtet, die Anfänge der visuellen Kontrolle öffentlichen Raums bleiben weitgehend unberücksichtigt. Ein Verständnis der künftigen Entwicklung der Technik bleibt ohne Kenntnis ihrer Vergangenheit jedoch unvollständig. So wurde bis auf wenige Ausnahmen (Weichert 1988; Heinrich 2007: 157-160) bislang kaum systematisch erfasst, wie die bundesdeutsche Polizei sich Videotechnik in den Nachkriegsjahren ab1950 angeeignet hat.[1]

Der folgende Beitrag stellt die Anfänge polizeibetriebener Kameras im öffentlichen Raum der Bundesrepublik dar. Die Geschichte wurde rekonstruiert anhand einer Recherche in Fachzeitschriften und Medien. Die ersten Kameras wurden zur Verkehrsüberwachung aufgestellt (1). In mobilen Übertragungswagen kamen die Kameras jedoch bald auch zur Beobachtung von Versammlungen oder Demonstrationen zum Einsatz (2). Mit dieser Erweiterung der Einsatzbereiche ging eine Erweiterung des Funktionsumfangs einher: Mit zunehmender Selbstverständlichkeit sollten Kameras nicht nur lenkend den Verkehr unterstützen, sondern genauso auch ordnungs- und kriminalpolizeiliche Zwecke übernehmen (3). Abschließend geht es um den Einsatz des Bildbeweises in der Dokumentation und Beweissicherung von Verkehrsverstößen. Mit Hilfe von Kameraaufnahmen konnten Fahrzeughalter von ihrer Schuld überzeugt und Verstöße an Ort und Stelle geahndet werden. Wie anhand von Polizeiaussagen nachgewiesen wird, legen Autofahrer, die mit fotografischen Aufnahmen ihrer Verkehrsverstöße konfroniert werden, weniger oft Einspruch gegen sie verhängte Bußgelder ein. Die Widerstandsbereitschaft der beschuldigten Autofahrer stieg jedoch wieder an, als diese lernten, die Zuverlässigkeit der visuellen Beweise kompetent anzuzweifeln. Dadurch sah die Polizei sich gezwungen, auf neue und bessere Bildtechnologien aufzurüsten (4).

 

1. Die Anfänge polizeilicher Videoüberwachung im Straßenverkehr

Polizeiliche Fernsehbeobachtung öffentlichen Raumes beginnt in Deutschland als Maßnahme der Verkehrslenkung. Nach 1950 wächst der innerstädtische Verkehr so dramatisch an, dass Handlungsbedarf angemeldet wird. Ampelanlagen werden aufgestellt, haben aber den entscheidenden Nachteil, nur nach starren Programmen geschaltet werden zu können. Trotz aufwändiger statistischer Erhebungen und elektronischer Verkehrsrechneranlagen erweist sich die (noch) ungewohnte Massenmobilität als nicht-berechenbare Größe. Wann, wo und in welcher Richtung sich ein Verkehrsaufkommen entwickelt (und wann und wo folglich eine Ampelanlage eine Passage eher durchlässig oder eher geschlossen halten soll), kann nicht vorhergesagt werden (Rose 1959: 110-112; Die Polizei 1965). Von den „Fernaugen“ (Heinze 1964a) an den Kreuzungen erhoffen sich Planer eine bessere Übersicht über das aktuelle Verkehrsgeschehen. Mit Hilfe der Bilder soll ein Operateur in der Leitzentrale entscheiden können, ob der automatische Programmablauf dem tatsächlichen Verkehrsgeschehen angemessen ist oder ob eine Ampelanlage besser nach menschlichem Ermessen manuell angesteuert wird. Hamburg wird 1956 die erste Stadt, die ein solches Kamerasystem zur Verkehrslenkung im Probebetrieb testet. Am 1. Juni des Jahres wird das System für ausgewählte Pressevertreter, Fernsehtechniker und Verkehrsexperten im Tanzraum eines Bierlokals vorgeführt. Polizei-Oberrat Heinrich Eberling lässt durch Knopfdruck eine Ampel von Rot auf Grün wechseln. Der Fernsehempfänger trägt die passende Bezeichnung „Zauberspiegel“ (Der Spiegel 1956; vgl. Kraut 1956). In München werden am 17. Juli 1958 mit der Eröffnung einer neuen Verkehrsleitzentrale Kameras erstmals zu einer dauerhaften Einrichtung im öffentlichen Raum (Keysselitz 1958; Martin 1959). Sieben Jahre später ist das Münchner System bereits auf neunzehn „Verkehrsfernsehanlagen“ (Luther 1965: 50) angewachsen, die einen beträchtlichen Teil des Innenstadtverkehrs unter Beobachtung stellen. Alle Kameras können separat angesteuert, geneigt und geschwenkt werden. In Hannover setzt die Polizei seit 1959 „Industrie-Fernsehanlagen“ (Birken 1962) ein, um während der Dauer der jährlichen Messe den gestiegenen Verkehr in der Innenstadt leichter einschätzen und regeln zu können. Diese Anlagen werden nur temporär eingerichtet und sind mit der Einsatzzentrale über Funkstrecken verbunden. In den folgenden Jahren schaffen sich immer mehr Großstädte Kamerasysteme zur Verkehrslenkung an, unter anderem Nürnberg, Hamburg und Kassel (Heinze 1964b; mid 1965; Borrock 1967).

