von Florian Peters

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11. Oktober 2019

Mit der Parlamentswahl am 13. Oktober steht Polen vor einer Richtungsentscheidung. Nachdem die nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) von Jarosław Kaczyński vor vier Jahren mit 37,6 % der Stimmen überraschend die absolute Mehrheit im polnischen Sejm erobern konnte, entscheiden die Pol*innen nun darüber, ob sie Kaczyński das Mandat zur Fortsetzung der Alleinregierung geben – oder ob dessen Tage demnächst gezählt sind. Angesichts des europaweiten Aufschwungs des Rechtspopulismus hat diese Wahl über unser östliches Nachbarland hinaus Signalwirkung. Mit einem erneuten PiS-Wahlsieg würde sich dort neben Ungarn eine zweite Bastion der populistischen Rechten längerfristig in der Regierung etablieren.

Die Chancen dafür stehen nicht schlecht: Während vielen links und liberal gesinnten Pol*innen die letzten Jahre als böser Spuk erschienen und die meist wenig geschmeidigen Initiativen der PiS-Regierung auf internationaler Bühne überwiegend Kopfschütteln auslösten, deuten die meisten Umfragen darauf hin, dass die von Jarosław Kaczyński unangefochten geführte PiS ihren Stimmenanteil sogar noch ein wenig ausbauen könnte. 40 bis 45 % der Stimmen werden ihr zugetraut; die wichtigsten Oppositionsparteien, die in einem liberalen und einem linken Wahlbündnis antreten, werden dagegen nur auf 25 bis 30 % bzw. 10 bis 15% taxiert.

Dies mag auf den ersten Blick überraschen. Schließlich riefen die Reformen der Rechtsregierung eine breite Protestbewegung auf den Plan, die etwa gegen die politische Einflussnahme auf die Justiz, gegen die chaotische Schulreform oder gegen eine weitere Verschärfung des ohnehin schon restriktiven Abtreibungsrechts auf die Straße ging. Die Justizreform veranlasste sogar die EU-Kommission, ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit einzuleiten. Darüber hinaus fiel die PiS-Regierung mit einer Reihe von Skandalen auf: So genehmigte Ministerpräsidentin Beata Szydło ihren Ministern großzügige Geldprämien, ein skandalöses Holocaust-Gesetz musste auf internationalen Druck hin zurückgezogen werden, im Justizministerium flog eine organisierte Gruppe von Trollen auf, die Gegner der Justizreform im Internet verunglimpfte, und schließlich wurde bekannt, dass Parteichef Kaczyński mithilfe einer parteinahen Stiftung einen Hochhauskomplex mit Zwillingstürmen in der Warschauer Innenstadt plant. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Bewegt man sich ausschließlich in den gebildeten, urbanen Milieus von Warschau, Gdańsk oder Wrocław, so ist kaum zu verstehen, warum das Regierungslager trotz alledem weiter auf stabilen Zuspruch zählen kann. Wie soziologische Studien zeigen, sind auch erklärte Anhänger*innen von Jarosław Kaczyński nicht mit allen Maßnahmen der PiS-Regierung einverstanden.[1] Warum also sehen sie der Partei ihrer Wahl all diese Schwächen nach?

Im Kern beruht der Erfolg von Jarosław Kaczyński darauf, dass er seinen Wähler*innen einen definitiven Schlussstrich unter die materiellen und kulturellen Entbehrungen der Transformationszeit verspricht. Nach drei Jahrzehnten wirtschaftlicher Aufholjagd gegenüber dem wohlhabenden Westen, in deren Namen die liberalen Transformationseliten ihren Landsleuten die ständige Bereitschaft abverlangt hatten, sich immer wieder aufs Neue im Wettbewerb zu bewähren und westlichen kulturellen Vorbildern nachzueifern, soll es nun endlich einmal gut sein.

