von Tobias Ebbrecht-Hartmann

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19. Juli 2018

Ende Juli verwandelt sich die Cinematheque am Fuße der Jerusalemer Altstadt kurzzeitig wieder in das Zentrum der internationalen Kinowelt. Mit seinem vielfältigen Programm bietet das Jerusalem Film Festival der internationalen Fachöffentlichkeit und seinen zahlreichen Besuchern Einblicke in die Gegenwart und Vergangenheit des Filmschaffens, zeigt internationale Dokumentar- und Spielfilme, bietet Workshops und Masterclasses an, zeigt die Arbeiten des filmischen Nachwuchses und präsentiert der Welt das israelische Gegenwartskino.
 

Im Jahr 1984 öffnete das Festival zum ersten Mal seine Tore. Bis heute ist die Geschichte des wichtigsten israelischen Filmfestivals eng mit dem Engagement und Wirken eines Menschen verbunden: Lia van Leer, Gründerin der Cinematheque in Haifa und Jerusalem, des israelischen Filmarchivs und des Festivals. 1924 in Balti, damals ein Teil Rumäniens, als Lia Greenberg geboren, kam sie 1940 erstmals nach Palästina, um ihre Schwester in Tel Aviv zu besuchen. Dort angekommen, erfuhr sie von der Deportation ihrer Familie. Ihre Eltern und viele Freunde und Verwandte wurden ermordet. Lia blieb in Palästina, später Israel, und heiratete 1952 den Holländer Wim van Leer.[1]Beide teilten eine Leidenschaft: das Kino. Allerdings gab es in ihrer Wahlheimat Haifa im Norden des Landes kaum Möglichkeiten Filme, insbesondere die Arbeiten junger europäischer Filmemacher, zu sehen. So machten sie aus der Not eine Tugend. Von ihren Europareisen brachten Lia und Wim van Leer Filme mit, die sie dann in eigens organisierten Filmvorführungen zusammen mit Freunden anschauten. Aus dieser Initiative entstand 1955 der „Good Cinema Club“, der erste Filmclub in Israel. Vorführungen fanden zwei Mal im Monat statt und der Club hatte 200 AnhängerInnen, Cinephile wie Lia und Wim.
Lia van Leer erinnerte sich später an diese Anfänge: „Es gab damals keine echte Filmkultur in Israel. Die jungen Israelis waren einfach nicht daran interessiert. Ich glaube, wie hatten damals so um die 100 Kopien. Und die haben wir dann in ziemlich schlechter Qualität vor verschiedensten Film-Buffs vorgeführt.“[2]

Später wurde die Filmsammlung von Lia van Leer zum Grundstock für das Israelische Filmarchiv, das sie 1960 gründete.[3]Mit dem Archiv gehörte Lia zu einer globalen Gemeinschaft von Filmsammlern und Archivaren, die sich untereinander austauschten und mit Kopien aushalfen. Solche internationalen Netzwerke und Freundschaften begründeten Lia van Leers Status als Mutter der israelischen Filmkulturund gaben schließlich auch den Anstoß für die Gründung eines israelischen Filmfestivals. Doch zuvor institutionalisierte sie im Jahr 1973 den „Good Cinema Club“ durch die Gründung von Cinemathequen in Haifa und Jerusalem nach französischem Vorbild. Die Jerusalemer Cinematheque wurde dann auch zur Heimat der Filmfestivals und ist es bis heute geblieben, auch wenn weitere Spielstätten im traditionsreichen Lev Smadar Kino, im Begin Center oder dem Yes Planet Kinokomplexhinzugekommen sind.

