von Elisabeth Kimmerle

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18. Juni 2020

„What did Kavala do?“ Diese Frage werfen die Intendantin des Berliner Maxim-Gorki-Theaters, Shermin Langhoff, und der Regisseur Fatih Akın mit der Initiative „Artists United for Osman Kavala“ in ihrer Solidaritätskampagne für die Freilassung des türkischen Kulturstifters auf. Seit mittlerweile fast 1.000 Tagen ist Kavala im türkischen Hochsicherheitsgefängnis Silivri inhaftiert, ohne dass es belastbare Beweise für die ungeheuerlichen Anschuldigungen gäbe. Ihm wurde zuerst ein Umsturzversuch im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten zur Last gelegt, dann Beteiligung am Putschversuch im Juli 2016.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte im Dezember 2019, dass die Inhaftierung von Kavala politisch motiviert sei, und forderte seine sofortige Freilassung. Ein Gericht in der Türkei sprach ihn und acht weitere Angeklagte im Februar im Gezi-Prozess frei. Noch am gleichen Abend wurde er erneut festgenommen, diesmal mit dem Vorwurf, Spionage im Zusammenhang mit dem Putschversuch 2016 betrieben zu haben. Derweil wurden gegen die Richter, die Kavala und seine Mitangeklagten freigesprochen hatten, Ermittlungen eingeleitet.

Osman Kavala ist einer der bekanntesten zivilgesellschaftlichen Akteur*innen in der Türkei. Sein Fall ist zum Symbol für die Willkür der türkischen Justiz und die Repression der Gesellschaft durch die AKP-Regierung seit dem Putschversuch im Juli 2016 geworden. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan attackierte Kavala wiederholt persönlich und machte ihn so zur Zielscheibe seiner politischen Kampagne.
Was also hat Osman Kavala getan? Diese so einfache wie schwer zu beantwortende Frage durchbricht den Gewöhnungseffekt, der angesichts der Massenverhaftungen in der Türkei längst eingesetzt hat. In den sozialen Medien veröffentlicht die Initiative „Artists United for Osman Kavala“ jeden Tag ein kurzes Video, in dem Freund*innen, Künstler*innen, Journalist*innen und Intellektuelle von Kavalas Arbeit erzählen.

Neben Shermin Langhoff und Fatih Akın sprechen die Künstlerin Banu Cennetoğlu, der Musiker Zülfü Livaneli, der Akademiker Ahmet İnsel, der Regisseur Atom Egoyan und viele andere über die Kulturprojekte und Räume, die Osman Kavala förderte und schuf: vom İletişim Verlag über die Anadolu Kültür-Stiftung zu den Kunstzentren Diyarbakır Sanat Merkezi und Depo. Sie erzählen aber auch von ihren persönlichen Begegnungen mit Osman Kavala.

 

 

Ein Gegennarrativ zur Erzählung der türkischen Regierung

Aus den vielen Stimmen entsteht das Porträt eines kulturellen Brückenbauers, eines zivilgesellschaftlichen Akteurs, der sich für Minderheiten und Gerechtigkeit einsetzt und Menschen zusammenbringt anstatt zu polarisieren. Damit verkörpert Kavala all das, wofür Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nicht steht. „What did Kavala do?“ ist ein Gegennarrativ zu jenem der türkischen Regierung, der zufolge der Bürgerrechtler und Kulturförderer die Gezi-Proteste organisiert und versucht hat, die Regierung zu stürzen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Osman Kavala ausgerechnet Umsturzversuch im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten 2013 und dem Putschversuch 2016 zur Last gelegt wird – zwei traumatische politische Ereignisse für Erdoğan in seiner Regierungszeit. Beide Ereignisse markieren zugleich Wendepunkte hin zu einer verschärften polarisierenden Rhetorik der Regierung und der Spaltung der Gesellschaft als Strategie des Machterhalts Erdogans. 

Die Gezi-Proteste waren die größte Protestbewegung in der AKP-Ära. Sie entflammten spontan, wurden von breiten Teilen der türkischen Gesellschaft getragen und richteten sich gegen den zunehmenden Autoritarismus der Regierung Erdoğan. Auslöser war die von der Regierung geplante Abholzung des Gezi-Parks im Zentrum Istanbuls der einem Einkaufszentrum weichen sollte. Im Mai 2013 besetzte eine Gruppe von Umweltaktivist*innen den Gezi-Park, um den Abriss zu verhindern. Als die Polizei mit massiver Gewalt ein Protestcamp räumte, weiteten sich die Demonstrationen zu landesweiten Protesten gegen den repressiven Kurs der AKP-Regierung aus.