Im Vordergrund des historischen Selbstbildnis der polnischen Rechten, auf dessen Pflege diese viel Mühe verwendet, steht zwar der endgültige Bruch mit dem Kommunismus, der nach Meinung vieler rechtskonservativer Intellektueller 1989 ausgeblieben sei. Da die liberalen Oppositionseliten damals am Runden Tisch gemeinsame Sache mit den kommunistischen Elementen gemacht hätten, sei es nun endlich an der Zeit, mit den Überresten der postkommunistischen Seilschaften in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft abzurechnen. Deshalb verabschiedete die Regierungsmehrheit eigens ein „Dekommunisierungsgesetz“, mit dem man den wenigen verbliebenen Denkmälern und Straßennamen aus staatssozialistischer Zeit zu Leibe rückte (und bei dieser Gelegenheit Straßen und Plätze vorzugsweise zu Ehren des bei dem Flugzeugabsturz von Smolensk umgekommenen Staatspräsidenten Lech Kaczyński umzubenennen versuchte). Die umstrittene politische Disziplinierung der Justiz, in der angeblich noch staatssozialistische Seilschaften ihr Unwesen trieben, wurde von führenden PiS-Politiker*innen als langersehntes „Ende des Kommunismus in Polen“ gefeiert.[2]

Tatsächlich aber hat die nationalkonservative Regierung in den letzten vier Jahren nicht den Kommunismus endgültig verabschiedet, der in Polen schon weit vor 1989 in seinen letzten Zügen lag, sondern vielmehr die postsozialistische Transformationszeit. Diese brachte zwar insgesamt spektakuläre Wohlstandsgewinne – so erzielte Polen seit 1989 das höchste Wirtschaftswachstum aller osteuropäischen Transformationsländer und konnte die Wohlstandslücke gegenüber Deutschland um die Hälfte verringern. Allerdings war die wirtschaftliche Lage zu Beginn der Transformation hier weitaus desaströser als anderswo im östlichen Europa und der Sprung ins kalte Wasser des marktliberalen Kapitalismus war insbesondere in peripheren Regionen mit beispielloser sozialer Entsicherung und kultureller Demütigung verbunden. Jenen Pol*innen, die jahrelang als Arbeitsmigranten im westlichen Ausland, aber auch als prekär Beschäftigte im eigenen Land erfahren mussten, was es heißt, unterbezahlte Drecksarbeit zu machen und als Schmuddelkinder behandelt zu werden, spendet PiS nun kulturelle und materielle Anerkennung.

Dabei geht es um weit mehr als um Trostpflaster für die Transformationsverlierer*innen von damals. Vielmehr hat Jarosław Kaczyński früher als seine politischen Gegner erkannt, dass das Vertrösten auf bessere Zeiten in einer fernen Zukunft nicht mehr ausreicht. Angesichts des inzwischen erreichten Wohlstandsniveaus erwarten die Pol*innen mehr von ihrem Staat, als die Liberalen einzulösen bereit waren: mehr soziale Sicherheit, aber auch mehr Wertschätzung. So wie viele polnische Wanderarbeiter*innen und Kleinhändler*innen den Kapitalismus schon in den 1980er-Jahren im Westen kennenlernten, hat gerade der mobilere Teil der polnischen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten in Westeuropa ganz praktisch erlebt, dass Marktwirtschaft dort auch eine funktionierende sozialstaatliche Abfederung einschließt.[3] Deshalb spielt die tief verwurzelte Sehnsucht nach sozialem Aufstieg und Rückkehr zur europäischen „Normalität“, die über 25 Jahre lang die Liberalen mit Erfolg für sich beanspruchen konnten (und eine Zeitlang auch die sozialliberal gewendeten Postkommunisten von Aleksander Kwaśniewski), nun der PiS in die Karten.

Im laufenden Wahlkampf greift Kaczyński diese Bedürfnisse mit dem ebenso simplen wie eingängigen Slogan „Dobry czas dla Polski“ („Eine gute Zeit für Polen“) auf, mit dem er den Wähler*innen zuzurufen scheint: „Wartet nicht auf bessre Zeiten!“ Mit dem von der PiS-Regierung eingeführten Kindergeld „500+“, der angekündigten kräftigen Anhebung des Mindestlohns und spürbaren Rentenerhöhungen signalisiert das Regierungslager die Bereitschaft, sich einem Maß an sozialstaatlicher Absicherung, wie es in Westeuropa üblich ist, zumindest anzunähern. Obwohl diese sozialen Wohltaten bisher nicht mit sichtbaren Fortschritten auf struktureller Ebene verbunden sind, etwa im extrem deregulierten Arbeitsrecht, im desolaten öffentlichen Gesundheitswesen, oder im Bildungsbereich bietet die PiS in den Augen ihrer Anhänger*innen offensichtlich ein glaubwürdiges und kohärentes sozialpolitisches Programm an. Angesichts der wirtschaftlichen Prosperität der letzten Jahre erscheinen materielle Verbesserungen gerade für diejenigen überfällig, die zuvor jahrelang zuschauen mussten, wie die Einkommensstärkeren die volkswirtschaftlichen Wachstumsraten in individuelle Einkommenszuwächse ummünzen konnten.

