Der Virologe Christian Drosten – sonst ganz die Ruhe selbst – schien verärgert. Nach seinem wochentäglichen Podcast im NDR, in dem der Wissenschaftler der Berliner Charité die verunsicherte Republik beratend und aufklärend durch die Zeit der Corona-Pandemie führt, war er in Medien mit einem Appell für Schulschließungen zitiert worden. Tatsächlich hatte Drosten lediglich auf eine entsprechende Praxis zur Zeit der Spanischen Grippe (1918-1920) verwiesen. Der Virologe wusste um die markante und nicht ganz ungefährliche Differenz zur Gegenwart: Denn während sich heute aus einer solchen Maßnahme umgehend ein drängendes Betreuungsproblem für den Nachwuchs des „systemrelevanten“ Berufsstandes der Krankenpflegenden ergibt, stellte sich diese Frage vor rund 100 Jahren schlicht nicht: Denn bei den Krankenschwestern handelte es sich damals ganz überwiegend um Ordensschwestern.[1]
Bei der Klasse junger Auszubildender, die der französische Regisseur Nicolas Philibert in seiner Dokumentation „Zu jeder Zeit“ insgesamt drei Jahre lang beim Erlernen eines Pflegeberufs begleitete, scheint hingegen nur noch der Name ihres Lernkrankenhauses „La Croix Saint-Simon“ in Montreuil auf einen religiösen Kontext zu verweisen. Die jungen, diversen und sehr lebenslustigen Schüler*innen werden beim Durchlaufen von drei Stationen festgehalten: Theorie und Simulation von Arbeitssituationen, die ersten Bewährungsproben bei der praktischen Versorgung von Patienten*innen, schließlich die Reflektion der Erfahrungen des Praktikums im Gespräch mit Supervisorinnen.
Die Tätigkeit des Pflegepersonals ist im besten Sinne ein Dienst an der breiten Öffentlichkeit, denn es gilt auch für Frankreich, was der Historiker Winfried Süß für die Bundesrepublik Deutschland konstatierte: Für die meisten Einwohner*innen „beginnt das Leben in einer Krankenanstalt, und für beinahe die Hälfte von ihnen endet es auch dort.“[2] Philiberts Blick hält nun in unaufdringlicher Weise – ohne Kommentar oder Musik – nicht nur das hohe Tempo und die Intensität des Arbeitseinsatzes fest. Vielmehr umschließt der Titel des Films „Zu jeder Zeit“ hier noch eine weitere Bedeutungsebene: Es wird deutlich, wie sehr sich die hingebungsvolle und facettenreiche Arbeit der Pflegeschüler*innen auf die gesamte Spanne des menschlichen Daseins erstreckt. So kann es eine Schülerin kaum erwarten, neues Leben auf der „Mutter und Kind-Station“ der Klinik zu umsorgen. Ein junger Pfleger hingegen begegnet bei der Betreuung eines moribunden Krebskranken „zum ersten Mal dem Tod“, was er jedoch als „eine der bereicherndsten Erfahrungen“ der Ausbildung wertet. „Wir sprachen über vieles, ich konnte mich von ihm verabschieden, weil ich in den letzten Augenblicken bei diesem Mann war. Er verstarb friedlich, er hatte genug.“
Der Beginn des Films schildert die quirlige Anfängerschar beim Eintrainieren von Standardsituationen und Arbeitstechniken. Was mit der Überschrift des ersten Film-Kapitels „Das Flüchtige festhalten“ gemeint ist, zeigt die Eingangssequenz, die aus minutenlangem Händewaschen „in sieben Schritten“ besteht – diese tägliche Verrichtung wird hier zur präzisen, verantwortungsschweren Routine, die mühsam neu erlernt werden muss, um als professionell gelten zu dürfen. Doch in dieser ersten Phase werden die Schüler*innen auch auf eine ganz andere, ebenso wichtige Seite ihrer Tätigkeit eingestimmt: die Kommunikation mit den Patient*innen und ihren Angehörigen. Ein Schüler mimt in einem Rollenspiel zum Amüsement der Gruppe einen werdenden Vater, der aufgeregt Amok läuft und beruhigt werden muss. Während dieser ersten Übungen atmen alle noch den Zauber des Anfangs, der unbefangenen Neugier und Wissbegierde der Berufsneulinge. Doch