von Jan C. Behrends

  |  

19. Juni 2017

Bremen im Wahlkampf 1987. Winter. Kohl gegen Rau. Ein bisschen wie heute - keine große politische Show und wohl schon früh entschieden. Die CDU plakatierte „Der Kanzler kommt“. Kohl mit Brille und Blick in die Zukunft. Es muss wenige Wochen vor der Wahl gewesen sein, als er seinen Auftritt unter den Betonstreben der Bremer Stadthalle absolvierte. Westdeutsche Moderne.

Wir Bremer Schüler hassten Kohl nicht. Wir verachteten ihn. Weniger noch die Inhalte – die Tage der hitzigen Nachrüstungsdebatte waren lange vorbei –  als vielmehr den Stil. Seine Provinzialität, die Bräsigkeit, den Dialekt. Manche konnten seinen „Pelzer“- Einschlag und die behäbige Art zu sprechen vortrefflich imitieren. An meinem Gymnasium war jeder irgendwie links, und wer es nicht war, der wusste das vermutlich zu überspielen, bis auf drei, vier Aufrechte, die ostentativ zu ihrem konservativen Idol standen. Das fanden wir eher schräg als alles andere. Wir sympathisierten selbst mit dem SDAJ, was im Nachhinein noch viel schräger ist. Warum eigentlich Kommunismus? Schwer zu sagen. Weil wir ja dagegen waren. Den realen Sozialismus und seine Geschichte kannten wir nicht. Das Beste, was dabei herauskam, war sporadische Marxlektüre, nächtliche Debatten und hin und wieder eine Flasche weißer Rum aus Nicaragua auf dem DKP-Maifest, wo unsere Lehrer zu chilenischer Musik tanzten.

Ich weiß nicht mehr, wer die Karten besorgte. Irgendwer kannte wohl jemanden bei der CDU. Es gab, heute unvorstellbar, nicht mal einen richtigen Sicherheitscheck, aber die Ordner der Jungen Union verwiesen uns nach oben auf die Tribüne. Unten im Saal drängte sich lokale Parteiprominenz. Bier und Bratwurst. Manschettenknöpfe, karierte Sakkos, Perlenketten und Hannelore-Kohl-Frisuren. Wir hatten uns Hemden angezogen, um nicht allzu sehr aufzufallen. Die Trillerpfeifen, die einige dabei hatten, steckten in den Hosentaschen.

Das Warten auf den Kanzler. Langeweile machte sich breit. Zum Glück durfte in der Halle ja noch geraucht werden. Eine Blaskapelle spielte – für uns, die zu dieser Zeit irgendwas zwischen Punk und Hardcore hörten, eher schwer erträglich. Bremer Lokalprominenz sprach. Bernd Neumann. Dann endlich diese Unruhe, die sich vor Auftritten breit macht. Wir sehen, wie Kohls Sicherheitsleute in die Halle kommen. Die gut gebauten Jungs vom BKA. Zu uns nach oben kamen sie nicht. Wir lümmelten uns auf den Sitzen.

Schließlich Ruhe, Tuscheln, gespannte Erwartung. Plötzlich intonierte die Kapelle „ein Jäger aus Kurpfalz“, Kohl zog ein, die Bremer Bürger standen zu beiden Seiten Spalier. Rhythmisches Klatschen. Maue Begeisterung unten in der Halle. Winken mit kleinen Deutschlandfahnen. Leuchtende Augen bei der Jungen Union. Er sah aus wie im Fernsehen, erklomm das Rednerpult vor großem, quadratischem Schwarz-Rot-Gold, in diesen Zeiten das Logo der Union.

Ich habe vergessen, worüber Helmut Kohl sprach. Er spulte seine Wahlkampfrede ab. Wir hörten erst einmal zu, waren ja nicht in die Stadthalle gekommen, um gleich wieder rauszufliegen. Irgendwann haben wir dann wohl doch gebuht und getrillert. Ein halbes Dutzend Gymnasiasten, Kohl war sicher anderes gewöhnt. In seiner unnachahmlichen Art hat er weiter geredet und uns geflissentlich ignoriert. Es kam noch nicht mal der Saalschutz. So liberal war sie, die späte Bundesrepublik. Ungewollt waren wir die Folklore, die seine Auftritte für sein bürgerliches Publikum erst authentisch machte.

Schließlich hat der schwarze Riese uns dann doch seine Beachtung geschenkt. Unterbrach für einen Moment die Rede, schaute auf die Tribüne und streckte den Zeigefinger in unsere Richtung: „Und den Knallköpfen da oben, denen sage ich: Eines Tages, meine Herren, eines schönen Tages werden Sie auch noch CDU wählen.“ Gelächter im Saal. Getriller. Weiter im Manuskript. Frieden und Freiheit, Aufschwung. Deutschland. Europa. Oder so. Auf dem Rückweg überboten wir uns im Imitieren der Kohl‘schen Rede. Er war irgendwie doch unterhaltsam. An politische Aufreger kann ich mich nicht erinnern.

Natürlich blieben wir dagegen, wir schrieben schließlich Januar 1987, und wir waren jung und links. Die hermetische Welt der Bundesrepublik hatte uns noch ganz gefangen. Es brauchte das Jahr 1989 und bei mir die zahlreichen Reisen in die Ruinenlandschaft des Kommunismus, um unser Weltbild ins Wanken zu bringen. Im Oktober 1990 war ich in Leningrad und sah ihn im Fernsehen auf dem Reichstagsbalkon stehen. Schlussakkord eines unglaublichen Jahres. Kohl war nun die Verkörperung der Einheit. Auf dem Bildschirm flimmerte Schwarz-Rot-Gold, um uns herum die leeren Läden und der mottige Geruch von sieben Jahrzehnten Kommunismus. Ein neues Europa? Distanziertes Feiern mit sowjetischen Freunden, die mit westdeutschen Weisheiten wenig anfangen konnten. Wir stießen auf Deutschland an. Eine neue Realität, aber personelle Kontinuität: Kohl blieb noch eine weitere Ewigkeit, die Zeit meines Studiums, Kanzler, selige Jahre vor 9/11.

Und Recht hatte er auch, der Kanzler. Auch wenn ich mich bisher noch verweigere, die große Mehrheit von uns wählt heute CDU. Spätestens seit Angela Merkel - und die ist ja auch nur eine Erfindung von Helmut Kohl.