Um 1960 setzt ein Wandel in der Diskussion und Anwendung der Kameras ein. Hatte man die Kameras bislang vor allem als ein Instrument zur Beobachtung und gegebenenfalls Lenkung des Straßenverkehrs eingesetzt, so werden sie nun vermehrt auch als Technik angesehen, mit deren Hilfe Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung effizient verfolgt werden können. Am 15. November 1960 wird in Frankfurt am Main die erste „fotografische Rotlichtüberwachung“ (Keller 1968: 181) dauerhaft in Betrieb genommen. Mit ihr wird die Ermittlung gewissermaßen automatisiert, denn fortan gilt: „Verkehrssünder fotografieren sich selbst“ (ebd.). Neben solchen verkehrspolizeilichen Funktionen wird die Beobachtung von Versammlungen und Großveranstaltungen die zweite zentrale Aufgabe, die in dieser Zeit zunehmend mit Hilfe von Kameras durchgeführt wird. Zu diesem Zweck werden Einsatzwagen mit Systemen zur Bildaufzeichnung und -übertragung an die Einsatzzentrale ausgerüstet. Zur Hannover Messe werden 1961 zusätzlich zu den mittlerweile neun festen Standorten erstmals ein Hubschrauber und ein Kleinwagen mit Aufnahme- und Übertragungstechnik ausgerüstet (Birken 1962: 163f.). Die Fahrzeugstation, ein umgebauter Volkswagen mit Kamera, Sendeantenne und Monitor, kommt jedoch nicht zur Beobachung des Straßenverkehrs, sondern auf der zentralen Kundgebung zum 1. Mai zum Einsatz.

 