Die Räumung des Gezi-Parks war der Funke, in dem sich die angestaute Wut auf die autoritäre Regierung Recep Tayyip Erdoğan entlud und übersprang. An den kreativen, humorvollen Protesten nahmen viele junge Menschen teil, die noch nie demonstriert hatten. Die Regierung schlug die Proteste mit brutaler Polizeigewalt nieder.

Erdoğan, damals noch Ministerpräsident, weigerte sich, auf die Demonstrierenden einzugehen, und diffamierte sie stattdessen zunächst als marjinal gruplar (Randgruppen) und çapulcu (Plünderer), die sich durch Terroristen manipulieren ließen.[1] Damit fachte er die Proteste weiter an. Als landesweit immer mehr Menschen auf die Straßen gingen, drohte er: „Mindestens 50 Prozent dieses Landes halten wir gerade mit Mühe in ihren Wohnungen.“[2] Die Unterstützung der „50 Prozent“, die bei der Parlamentswahl 2011 die AKP gewählt hatten, diente Erdogan immer wieder als Legitimation für seinen autoritären Regierungsstil.

 

Polarisierung als strategisches Mittel zum Machterhalt

Der Politikwissenschaftler Tanıl Bora untersucht den politischen Diskurs der Neuen Türkei. Er weist darauf hin, dass die Polarisierungsstrategie Erdoğans auf der „Verteidigung des Volkswillens“ aufbaut.[3] Das erlaube ihm, die Gezi-Proteste zu kriminalisieren und als undemokratischen Versuch extremer Randgruppen, eine gewählte Regierung zu stürzen, einzustufen. Die Forderungen jener knapp 50 Prozent, die nicht die AKP gewählt haben, werden hingegen als marginal bezeichnet und nicht berücksichtigt.

Im Juni 2013 veröffentlichten 100 Künstler*innen, Journalist*innen und Schriftsteller*innen eine ganzseitige Anzeige in mehreren Zeitungen, in denen sie sich gegen die „Ihr-gegen-uns-Rhetorik“ der Regierung aussprachen, die die Polarisierung innerhalb der Gesellschaft verschärfe.[4] Es war nicht das erste Mal, dass Erdoğan Spaltung als strategisches Mittel zum Machterhalt nutzte. Doch seit dem Gezi-Aufstand tauchte das Narrativ des Wir und die Anderen immer häufiger in seinen Reden auf.
Insbesondere nach dem Putschversuch im Juli 2016 verschärfte sich der Diskurs hinsichtlich der Ausgrenzung politisch Andersdenkender. Erdoğan vermutete überall innere und äußere Feinde und weitete den Terrorbegriff derart aus, dass alle, die anders dachten als er, des Terrorismus verdächtig wurden. Die Gefängnisse füllten sich mit politischen Gefangenen, denen Terrorpropaganda oder Terrorunterstützung zur Last gelegt wurde: kritische Journalist*innen, gewählte Oppositionspolitiker*innen, zivilgesellschaftliche Akteur*innen.

Der Raum des legitimen Sprechens und Denkens außerhalb der Regierungslinie wird zunehmend kleiner. In diesem Klima der tiefen Spaltung steht Osman Kavala für das Verbindende über kulturelle und gesellschaftliche Brüche hinweg. Damit ist er per se verdächtig. Vor diesem Hintergrund spielt es keine Rolle, aufgrund welcher fadenscheiniger Vorwürfe Osman Kavala inhaftiert ist – unter Anklage steht er, weil er eine Symbolfigur für die andere, offene Türkei ist.

 


[1] vgl. Bora Tanıl, Türkiye’nin Linç Rejimi, İletişim Yayınları, Istanbul 2016, S. 69f.

[2] Çetin. Ümit, Başbakan: Yüzde 50’yi evinde zor tutuyorum, Hürriyet, Istanbul, 04.06.2013.

[3] vgl. Bora, Tanıl, Cereyanlar. Türkiye’de Siyasi İdeolojiler, İletişim Yayınları, Istanbul 2017, S. 502.

[4] T24, 100 aydından ilan: Kaygılıyız, Istanbul, 29.06.2013.