von Christopher Neumaier

  |  

6. März 2016

Zehn Affen haben die Abgase eines mit „Clean Diesel“-Technologie ausgestatteten Volkswagen Beetle eingeatmet, berichteten Medien und lösten damit einen empörten öffentlichen Aufschrei aus. In der Folge distanzierten sich von diesem Tierversuch nicht nur Umweltschützer und Wissenschaftler, sondern auch Politiker und Vertreter der deutschen Automobilproduzenten Volkswagen, BMW und Daimler. Deren Lobbygruppe „Europäische Forschungsvereinigung für Umwelt und Gesundheit im Transportsektor“ (EUGT) hatte 2014 unter der Federführung Volkswagens ein US-amerikanisches Forschungsinstitut mit diesem Tierversuch beauftragt. So sollten unter „realitätsnäheren“ Bedingungen verlässliche Ergebnisse über die Umweltverträglichkeit der neuesten Dieseltechnologie ermittelt werden. Es scheint, als habe die EUGT augenscheinlich bei der Wahl ihrer Mittel ethische Erwägungen nicht berücksichtigt. Letztlich lieferte der Tierversuch, wie auch noch eine weitere Versuchsanordnung im Universitätsklinikum Aachen mit 25 Menschen, keine stichhaltigen Beweise für die Unbedenklichkeit von Dieselabgasen. Die Intention der Lobbygruppe lief damit ins Leere.

Stattdessen haben zahlreiche Studien der letzten Jahrzehnte die vom Dieselabgas ausgehenden Gesundheitsrisiken herausgestellt. Sie würden Atemwegserkrankungen wie Asthma, Herz-Kreislauferkrankungen und Krebs verursachen. Während die Gesundheitsrisiken der Stickoxidemissionen insbesondere seit den 2000er Jahren ins öffentliche Interesse gerückt sind, reicht die Debatte um die Krebsrisiken der Dieselpartikel bis in die späten 1970er Jahre zurück. Damals hatte die US-Regierung mit massiver staatlicher Förderung die Krebsforschung ausgebaut, und im Zuge dessen untersuchte die US-Umweltschutzbehörde EPA das Krebsrisiko von Dieselpartikeln. Tests zeigten auf, dass Salmonellen-Bakterien mutierten, wenn sie in Kontakt mit Partikeln gerieten. Dieselabgas war damit als Mutagen identifiziert. Löste Dieselabgas aber auch Krebs aus? Diese Frage ließ sich nur mit tentativen Aussagen beantworten. Da Wissenschaftler wussten, dass viele Mutagene auch Kanzerogene waren, klassifizierten sie Dieselabgase als „möglicherweise“ krebserregend. Obwohl anschließende Tierversuche mit Ratten, Mäusen und Goldhamstern den Verdacht nicht eindeutig bestätigten, kursierten in der Öffentlichkeit Berichte über die Krebsrisiken von Dieselabgasen. In der Folge stuften verunsicherte US-Konsumenten Diesel-Pkw als Gefahrenquelle und Gesundheitsrisiko ein.

Das bedrohte wiederum die Absatzprognosen der drei größten Produzenten von Diesel-Pkw für den US-Markt: Volkswagen, Mercedes-Benz und General Motors (GM). Nachdem 1979 eine historisch einmalige „Dieselmanie“ eingesetzt hatte, bewerteten die Hersteller Diesel-Pkw als Zukunftstechnologie und richteten daran ihre Marktstrategie aus. Das stand nun aber mit der Krebsdebatte zur Disposition. Um einen weiteren Imageschaden und einen daraus resultierenden Absatzeinbruch abzuwehren, betraute General Motors Wissenschaftler damit, die Krebsrisiken von Dieselabgasen zu widerlegen. In Fachzeitschriften argumentierten sie, dass von Dieselabgasen keinerlei Gesundheitsgefahren ausgehen würden. Diese Einschätzung wiederholten sie auch vor dem US-Kongress. Lobbyismus hinter der Fassade von Wissenschaftlichkeit hat somit in den Debatten um die Gesundheitsrisiken von Dieselabgasen eine lange Tradition.