2. Die Ausweitung des Kameraeinsatzes auf Versammlungen

Diese Erweiterung des Einsatzgebietes – von Verkehrs- auf Versammlungsteilnehmer – wird spätestens in der zweiten Hälfte der sechziger Jahren zu einem immer wichtigeren Trend. Die Münchner Polizei rüstet 1964 einen Lastkraftwagen zur „fahrbaren Fernsehanlage“ (Kistler 1965: 166) um, die ebenfalls mehr leisten soll als lediglich Verkehrskontrolle: „Auch auf ordnungs- und sicherheitspolizeilichem Sektor besteht ein Bedürfnis, größere Menschenmengen, Aufmärsche, Versammlungen unter freiem Himmel, etvl. Streiks, Krawalle o. ä. im Bild zur Einsatzzentrale zu übertragen.“ (ebd.: 167; vgl. Heinze 1965). Das System ist mit einem Übertragungs- und Aufzeichnungsgerät sowie mit Teleobjektiven ausgestattet und dient mehreren Zwecken: Die Liveübertragung zur Einsatzzentrale ermöglicht die effiziente Lenkung der Polizeikräfte vor Ort; die Bildaufzeichnung dient der Beweissicherung und die Teleobjektive der gezielten Identifizierung einzelner „Störer“, wie sie der zuständige Polizeioberinspektor Josef Kistler nennt (Kistler 1965: 167). Die Technik soll auch eine psychologische Wirkung entfalten: Von der Präsenz des Wagens, der seinen Kameraturm auf bis zu zehn Meter Höhe ausfahren kann, erhofft sich Kistler eine „dämpfende Wirkung“, ein präventives Signal für „Randalierer und besonders Aktive“, die nicht länger unentdeckt bleiben (ebd.: 168). Aus ähnlichen Gründen schwärmt der Kommandeur der Berliner Schutzpolizei Hans-Ulrich Werner 1970 von den Möglichkeiten seines neuen Spezialfahrzeugs beim taktischen Einsatz auf Demonstrationen: „An keinem Einsatzort dieses Fernsehübertragungswagens ist es bisher zu militanten Aktionen gekommen. Dieser Umstand kann damit erklärt werden, dass der Störer befürchtet, von der Fernsehkamera aus der Anonymität gerissen zu werden“ (Werner 1970: 56). Ein 1969 von der Firma Grundig für die Nürnberger Polizei entwickelter Fernsehaufnahmewagen ist ausdrücklich nicht nur zur Verkehrs- und Versammlungskontrolle einsetzbar, sondern soll ebenso „für kriminalpolizeiliche Überwachungs- und Observationasaufgaben eingesetzt werden. […] Tele- und Nachtbildobjektive ermöglichen z. B. die Beobachtung nächtlicher Parkplätze, gefährdeter Geschäfte, von Dirnenstraßen usw.“ (os 1969: 131). Das System kann nicht nur Bilder, sondern über ein Mikrofon auch Töne registrieren und speichern. Über ein dreihundert Meter langes Kabel kann eine zweite, versteckt angebrachte Kamera mit dem Wagen verbunden werden, der dadurch außer Sichtweite des beobachteten Ortes geparkt werden kann. Im Nürnberger Fernsehaufnahmewagen gehen verkehrspolizeiliche Zwecke nahtlos in ordnungs- und kriminalpolizeiliche über.

 

3. Von der Lenkung zur Repression

Kistler empfiehlt den Einsatz der neuen mobilen Fernsehwagen bei „Krawallen, Streiks, Katastrophenfällen, Aufmärschen usw.“ (Kistler 1965: 168), mithin bei Ereignissen, die „allein auf Grund der Masse und der Ballung Gefahrenmomente beinhalten“ (ebd.). Wenn der Polizeioberinspektor in einem Atemzug kontingente Katastrophenfälle, grundgesetzlich verbriefte Versammlungen und straftatrelevante Krawalle nennt, legt das – zumindest in diesem konkreten Fall – den Verdacht nahe, dass die wichtigste Auswirkung der Kameratechnik nicht in einem verbesserten Überblick oder in feineren Details besteht, sondern dass der Blick auf den Bildschirm vor allem entdifferenzierend wirkt. Anscheinend werden alle Bewegungen von Massen (ganz gleich, ob gesetzlich verbrieft oder illegal), wenn man sie auf einem Monitor betrachtet, zu riskanten Bewegungen, die es zu kontrollieren gilt. Das Kistler-Zitat legt die Vermutung nahe, dass die technisch vermittelte Vereinfachung einer Polizeiaufgabe (Beobachtung von Verkehr und Versammlungen) mit einer simplifizierenden und nivellierenden Einschätzung der Sachlage seitens der Polizei korrespondiert.

