Vor hundert Jahren kehrte der selbsternannte Berufsrevolutionär Vladimir I. Uljanov, der sich den nom de guerre Lenin gegeben hatte, aus dem Schweizer Exil nach Petrograd zurück. In Zürich hatte der Emigrant ein kümmerliches Dasein am Rande der Schweizer Gesellschaft gefristet. Vor der Februarrevolution ging er zudem davon aus, dass zu seinen Lebzeiten in Russland keine Revolution mehr stattfinden würde. Was ihm blieb, war das Verfassen von Pamphleten, die Debatten mit anderen Exilanten und seine unbeholfenen Versuche, Schweizer Arbeiter zu agitieren. Doch mit dem Sturz der Autokratie änderte sich für Lenin alles. Das gesamte Russische Imperium wurde nun zum Spielfeld für revolutionäre Politik. Und Lenin hatte den Ehrgeiz, allen anderen von nun an seine eigenen Regeln aufzuzwingen.
Nachdem er mit Hilfe des Auswärtigen Amtes des Deutschen Kaiserreiches im berühmten plombierten Zug nach Petrograd zurückgekehrt war, fand sich Lenin zunächst am äußeren Rand des politischen Spektrums wieder. Selbst in der eigenen Partei hatte er sich mit seinen radikalen Aprilthesen isoliert. Lenin profilierte sich mit der Forderung nach „Frieden, Land und Brot“ und seiner Aufforderung an die Linke, mit der provisorischen Regierung zu brechen, als radikaler Populist. Er wollte die Massen der Soldaten, Arbeiter und Bauern mit diesen Versprechen gewinnen und die Mehrheit in den Räten erobern. Dazu war Lenin bereit, auch mit den Traditionen und Gewissheiten der russischen Linken zu brechen. Ihm ging es um die Eroberung der Macht.
Lenins Begriff von Macht (vlast) unterschied sich kaum von dem der Autokratie. Politische Macht war für den Revolutionär unteilbar. Auch der revolutionäre Machthaber sollte ein unumschränkter Souverän sein. Der Parteiführer der Bolschewiki verabscheute die Komplexität bürgerlicher Politik mit ihren vielfältigen Institutionen und der Notwendigkeit zum Kompromiss. Und während des langen Sommers 1917 träumte Lenin weiterhin von der Zerstörung des Staates und neuen Formen der Herrschaft, eine Vision, die er in Staat und Revolution umriss, wo er nicht nur die rücksichtslose Unterdrückung der alten Eliten ankündigte, sondern auch als Ziel seiner Politik, den Kommunismus als „freie Assoziation der Produzenten“ beschrieb.[1]
Tatsächlich waren es nicht die kommunistische Lehre nach Marx und Engels und auch nicht die eigenen Vorstellungen aus Staat und Revolution, die Lenins Politik nach der Machtübernahme im Oktober bestimmten. Handlungsleitend blieb vielmehr sein Begriff der Macht und der Wille, um diese Macht - coûte que coûte (um jeden Preis, Anm. d. Red.) – im Bürgerkrieg zu kämpfen. Die Konzentration politischer Macht in der eigenen Hand war das Ziel und das Mittel, um in den Jahren des Bürgerkriegs zu bestehen. Dabei waren die Entgrenzung der Gewalt und der gezielte Terror die Mittel, um sich gegen politische Gegner durchzusetzen.
Die russische Öffentlichkeit hatte während des Jahres 1917 und dann auch nach dem „Roten Oktober“ stets angenommen, dass Lenin und die Bolschewiki an ihrer eigenen Radikalität und Kompromisslosigkeit scheitern würden. Zahlreiche Beobachter gingen von der Annahme aus, dass auch Lenin früher oder später politische Verbündete suchen müsste. Tatsächlich zwangen die Umstände den Revolutionsführer etwa in Brest-Litovsk oder mit der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik zu Kompromissen. Hier zeigte sich, dass Lenin pragmatisch handeln konnte und auf Herausforderungen mit taktischem Rückzug zu reagieren vermochte. Doch in Machtfragen blieb er kompromisslos.
Der Staat, den Lenin und seine Mitstreiter im Bürgerkrieg schufen, war vor allem ein Instrument zur Unterwerfung der Gesellschaft und zur Verteidigung der eigenen Macht. Neben der Partei waren die Armee und die Geheimpolizei Institutionen, die gegen innere und äußere Gegner eingesetzt wurden. Seit dem „Roten Terror“ von 1918 wusste die Welt, dass die Bolschewiki bereit waren, ihre Waffen gegen jeden tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Gegner zu richten. Lenins Staat verteidigte seine Macht mit massiver Gewalt. Den Schutz seiner Bürger schrieb er sich auch in den kommenden Jahrzehnten nicht auf seine Fahnen.
Hundert Jahre nach der Russischen Revolution stellt sich die Frage nach dem Erbe des Kommunismus. Der Blick auf Lenin lehrt, dass es nicht die Ideologie (Leninismus) ist, die moderne Gesellschaften bis in die Gegenwart prägt. Das Erbe des Kommunismus ist vielmehr der Staat Lenins. Die Diktatur einer Staatspartei, in der Regel von einem autokratischen Führer beherrscht, trat von Russland aus ihren Siegeszug um die Welt an. In Russland von Stalin konsolidiert und ausgebaut, international von unterschiedlichen Ideologien geprägt, im globalen Süden als Entwicklungsmodell beliebt, in China oder Kuba heute noch an der Macht: Lenins Staat, gegründet auf seinem Begriff absoluter Macht, ist als Instrument einer Herrschaft, die sich die Gesellschaft unterwirft, ein Erbe der Russischen Revolution. Davon ist auch unsere Gegenwart noch geprägt.
[1] Wladimir Iljitsch Lenin, Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, in: Marxists Internet Archive (zuletzt: 12.4.2017)