Es war schließlich eine verlassene Ruine im mythenumrankten Tal Gen-Hinnom, die Lia van Leer als Standort der Cinematheque in Jerusalem auswählte. Schon bei den Propheten Josua, Jeremia und Jesaja kann man über dieses Tal lesen.
Später meinten manche, in der ehemaligen Hinrichtungsstätte den Übergang zur Hölle ausmachen zu können oder sahen das Tal als Ort eines göttlichen Gerichts.
Seit 1981 pilgern nun jene an diesen Ort, die auf der weißen Leinwand tanzende Lichter und Schatten als magischen Übergang in die unendlichen Weiten filmischer Welten betrachten. Seit 1987 war dies auch an Samstagen möglich, dem für gläubige Juden heiligen Ruhetag Schabbat. Während Cafés, Restaurants und andere Kinos geschlossen blieben, begann Lia van Leer die Tore der Cinematheque zu öffnen, gegen den Widerstand religiöser Gegner. Sie blieb nicht die Einzige, und so ist die Cinematheque bis heute auch ein Ort der Begegnung des religiösen und des säkularen Israels.

Am 17. Mai 1984 öffnete sich schließlich zum ersten Mal der Vorhang für einen Festival-Eröffnungsfilm. Le Bal(1983) von Ettore Scola bot einen Streifzug durch die Geschichte des zwanzigsten Jahrhundert am Beispiel der Stadt Paris. Musik und Tanz machten den Film (und damit das Festival) zu einem Spektakel und gaben den Ton für Kommendes an.
Die Programme des Festivals sind bunt, manchmal ungewöhnlich, unterhaltend, voller Neugier, politisch und historisch. Das liegt auch an seiner spezifischen Umgebung. Es wäre undenkbar, dass die politische Lage in Israel und der Nahostkonflikt keinen Platz im Festival hätten - ganz im Gegenteil.
Oft war das Filmfestival der einzige Ort der Begegnung in Zeiten unerbittlicher Feindschaft und gegenseitiger Ablehnung. Lia van Leer erinnert sich an wütende Reaktionen, als sie in Jerusalem den israelkritischen Film Jenin, Jenin(2002) zeigten. „Aber ich habe immer geglaubt, dass wir die Dinge auch von der anderen Seite aus betrachten müssen, um zu verstehen, was sie [die Palästinenser, T.E.] sagen und was sie denken“, war van Leers Reaktion.
Dabei hatte das Festival auch immer wieder mit Ablehnung und Boykottdrohungen von Israelgegnern zu kämpfen. Doch für Lia van Leer war es einer der größten Erfolge, dass doch immer wieder internationale Filmstars und Autorenfilmer nach Jerusalem kamen, unter ihnen Regiegrößen wie Nanni Moretti, Michael Haneke, Ang Lee, Terrence Malick, Roman Polanski, Margarethe von Trotta oder Wim Wenders. In manchen Jahren aber lag der Konflikt wie ein Schatten über dem Festival. Als 2002 die Zweite Intifada das Leben in Jerusalem und Israel mit blutigen Selbstmordattentaten erschütterte, war es nicht einfach, das Festival zu organisieren. „Festival heißt Feiern,“ erklärte Lia van Leer damals, „und dieses Jahr ist es schwer zu feiern. Ich fühle mich wie in diesem Satz von Beckett. Du weißt schon: „Ich kann nicht weiter, ich mache weiter“. Wir müssen weitermachen. Ich denke, dass die Filme in diesem Jahr nicht nur die Möglichkeit der Ablenkung bieten werden, sondern in bestimmter Weise sogar dabei helfen, die Dinge besser zu verstehen.“[4]

Auch die vielschichtige jüdische Geschichte beeinflusst die Stimmung des Festivals: Tragische Momente wechseln sich mit heiteren ab. In Jerusalem kann man die neuesten Dokumentarfilme über die facettenreiche Geschichte des Holocaust sehen, man begegnet menschlichen Geschichten in Zeiten von Hass und Gewalt, man lernt die Arbeiten jüdischer Filmemacher und Filmemacherinnen aus allen Teilen der Welt kennen, und man erfährt viel über jüdische Bräuche, Traditionen und oft längst vergessene jüdische Biographien. Claude Lanzmann, der erst kürzlich verstorbene Regisseur von Shoah, eines der unbestrittenen filmischen Meisterwerke über die Geschichte des Holocaust, kam oft als Gast nach Jerusalem, genauso wie Chantal Ackerman, deren Filme in diesem Jahr in einer Retrospektive gezeigt werden. Jedes Jahr wird mit dem Avner Shalev Yad Vashem’s Chairman Awardauch die beste filmische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust ausgezeichnet.
 