In der Ausweitung der Kameraaufgaben vom Verkehrs- auf den Versammlungsbereich hat sich unterdessen die Zielrichtung der Beobachtung verändert. Während der gewachsene Autoverkehr in den Städten eine Beobachtung erforderlich macht, die letzten Endes darauf abzielt, eine Bewegung (den Strom der Fahrzeuge) durch gelegentliche, sparsame und lokale Eingriffe (je weniger Eingriffe, desto besser) zu ermöglichen und im Großen und Ganzen aufrechtzuerhalten, zielt die Beobachtung von Versammlungen darauf, Bewegungen (der eigenen Einsatzkräfte oder der Demonstranten) permanent im Griff zu haben, sie zu steuern und die Demonstration gegebenenfalls auch zum Stillstand bringen zu können. In beiden Fällen ermöglichen die Kameras zudem, individuelle Gesetzesverstöße (gegen die StVO oder gegen Sicherheit und Ordnung auf Demonstrationen) zu verfolgen, indem die jeweils verantwortlichen Individuen von den Kameras lokalisiert und (visuell) identifiziert werden können. Das heißt, die mobilen Fernsehaufnahmewagen ermöglichen in den sechziger Jahren beides: die Beobachtung oder Steuerung einer großen Menge und die individuelle Verfolgung und Bestrafung von Devianz. Damit vereint Videotechnik den Zweck der unterstützenden Lenkung mit dem Zweck der individuellen Sanktionierung durch verstärkte Kontrolle.

Ab 1970 wird der ordnungspolizeilich-repressive Einsatz der Kameratechnik, dessen Legitimität in den fünfziger und sechziger Jahren noch aufwändig begründet werden musste, mehr und mehr zu einer Selbstverständlichkeit, wegen der keine weiteren Worte verloren werden. Legte der Diskurs in den Anfangsjahren noch den Akzent auf die Kameras als Instrument des Verkehrsmanagements, schieben sich in den siebziger Jahren die kriminalpräventiven und repressiven Zwecke gänzlich in den Vordergrund. Die Polizei von Hannover, die langjährige Erfahrungen mit Industrie-Fernsehen zu Messezeiten vorweisen kann, richtet im Dezember 1976 die für ihre Zeit modernste und umfangreichste Überwachungsanlage Deutschlands ein, welche die Innenstadt mit mehr als zwanzig Kameras in den Blick nehmen kann. Zur Eröffnung verspricht Polizeioberrat Walter Lüddecke, mit Hilfe von „Polizei-TV“ ordnungs- und strafrechtliche Ereignisse wie „Zechanschlußtaten“, Prostitution („die Damen vom horizontalen Gewerbe“), Bankraub, „die Spielwiese des Demonstrationsgeschehens“ sowie Straßenkriminalität „fernsehmäßig ein bißchen in den Griff [zu] kriegen“ (Walter Lüddecke, zitiert nach: Der Spiegel 1977). In diesem Zitat wird die Kamera im öffentlichen Raum als Allzweckwaffe angepriesen. Scheinbar ist 1976 der städtische Raum durch den privat-kommerziellen Gebrauch von Videoüberwachung bereits so sehr von Kameras durchdrungen, dass die Polizei für eine anlassunabhängige Dauerbeobachtung plädieren kann, ohne sich länger auf Demonstrationen oder andere unregelmäßige und zeitliche begrenzte Ereignisse berufen zu müssen. Verkehrslenkung als möglicher Einsatzbereich wird von Lüddecke nicht einmal mehr erwähnt.