Neben den materiell zu kurz Gekommenen bedient die Kaczyński-Partei freilich auch die Erwartungen derjenigen, die ihre konservative Sicht der Dinge vom fortschreitenden gesellschaftlichen Wandel in Frage gestellt sehen. Sie greift dabei geschickt auf Wahrnehmungsmuster zurück, die sich während der neoliberalen Diskurshegemonie der Transformationszeit herausgebildet haben. Denn ein substanzieller Teil der polnischen Gesellschaft möchte schlicht nicht länger von oben herab belehrt werden und die Zähne zusammenbeißen müssen, weil urbane Deutungseliten ihre politischen Positionen als alternativlos darstellen und konkurrierende Lösungsansätze als irrational denunzieren. Das Reservoir an Unwillen und anti-elitärem Ressentiment, das sich über Jahre angesammelt hat, schlägt heute denjenigen entgegen, die sich für eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den weniger glanzvollen Seiten der polnischen Geschichte einsetzen, für die Rechte sexueller Minderheiten kämpfen oder eine offenere Haltung gegenüber Zuwanderung befürworten.

Die PiS antwortet auf die in ihrer Anhängerschaft weit verbreiteten Erfahrungen geringer Selbstwirksamkeit mit der permanenten Inszenierung politischer Handlungsmacht. Diesem Ziel dienen unter anderem ein Trommelfeuer nationalistischer Rhetorik, eine auf den nationalen Stolz fokussierte Geschichtspolitik und auch die irrealen Reparationsforderungen an die Adresse Deutschlands, mit der die Regierungspartei vor allem sich selbst und ihren Anhänger*innen beweisen möchte, dass sie auch vor dem mächtigen Nachbarn im Westen nicht zurückschreckt. Interessanterweise scheint die zunehmende gesellschaftspolitische Polarisierung über LGBT-Paraden oder das Abtreibungsrecht solcher Symbolpolitik eher in die Hände zu spielen, hilft sie doch dem nationalkonservativen Lager, trotz der Skandale und Schwächen der Regierung seine Reihen zu schließen.

Die zweifellos guten Wahlaussichten für die PiS sollten jedoch nicht dazu verleiten, die Ansichten ihrer Kernwählerschaft mit denen der gesamten polnischen Gesellschaft zu verwechseln. Ein Szenario wie in Ungarn, wo Viktor Orban seine politische Hegemonie offenbar unangefochten auf Dauer gestellt hat, zeichnet sich in Polen nicht ab. Vielmehr teilt sich die polnische Gesellschaft in zwei ungefähr gleich starke Lager. Da die Unterstützung für das Regierungslager vielfach pragmatischer Natur ist, wird viel von der Mobilisierung der jeweiligen Wähler*innenschaften abhängen. Vor diesem Hintergrund deutet einiges auf ein gutes Ergebnis für die zersplitterte polnische Linke hin, die es erstmals seit Jahren geschafft hat, in einem gemeinsamen Block anzutreten, der die postkommunistische SLD, die basisdemokratische Razem („Zusammen“) und den neugegründeten Wahlverein Wiosna („Frühling“) des charismatischen Robert Biedroń umfasst. Auch wenn noch unklar ist, ob ein möglicher Erfolg der Linken eher auf Kosten der regierenden PiS oder aber der liberalen Opposition geht, scheint ein Ende des liberal-konservativen Duopols in der polnischen Politik näherzurücken.

 

 


[1] Vgl. Przemysław Sadura / Sławomir Sierakowski: Polityczny cynizm Polaków. Raport z badań socjologicznych. Warszawa 2019, [zuletzt abegrufen am 10. Oktober 2019].
[2] Mehr dazu: Florian Peters: Wann endete in Polen der Kommunismus? Konkurrierende Deutungen der polnischen Transformationsgeschichte. Lernen aus der Geschichte, 25.4.2018 [zuletzt abegrufen am 10. Oktober 2019].
[3] So eine bedenkenswerte These des Warschauer Soziologen Przemysław Sadura. Siehe Agata Szczęśniak: Socjolog Sadura: Wiesz, dlaczego nawet elektorat PiS nie chce, żeby mieli większość konstytucyjną? OKO.press, 28.9.2019, [zuletzt abegrufen am 10. Oktober 2019].