Auf besonderes Interesse stoßen in Jerusalem aber natürlich die heimischen Produktionen. Das Festival ist eines der wichtigsten Schaufenster für die Arbeiten israelischer Regisseure, auch wenn es diese natürlich zuerst ins Rampenlicht nach Cannes oder Berlin zieht. Trotzdem, für viele israelische Filmemacher war das Festival in Jerusalem eine wichtige Station in ihrer Karriere, und darum kommen sie immer wieder. Insbesondere in den letzten Jahren hat sich das israelische Kino zu einer der interessantesten Kinokulturen weltweit entwickelt. Kreativität und innovatives filmisches Erzählen verbinden sich mit Themen, die zentrale Konflikte unserer Zeit behandeln. Neben dem Nahostkonflikt, der noch immer einen zentralen Referenzpunkt für israelische Filmemacher darstellt, sind es persönliche und familiäre Konflikte, Sexualität und Gewalt, Religion und Identität, die die Konflikte in israelischen Filmen antreiben. Dem internationalen Publikum bieten sie so einen anderen Zugang zur komplexen israelischen Realität als die oft eher oberflächlichen oder einseitigen Nachrichten über den Nahostkonflikt. Gleichzeitig aber hallen in den sehr spezifischen Konflikten des israelischen Kinos auch universelle Fragen und Probleme nach, die diese Filme auch für Deutschland und Europa relevant machen.
 

Heute werden im Rahmen des Jerusalemer Filmfestivals zwischen 150 und 200 Filme im Verlauf von zehn Tagen gezeigt. Junge israelische Filmemacher treffen auf Kolleginnen und Kollegen aus allen Teilen der Welt, Produzenten suchen nach neuen Talenten und Festivalkuratorinnen sichten passende Beiträge für ihre Programme. Doch das Jerusalem Film Festival ist nicht nur ein Ort für Filmstars und Experten. Es ist ein Publikumsfestival, das vor allem von seinen Besucherinnen und Besuchern lebt. Die Kinos sind regelmäßig bis auf den letzten Platz gefüllt.
Einmal im Jahr bietet das Festival vielen Israelis den langersehnten Blick hinaus in die Welt. Das Kino wird buchstäblich zum Fenster, mehr noch zu einem Durchgang, der das oft durch Krisen und Konflikte gebeutelte Israel mit der übrigen Welt verbindet. Darum bilden die Filme nach wie vor das Herz des Festivals. Neben den internationalen Programmen „Panorama“ und „Dokumentarfilm“ stechen vor allem das israelische Filmprogramm sowie die Reihen „Jewish Experience“ und „In the Spirit of Freedom“ hervor. Sie machen das Jerusalem Film Festival zu einem Ort für politische Fragen sowie Fragen nach Identität, Geschichte und Erfahrung.

(Das Jerusalem Film Festival findet in diesem Jahr vom 26. Juli bis zum 5. August statt)

 

[1]Hanna Brown: Lia van Leer. In: Jewish Quarterly 62:2 (2015), S. 88-90, hier: S. 88.
[2]Benjamin Ivry: Jerusalem Cinematheque and Film Festivcal Founder Lia Van Leer Dies at 90. In: Forward, 19 März 2015.
[3]Nirit Anderman: Cinematheques‘ Queen Mother. In: Haaretz 14. Juli 2008.
[4]Hanna Brown: Lia van Leer. In: Jewish Quarterly 62:2 (2015), S. 90.