 

4. Die stets zu erneuernde Überzeugungskraft der Bilder

Zwei wesentliche Zwecke polizeilicher Kameras im öffentlichen Raum wurden bislang beschrieben: die Lenkung von Verkehrs- und Menschenströmen sowie die Verfolgung strafbarer Handlungen. Damit ist der Funktionsumfang von polizeilicher Video- und Fotografie jedoch noch nicht erschöpft.[2] Zu den verkehrs- und ordungspolizeilichen, den kriminalpräventiven, den forensischen und den strafverfolgenden Zwecken tritt ein weiterer hinzu: die Einschüchterung der Beschuldigten durch die Konfrontation mit dem Bildbeweis. Foto- und Videografie ist ein mächtiges Instrument der Überzeugung, die Offensichtlichkeit des Bildes lässt weder Widerspruch noch Ausflüchte zu. Die folgenden Aussagen, die Polizeizeitschriften zwischen 1956 und 1987 entnommen wurden, bieten einen aufschlußreichen Einblick in diesen Zusammenhang.[3]

 

1956: „Den Vorgang miterleben“

Um Verstöße im Straßenverkehr mobil aufzeichnen zu können, wird 1956 – trotz Widerstands der Verkehrsverbände und Teilen der Polizei – ein Polizeifahrzeug mit eingebauter Fotoeinrichtung (Traffipax) in Dienst genommen. Zwei Jahre später berichtet der verantwortliche Polizeikommissar Klaus Müller-Berg euphorisch von den Erfolgen im Einsatz des ersten, so genannten „Polizei-Kamerawagens“:

„Wie viel mehr als ein nüchterner Anzeigentext sagt doch eine im Bild festgehaltene Verkehrsübertretung. Nicht nur, daß dem Richter der Tatbestand viel klarer vor Augen geführt wird, auch das psychologische Moment spielt eine Rolle. So habe ich festgestellt, daß Anzeigen von Kamerawagenbesatzungen allgemein schärfere Bestrafungen zur Folge hatten als die üblichen unbebilderten Textanzeigen. Die Urteilsfindung wird dem Verkehrsrichter erleichtert, weil er als Autofahrer den im Bild festgehaltenen Vorgang miterlebt. Die Praxis zeigt weiter, daß Einsprüche auf gerichtliche Strafverfügungen nur selten eingelegt werden, weil der Beschuldigte genau weiß, daß er seine Tat nicht anders hinstellen kann.“ (Müller-Berg 1958: 54-55)

Drei Vorteile fotografischer Beweisaufnahme gegenüber „unbebilderten Textanzeigen“ benennt das Zitat: Erstens, eine phantasmatische Immersion ins Bild. Müller-Berg spricht von nichts weniger als der Transformation der gesamten Situation, in der der Richter sich vom Unparteiischen zum Teilnehmer eines vergangenen Geschehens wandelt, der den im Bild festgehaltenen Vorgang „miterleben“ darf.[4] Das hat, zweitens, eine Verschärfung des Urteils zur Folge. Anschaulichkeit wirkt strafverschärfend. Dieser Zusammenhang kann auch heute noch nachgewiesen werden. Zumindest für Großbritannien gilt: Gerichtsverfahren, in denen die Anklage Aufnahmen aus Videokameras zum Augenschein vorlegt, enden in der Tendenz mit einer schärferen Bestrafung (Chenery/Henshaw/Pease 2001). Die überzeugende Kraft der Visualisierung soll schließlich auch den Beschuldigten selbst erfassen, der in der Konfrontation mit dem Bild seiner Tat einsichtig allen Widerstand fallen lässt und mit vorauseilendem Schuldeingeständnis reagiert.

Diese Momentaufnahme lehrt viel über den strategischen Einsatz von Bildern und Filmaufnahmen in der Polizeiarbeit. Die Folgerung, dass das polizeilich-hoheitlich angefertigte Bild sozusagen immer das letzte Wort behalte, wäre jedoch vorschnell gezogen. Tatsächlich ist, wie die folgenden Beispiele zeigen, eher von einer alternierenden Dynamik zwischen Bildevidenz und -skepsis, zwischen dem Glauben an die Bilder und dem Verlust dieses Glaubens, auszugehen.