im theoretischen Frontalunterricht, den die Gruppe anschließend durchläuft, erfolgt unerwartet der erste harte Aufprall. Die Lehrerin warnt hier offen und eindringlich vor Situationen drohender Korruption – etwa durch Pharmahersteller, ein bestimmtes Präparat einzusetzen – oder der gefährlichen Forderung künftiger Arbeitgeber, für einen „Bonus“ mehr Patienten parallel zu betreuen, als zulässig und verantwortbar ist. Und in sehr direkten Worten mahnt sie, die Untiefen der Palliativmedizin nicht zu unterschätzen: „Sie müssen sich selbst schützen, wenn ein Arzt Ihnen etwas aufträgt. Zum Beispiel Sterbehilfe zu leisten, zu der Sie kein Recht haben. Es kann passieren, dass Pfleger die ‚Drecksarbeit‘ machen sollen. Die Ärzte verschreiben es, Sie tun es.“
Die Anfälligkeit des Gesundheitssystems für Korruption, politisch bedingte Dysfunktionalität oder sogar Missbrauch ist nicht allein ein aktuelles, sondern auch ein historisches Phänomen, dem sich auch die Forschung in jüngster Zeit intensiv gewidmet hat. Hierbei stehen vor allem Privilegierung oder Benachteiligung von Patientengruppen im Vordergrund.[3] Auch der gesellschaftliche „Wert der Pflege“[4] gerät zunehmend in den Blick, wenngleich dieses Feld, wie die Medizinhistorikerin Prof. Dr. Karin Nolte unlängst betonte, bislang kaum systematisch aufgearbeitet wurde.[5] In eher affirmativer Weise wird hingegen aus verschiedenen Fachrichtungen die Internationalisierung der Humanmedizin als ein „Kind der Globalisierung“[6] betrachtet und das entsprechende Potential für deutsche Krankenhäuser ausgelotet.[7] Die deutlichen Differenzen nationaler Gesundheitssysteme – hinsichtlich Qualität, Regularien und Wartezeiten – wirken seit Jahren als eine „Inspirationsquelle für Patientenbewegungen zwischen den Ländern, die Europa zu einem der weltweit größten potentiellen Märkte für Medizintourismus machen.“[8] Deutschland ist hierbei, mit allein 250.000 ausländischen Patient*innen im Jahr 2014, längst zu einer der global führenden Destinationen des Medizintourismus aufgestiegen. Das Einwerben einer besonders zahlungskräftigen Klientel, etwa aus Russland, hat im Rahmen sogenannter „Patientenvermittler“ bereits solche Blüten getrieben, dass 2016 eigens ein „Gesetz zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen“ im deutschen Strafrecht verankert wurde.[9] Doch ist das Werben um eine globale Elite, die nach kostenintensiver Behandlung verlangt, nur die eine Seite der Internationalisierung medizinischer Dienstleistungen. Zugleich stellt sich in Deutschland wie in Frankreich und zahlreichen anderen Staaten Europas die Herausforderung, die verstärkten Flüchtlingsströme medizinisch aufzufangen und zu betreuen.
Genau an dieser Stelle gewinnt nun wieder der „Wert der Pflege“ hohe Relevanz – ist doch die Fähigkeit zur empathischen Patientenkommunikation ein Schlüsselfaktor im Krankenhausalltag. Doch hinken sprachliche und interkulturelle Kompetenzen häufig hoffnungslos hinter der multikulturellen Realität des Klinikalltags hinterher.[10] Und so ist es kein Wunder, dass gerade auf diesem Feld auch die von Nicolas Philibert beobachtete Pflegeklasse von Montreuil ihre einschneidendsten Erlebnisse erfährt: wenn etwa eine Schwesternschülerin aufgrund ihrer Arabischkenntnisse wiederholt erfolgreich zur Verständigung zwischen Kranken und Arzt beitragen kann und der Supervisorin stolz davon berichtet: „Ich war Pflegerin und Dolmetscherin, es war dasselbe“. Aber eben auch, wenn eine andere einen HIV-Test bei einer Patientin vornehmen muss, die sich als Bootsflüchtling für Essen prostituierte – eine Episode, von der die Schwesternschülerin im auswertenden Gespräch ihres Praktikums nur unter Tränen berichten kann.