Allerdings war es aufgrund der unklaren wissenschaftlichen Befunde zu den Krebsrisiken Anfang der 1980er Jahre leichter, eine Gegenexpertise aufzubauen. Offen bleibt dabei aber die Reichweite der Strategie. So teilten gerade Umweltpolitiker der Regierung Ronald Reagans die Sichtweise der Industrievertreter und sahen von rigorosen Abgasgrenzwerten ab. Die Konsumenten erreichten die wissenschaftlichen Argumente aber kaum. Sie waren weitaus stärker für Krebsrisiken sensibilisiert. Immer wieder hatten die Medien über die allgemein ansteigende Krebsrate und den in den meisten Fällen tödlich verlaufenden Lungenkrebs berichtet. Auch deswegen schreckten US-Autofahrer vom Kauf eines Diesels zurück, sodass sich die positiven Prognosen der Dieselproduzenten zerschlugen und 1981 der Dieselabsatz in den USA einbrach. Mercedes-Benz warf als letzte Option eine technologische Lösung in den Ring: Ein S-Klasse Turbodiesel-Pkw mit Partikelfilter sollte den Diesel vom Krebsstigma befreien. Allerdings musste Mercedes-Benz das Luxusauto aufgrund gravierender Ausfälle und Mängel beim Partikelfilter wieder vom Markt nehmen. Der Rest ist Geschichte: Seit den 1980er Jahren hat sich in den USA der Absatz von Diesel-Pkw – ungeachtet aller Anstrengungen gerade der deutschen Hersteller – nicht mehr erholt.

In Westdeutschland rezipierten Automobilindustrie und Politiker die Entwicklungen in den USA und stützten sich dabei auf die industrienahen Forschungsergebnisse. Zunächst teilten deutsche Autokäufer diese Sicht und trugen damit eine bisher nicht gekannte Dieseleuphorie. Das änderte sich 1987, als neue Forschungsergebnisse zu den Krebsrisiken von Dieselabgasen publik wurden. Plötzlich galten Dieselpartikel selbst in Zeitschriften wie Auto Motor und Sport als „Rattengift“, nachdem in Inhalationsversuchen an eben diesen eine deutlich erhöhte Tumorrate nachgewiesen worden war. Auch hier versuchten Vertreter der Automobilindustrie einen drohenden Absatzeinbruch abzuwenden. Sie nahmen jedoch keine eigenen Forschungsarbeiten auf, vermutlich weil Tierversuche über einen langen Zeitraum laufen müssen, um verlässliche Ergebnisse zu liefern. Stattdessen konterten die Automobilindustrie und ihre Interessensvertreter direkt. Sie warfen den beteiligten Wissenschaftlern in Broschüren und öffentlichen Verlautbarungen „unwissenschaftliche“ Methoden vor und sprachen damit deren Ergebnissen die Legitimität ab. Oder Industrievertreter verwiesen auf wissenschaftliche Krebs-Studien, legten aber eine alternative Interpretation des Ergebnisses vor, die auch anerkannte Experten teilen würden: Von Dieselpartikeln gehe kein Krebsrisiko aus. Die Unterstützer des Diesels kämpften dabei durchaus mit harten Bandagen, wenn sie entweder die Forschungsergebnisse diskreditierten oder umdeuteten. Auch hier finden sich also Parallelen zum jüngsten Dieselskandal.