 

1973: Von „überzeugender Beweiskraft“ zu „leblosen Aufnahmen“

Um 1950 werden Verkehrsverstöße an Kreuzungen noch manuell registriert. Polizeibeamte postieren sich in der Nähe der Ampeln, um die Daten von Autofahrern, die eine Rotphase missachten, in Notizbücher einzutragen. Die Methode wird von Polizeikommissar Walter Keller knapp zwanzig Jahre später jedoch als „unzulänglich und unproduktiv“ (Keller 1968: 181) eingeschätzt, da den beobachtenden Beamten vor Gericht immer wieder Irrtümer in der Niederschrift nachgewiesen werden konnten, was zu zahlreichen Freisprüchen führte. Zudem erwies sich der Personalaufwand – bei mageren Ergebnissen – als kostspielig. Um die Effektivität der „Rotlichtüberwachung“ (ebd.) zu steigern, werden 1954 Polizeibeamte in Frankfurt am Main mit Handkameras ausgestattet, um die schriftlichen Aufzeichnungen fotografisch flankieren zu können. „Der Erfolg“, so berichtet Keller im Rückblick, „war beeindruckend. Fehlerquellen in bezug auf Fahrzeug und Kennzeichen waren ausgeschlossen. In den meisten Fällen gaben die Beschuldigten die Übertretung bereits vor der Polizei zu. Kam es im Einzelfall zur Gerichtsverhandlung, so war die Beweisführung überzeugend und führte in der Regel auch zur Verurteilung der Betroffenen“ (ebd.). Und wieder gilt: Dank der „überzeugenden Beweiskraft der Aufnahmen“ (ebd.: 182) wird ein Gerichtsverfahren, also eine mit dem Wort geführte Auseinandersetzung über den Hergang eines Geschehens, von vorneherein als überflüssig erachtet, weil die Evidenz des Vorgangs scheinbar vor aller Augen liegt. Die Fotografie wird (in diesem Fall) nicht wie eine Aussage gewertet, die fehleranfällig (wie die schriftlichen Notizen) oder unvollständig sein kann, sondern als objektive Wiedergabe eines Sachverhaltes, der sich so und nicht anders zugetragen hat. Vor Gericht konnten die Polizisten dann in zahlreichen Fällen eine zirkuläre Strategie der Beweisführung verfolgen: Ihre Aussagen wurde (scheinbar) durch die Bildaufnahmen gestützt, die Bildaufnahmen wiederum stützen ihre Aussagen. Diese Asymmetrie in der Deutungshoheit sollte jedoch bald in die Krise geraten.

Denn schon Anfang der siebziger Jahre stellt sich die Situation völlig verändert dar. Viele der beschuldigten Verkehrsteilnehmer weigerten sich erneut, ein Fehlverhalten an Ort und Stelle einzugestehen. Was war geschehen? Die Beweise waren nicht länger unumstritten. Autofahrer zogen vor Gericht, um nachzuweisen, dass der fotografische Beleg keineswegs von sich aus einen Sachverhalt darstellt (Huggenberger 1971). Mit Hilfe von Sachverständigen konnten alternative Interpretationen der Bilder durchgesetzt oder die Unzuverlässigkeit von Aufnahmen nachgewiesen werden.