Dass einige der Schüler*innen selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammen und täglich ganz nebenbei um ihre Existenz kämpfen, wird aus Randbemerkungen deutlich: So freut sich eine Auszubildende auf die Zeit, wenn sie „nur noch“ Pflegerin ist und nicht zugleich nachts in einer Gärtnerei jobben muss. Eine andere verzweifelt mitten in der Prüfungsvorbereitung, da bei ihr eingebrochen wurde und die Versicherung sich weigert, ihr zerbrochenes Fenster zu ersetzen.
Die Schüler*innen von Montreuil, das ist die Botschaft von Nicolas Philibert, sind nicht nur mit vielfältigen medizinischen Aufgaben betraut, sie werden auch mit sämtlichen Problemen und Verwerfungen der Gesellschaft konfrontiert. Und so sind die akribisch gewaschenen Hände des Filmbeginns nicht nur Signal einer professionellen Achtsamkeit und Gründlichkeit. In einer christlichen Bildsprache symbolisieren sie ebenso die Reinheit der Gesinnung, die den Schüler*innen abverlangt wird: So muss die Klasse von Montreuil versprechen, sie werde künftig „alle Menschen versorgen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihren Sitten, ihrem sozialen oder familiären Status, ihrem Glauben, ihrer Religion, ihrer Behinderung, ihrem Gesundheitszustand, ihrem Alter, ihrem Geschlecht, ihrem Ruf oder ihrem Sozialversicherungs-Status.“ Diese moralische Verantwortung für Leib und Seele der ihnen Anvertrauten ist angesichts der nationalen und globalen Zumutungen des Gesundheitswesens sicherlich eine schwere Bürde. Für die einzelnen Patient*innen sind die Krankenpflegenden jedoch ein lebenswichtiger Anker des Vertrauens und der Hoffnung: Das waren die Ordensschwestern im Verlauf der Spanischen Grippe 1920 ebenso wie ihre weltlichen Nachfolger*innen im Montreuil, Bergamo und Berlin des Jahres 2020.
Die Dokumentation „Zu jeder Zeit“ kann man auf YouTube für 4,99€ ausleihen.
[1] NDR Info. Das Coronavirus-Update mit Christian Drosten, Folge 13, 13.03.2020, abrufbar in der ARD-Mediathek bis 13.3.2021 (zuletzt: 30.3.2020).
[2] Winfried Süß, Gesundheitspolitik, in: Hans Günter Hockerts (Hg.): Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, S. 55-100, hier S. 55.
[3] Hierbei bilden vor allem die Verbrechen der NS-Medizin einen Schwerpunkt. Vgl. Robert Jütte in Verbindung mit Wolfgang U. Eckart/Hans-Walter Schmuhl/Winfried Süß: Medizin im Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Göttingen 2011. Demnächst erscheint eine Monografie der Autorin über „politische Medizin“ im Realsozialismus am Beispiel des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR.
[4] Nicole Kramer: Der Wert der Pflege. Der Reiz der Ökonomisierung und der Wohlfahrtsmarkt der Möglichkeiten, in: Rüdiger Graf (Hg.): Ökonomisierung. Debatten und Praktiken in der Zeitgeschichte. Göttingen 2019, S. 383-412.
[5] „Geschichte der Krankenpflege wurde bisher wenig aufgearbeitet.“ In: Klinikticker.de vom 30.8.2018. (zuletzt 30.3.2020)
[6] Frank-Michael Kirsch: Warum Medizintourismus? in: Ders./Jens Juszczak (Hg.): Medizintourismus. Erfahrungen mit einer weltweiten Wachstumsbranche, Paderborn 2017, S. 7-35, hier S. 25.
[7] Jens Juszczak: Internationale Märkte – Potenziale für deutsche Krankenhäuser, in: J.F. Debatin, A. Ekkernkamp, B. Schulte, A. Tecklenburg (Hg.): Krankenhausmanagement. Strategien, Konzepte, Methoden. Berlin 2013, S. 151-157.
[8] Kirsch, Medizintourismus, S. 15.
[9] Das am 30.5.2016 verabschiedete Gesetz stellt u.a. die Zuweisung von Patienten gegen Entgelt unter Strafe. Jens Juszczak: Russische Patienten in deutschen Kliniken: Erfahrungen und Herausforderungen, in: Kirsch/Ders., Medizintourismus, S. 36-70, hier S. 62.
[10] Verena Dreißig: Interkulturelle Kommunikation im Krankenhaus. Eine Studie zur Interaktion zwischen Klinikpersonal und Patienten mit Migrationshintergrund. Bielefeld 2005.