Die Lobbyanstrengungen hielten aber in Deutschland zwischen 1987 und 1989 einen Absatzeinbruch bei den Diesel-Pkw nicht auf. Dieselabgase standen durchweg in der Kritik: Sie galten offiziell als Schadstoff und als potentiell krebserregend. Diese Sichtweise teilten nicht nur Umweltschützer, sondern auch Politiker und Autofahrer. Erst 1989 zeichnete sich eine erneute Trendwende ab. Unter massiven Anstrengungen der Automobilvertreter gelang es, den Diesel-Pkw als „umweltfreundliche“ Technologie zu präsentieren. Zunächst setzten die Ingenieure bei Volkswagen und Mercedes-Benz erneut auf eine technologische Lösung. Jedoch lehnten sie nach dem Fehlschlag des Partikelfilters dessen Einsatz ab. Stattdessen verbesserten sie unter anderem die Verbrennung im Motor, um so den Partikelausstoß unter das neu eingeführte gesetzliche Limit von 0,08 g/km („Töpfer-Norm“, benannt nach dem damaligen Bundesumweltminister Klaus Töpfer) zu drücken. Sobald ein Diesel diesen Grenzwert einhielt, galt er offiziell als „umweltfreundlich“ und als nicht krebserregend. Um 1989/90 war zudem die durch den Kohlendioxidausstoß verursachte Klimaerwärmung als neue zentrale Umweltbedrohung identifiziert worden. Der schon immer als besonders sparsam bekannte Diesel-Pkw erschien plötzlich in einem neuen Licht. Sein im Vergleich zum Benzin-Pkw geringerer Kohlendioxidausstoß ließ sich nun als umweltfreundlich bewerben. Partikel als Krebsauslöser verloren demgegenüber in der öffentlichen Debatte an Gewicht, obwohl sie als gesundheitsgefährdende Stoffe anerkannt worden waren. In der Summe führten diese Veränderungen in Deutschland zu einer Neubewertung des Diesel-Pkw, die nicht nur Automobilvertreter, sondern auch Politiker und Konsumenten teilten. Diese positive Sichtweise dominiert bis heute in Deutschland und in Europa. Die Umweltfreundlichkeit der Dieselautos wurde lange kaum hinterfragt. Erst mit den Debatten um drohende Fahrverbote von Dieselautos in europäischen Innenstädten und dem Volkswagen-Dieselskandal 2015 in den USA reiften verstärkt Zweifel. Dies bringt unter anderem der Absatzeinbruch bei Dieselneuwagen 2017 zum Ausdruck.

Europa und die USA unterscheiden sich noch immer deutlich in der Frage, wie Dieselautos zu bewerten sind. So werden in den USA die von Partikel- und Stickoxidemissionen ausgehenden Gesundheitsrisiken wesentlich stärker angeprangert. Das allein erzeugt vielfach, gerade bei den deutschen Dieselherstellern, eine reflexartige Abwehrhaltung. Der Kritik am Diesel begegneten sie dabei mit dem Hinweis, dass Arbeitsplätze bedroht seien oder moderne Dieselautos mit ihrer Abgasreinigung einen Betrag zur Verbesserung der Luft liefern würden. Die Skepsis der US-Amerikaner erscheint aus einer solchen Perspektive freilich als befremdlich und unangebracht. Verständnis für die Gegenposition fehlt. Eben dieses Unverständnis deutscher Ingenieure gegenüber den politischen Entscheidungen in den USA begünstigte eine Konstellation, in der Mittel zum Zweck wurden. Aber noch mehr: Bei offiziellen US-Abgastests wurden mit einer „Defeat Device“ die Grenzen des rechtlich Zulässigen überschritten und auch in Europa des legal Möglichen neu vermessen. Das sollte zu denken geben, zumal dieses Verhalten auch die Frage des Demokratieverständnisses aufwirft.

 

Mehr zum Diesel von Christopher Neumaier: "Aber ein schöner Motor ist der Diesel trotzdem...", in Zeitgeschichte-online, Oktober 2015.

Außerdem empfehlen wir die Lektüre des Themenheftes der Zeithistorischen Forschungen 3/2017: Mobilität und Umwelt