Der Ausweg lag in medialer Aufrüstung: in der Umstellung vom Standfoto auf das bewegte Bild. Am Frankfurter Kreuz führten 1973 Versuche der hessischen Polizei, das Verkehrsgeschehen mit Hilfe tragbarer Videokameras aufzuzeichnen und den Fahrzeughaltern Verkehrsverstöße an Ort und Stelle vorzuführen, wieder zu den bekannten Resultaten: die angehaltenen Verkehrsteilnehmer zeigten sich leichter einsichtsfähig. Im Nachrichtenmagazin Der Spiegel zog Polizeirat Richard Huber, Leiter der Autobahnpolizei Darmstadt, eine positive Bilanz der Maßnahme: Während die Standfotos als „leblose Aufnahmen“ die Beamten „nicht vor den Ausreden bewahrten“, hätten die bewegten Videobilder eine eindeutig „positive Einwirkung auf die Einsichtsfähigkeit der Autofahrer“ (Der Spiegel 1973: 47). Nach der Vorführung des Beweismaterials auf einem Monitor im Polizeifahrzeug würden Bußgeldbescheide in sämtlichen Fällen „ohne jeden Protest“ entgegengenommen, so Huber weiter: „Wir brauchen gar nicht mehr viel zu reden, die Bilder überzeugen.“ (ebd.) Ein Erfahrungsbericht des Hagener Polizeikommissars Bernd Müller über die „Filmkamera als Einsatzmittel der Polizei“ (Müller 1977), dessen Autor sich als „begeisterter Schmalfilmamateur“ bezeichnet (ebd.: 22), kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Laut Müller unterstützen die bewegten Bildern vor Gericht die Sichtweise der Beamten und entkräften die Ausreden der Beschuldigten: „Die vorgebrachten Behauptungen der Betroffenen konnten durch diese Aufnahmen eindeutig widerlegt werden […]. Die Richter konnten sich anhand der Filmaufnahmen selbst ein objektives Bild von dem angezeigten Geschehen machen“ (ebd.: 23).

Nicht nur Polizei und Gerichte scheinen die vermeintlich Eindeutigkeit der Bilder zu schätzen.1987 druckt eine Fachzeitschrift der Polizei zwei Bilder eines gestoppten Autofahrers, dem ein Videoband seines eigenen Fehlverhaltens vorgespielt wird. Die Szene wird wie folgt kommentiert:

 

„[Der Autofahrer] betrachtet zunächst interessiert und staunend seine eigene Fahrweise

auf dem Monitor im Video-Kamerawagen. Trotz der eindeutigen Beweislage

verläßt er mit strahlendem Gesicht den Wagen. Das ist kein Einzelfall, sondern eigentlich

ein typisches Phänomen, das die große psychologische Bedeutung des Sofortbeweises

unterstreicht.“ (Krage 1987: 368)

 

Statt Aggression Staunen und Interesse, statt Widerspruch „strahlende“ Zustimmung zur eigenen Überführung. Sollte es sich bei dieser Reaktion wirklich um ein „typisches Phänomen“ und nicht um einen Einzelfall handeln, so kann vermutet werden, dass die Videografie Vorteile nicht nur für die beweisführenden Beamten, sondern genauso für die Abgebildeten bedeutet im Sinne einer Entlastung von Uneindeutigkeit. „Die sofort erkennbare, unzweifelhaft wahrheitsgemäße Beweislage erspart es den Betroffenen […], sich in einen nervenaufreibenden Prozeß zu begeben, da von vorneherein jede Aussicht auf Erfolg entfällt.“ (ebd.) Dieselbe Taktik der Überzeugung durch Vor-Augen-Stellen wendet der Artikel auf seine Leser selbst an. Die beiden Abbildungen des der Reaktionen des Autofahrers im Vorher-Nachher-Stil sollen anschaulich machen, was der Text selbst nur behaupten kann: dass das Bild aus dem Verkehrssünder wieder einen einsichtigen Bürger macht.

Diese Beispiele legen die Vermutung nahe, dass der polizeiliche Bildbeweis an Überzeugung einbüßt, wenn die Beschuldigten sich die mediale Kompetenz aneignen, die Beweiskraft technisch reproduzierter Bilder mit skeptischem Sachverstand vor Gericht erfolgreich anzuzweifeln. Die Polizei muss darauf mit neuen medialen Strategien antworten. Der Zuwachs an bildproduzierenden Techniken in der Polizeiarbeit aber kann neue, mitunter pardoxe, Konsequenzen nach sich ziehen. 1977 konnte Polizeikommissar Bernd Müller noch darauf vertrauen, dass Schmalfilmaufnahmen vor Gericht die Integrität seiner Aussagen bestärkten. „Es ist eine unbestrittene Tatsache“, so Müller, „daß die Glaubwürdigkeit eines Polizeibeamten in den letzten Jahren erheblich abgenommen hat“ (Müller 1977: 24). Diesem Vertrauensverlust könne „durch die Vorlage solch objektiver Beweismittel“ (ebd.) erfolgreich entgegengewirkt werden. Die Maßnahme sollte ihre Wirkung über den konkreten Fall hinaus entfalten: Ein Richter, der wiederholt die Feststellung mache, daß die Angaben des Beamten im Bild bestätigt werden, werde „wahrscheinlich eher dazu neigen, dem Beamten Glauben zu schenken, wenn dieser einmal ohne dieses Beweismittel vor Gericht erscheint“ (ebd.).

Wie ein Echo auf diese Worte klingt heute, knapp dreißig Jahre später, die skeptische Einschätzung eines britischen Detective Inspector, der den Umstand beklagt, dass im Zeitalter ubiquitärer Videoüberwachung das Bild das Wort eines Zeugen, auch das eines Polizisten, als Beweismittel zu entwerten droht: „[I]f no CCTV footage is presented at court suspicions are aroused because the court assumes that there is extensive CCTV coverage. This is a severe disadvantage, this expectation that footage exists weakens the case if the footage is not available or obtainable. A police officer’s word is now becoming less and less taken as the truth.” (Levesley/Martin 2005: 16) Mithin droht nach Einschätzung des britischen Polizisten genau das Gegenteil des Effekts einzutreten, der Ende der siebziger Jahre, am Anfang einer weitgreifenden „Verbildlichung“ von Polizeiarbeit, erreicht werden sollte.

Der Blick in die Vergangenheit fotografischer Beweisaufnahmen durch die Polizei hat exemplarisch gezeigt: Techniken, die zu einer bestimmten Zeit als „beweiskräftig“ gelten, können diese vermeintliche „Gewissheit“ wieder einbüßen, wenn die diskursiven Voraussetzungen, die diese Überzeugungskraft gestützt hatten, sich ändern oder ganz wegfallen. In ähnlicher Weise lässt sich auch die vermeintliche „Unfehlbarkeit“ der daktyloskopischen Identifikation relativieren (Cole 2001). Solche Einsichten lassen sich zudem an medien- und kulturwissenschaftliche Forschungen anschließen, die ebenfalls die Frage nach den kulturellen, diskursiven oder rhetorischen Voraussetzungen oder „Listen“ der Evidenz stellen (vgl. Cuntz/Nitsche/Otto e.a. 2006).

 

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[1] Die Frühgeschichte von Videoüberwachung in Großbritannien ist in Williams (2003) detalliert dokumentiert.. Für die gegenwärtigen Anpassungsleistungen des Polizeialltags an die Kameras vgl. Goold (2005).

[2] Siehe Heinrich 2007 und Pfefferli 2004 für weitere Funktionen von Kameras und Videotechnik im Polizeibereich.

[3]     Ausgewertet wurden folgende Fachzeitschriften: Die Polizei: Fachzeitschrift für die öffentliche Sicherheit mit Beiträgen aus der Deutschen Hochschule der Polizei; Die Polizei – Polizei-Praxis: Fachzeitschrift für das Sicherheits- und Ordnungswesen; Polizei, Technik, Verkehr: PTV. Polizei-Fachzeitschrift für Verkehrs-, Kraftfahr-, Fernmelde-, Waffenwesen, Kriminaltechnik und Umweltschutz.

[4]     Wie das Recht mit Bildern umgeht, und wie Bilder ihrerseits das Regime des Rechts beeinflussen, beschreiben die AutorInnen des Sammelbandes in Joly/Vismann/Weitin (2007).

 

Der Text erschien erstmals in:

Kriminologisches Journal, Heft 4 (2008), S. 257-268, hg. vom Juventa Verlag