Magdeburg, 18. September 1985: Das neue Schuljahr in der DDR ist zwei Wochen alt, als eine junge Lehrerin für die Vertretungsstunde in der 9. Klasse eingeteilt wird. Ihren Englischunterricht kann sie nicht fortsetzen und so gibt sie den Schüler:innen spontan eine andere Aufgabe: „Schreibt doch mal auf, wie ihr euch das Leben im Jahr 2010 vorstellt!“ Im Gegensatz zum regulären Unterricht macht sie den Jugendlichen keinerlei Vorgaben, was der Text beinhalten soll, und wartet gespannt auf die Ergebnisse. Als sie die Aufsätze am Abend liest, überraschen die Zukunftsträume der Jugendlichen sie völlig. Die Schüler:innen träumen von offenen Grenzen, von schnellen Autos und dem Besitz eines Eigenheims. „Wenn das deine Parteisekretärin findet, dann ist deine Karriere ja ganz schnell vorbei!“[1], befürchtet sie und beschließt daher, die 23 Texte für sich zu behalten.
Über 30 Jahre später blicken wir nicht nur auf das Jahr 2010, sondern auch auf die untergegangene DDR zurück. Als Historiker:innen und insbesondere als Public Historians teilen wir dabei die Annahme, dass Vergangenheit Sinn stiftet und Orientierung bietet. So suchen Menschen nicht selten, Erklärungen für das Handeln historischer Akteur:innen in ihren jeweiligen Beziehungen zur Vergangenheit. Gerade für die Geschichte der DDR, die laut Martin Sabrow durch „[d]as Versprechen eines besseren Morgen und die Gewißheit, den Fortschritt zum Bundesgenossen zu haben“ bestimmt war, ist diese Perspektive jedoch unzureichend.[2] Die Aufsätze der Schüler:innen mögen zwar von nie eingetretenen Zukünften berichten, ihre Hoffnungen, Träume und Ziele bilden jedoch ein einzigartiges und von darauffolgenden Ereignissen unberührtes Panorama der jugendlichen Vorstellungswelt sowie der unsichtbaren Sinnstrukturen in der letzten Dekade des Realsozialismus.
...und der Zukunft zugewandt
Die Erwartung einer besseren Zukunft bildete das Fundament der „neuen“ Gesellschaft, die im ostdeutschen Teilstaat nach Kriegsende aufgebaut werden sollte. Mithilfe strikter Planung zielte die DDR-Führung darauf ab, sich den Fortschritt zu eigen zu machen und das sozialistische Zukunftsversprechen selbst einzulösen. Der staatliche Versuch, die Kontingenz „gegenwärtiger Zukünfte“ auf eine einzige „künftige Gegenwart“[3] zu reduzieren, prägte weniger konkrete Vorstellungen von Zukunft als den Umgang mit ihr – eine spezifische Form der Zukunftsaneignung[4] wurde geschaffen. Charakteristisch für den staatlichen Umgang mit dem Thema Zukunft war dabei zum einen die Gewissheit mit der die Zukunft nicht als träumerische Utopie, sondern als „werdende Realität“ verhandelt wurde.[5] Zugleich strebte das Zeitregime der DDR an, die jeweils individuelle Lebensplanung im gesamtgesellschaftlichen Plan aufgehen zu lassen. Im Fokus der parteipolitischen Bemühungen standen vor allem junge Menschen. Ihre Wünsche und ihr Wirken auf den Sozialismus auszurichten, war Teil des sozialistischen Aufbaus und zugleich praktischer Ausdruck der DDR-Herrschaftspraxis.[6]
Mit Blick auf die Schulaufsätze der 9.-Klässler:innen stellt sich unweigerlich die Frage, welche Wirkung die staatssozialistische Zukunftsaneignung auf die Träume und Wünsche der Jugendlichen in den 80er Jahren hatte. Ganz im Gegensatz zum ideologischen „Auftrag“ der jungen Generation, standen selbstbestimmte Bemühungen um die eigene Zukunft im realsozialistischen Alltag unter strengster Beobachtung. Wie viel Zukunft konnten Jugendliche sich trotz der allgegenwärtigen Stagnation ausmalen?
Kinder, Ehe, Auto
„Ich stelle mir mein Leben so vor, daß ich später einmal 2 Kinder haben werde und glücklich verheiratet bin[,] vielleicht werde [ich] ein Auto haben und ein eigenes Haus auf dem Lande.“[7] Nicht nur eine der Schülerinnen malt sich so ihre Zukunft aus. Bis auf eine Ausnahme stellen sich alle Mädchen der Klasse ihren Lebensweg auf diese Weise vor. Dieser Lebensentwurf mag angesichts heutiger Vorstellungen von der Emanzipation der Frauen in der DDR überraschen, er wird von den jungen Mädchen jedoch ganz eindeutig als Ideal eines glücklichen Lebens begriffen. Trotzdem die Schülerinnen sich in klassischer Rollenverteilung sehen – „Und wenn dann am Abend der Papa nach Hause kommt und die Beine lang macht und sich ausruht[,] dann weiß ich[,] er ist zufrieden.“ – steht die eigene Berufstätigkeit für sie außer Frage. Knapp zwei Jahre vor dem Abschluss der 10. Klasse können sie sich ihre Erwerbsbiografie schon recht konkret vorstellen und sehen sich als „Verkäuferin“, „Sekretärin“ oder „Schneiderin“, während die Jungen in der Klasse davon träumen, Raumschiff-Kommandanten oder „unsterblich“ zu werden. Zum Komplettpaket eines glücklichen Lebens gehören für die Mädchen aber nicht nur Kinder und Ehe, auch ein Haus und ein (vielleicht sogar westliches?) Auto, mit dem der Partner sie von der Arbeit abholt, stehen auf ihrer Wunschliste. Sie fügen sich damit in das Leben, das die realsozialistische Gesellschaft für sie bereithält, hegen aber dennoch Träume, die an den Grenzen der DDR kratzen.
Frieden, (Reise-)Freiheit, Sozialismus?
Die kleinbürgerliche Lebensplanung der Schüler:innen ist nicht zu verwechseln mit politischem Desinteresse. Wie Jugendliche in aller Welt beschäftigen auch die DDR-Teenager die großen Fragen der Weltpolitik. Trotz düsterer Szenarien vom „3. Weltkrieg“ und dem „Untergang der Erde“ hoffen die Schüler:innen mehrheitlich auf eine friedliche Lösung des Kalten Krieges:
„Weiterhin müste das Wettrüsten zwischen den Großmächten beendigt sein. Die Atomkraft und Kernkraft zu guten für die Menschheit wichtigen Verfahren genuzt werden und jedes Land müste sich mit allen Ländern der Erde gut verstehen.“
Zwar sind sie sich einig in ihrer pazifistischen Haltung, können sich die Auflösung des globalen Konfliktes aber nicht wirklich vorstellen. Die Menschen müssten „endlich zur Vernumpf“ kommen oder „die Kapitalisten“ alle tot sein, schlagen einige Schüler:innen vor. Mit diesen Ideen bleiben sie nicht nur sehr vage, sie schätzen auch die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten als gering ein. Die gesellschaftliche Zukunft liegt für sie außerhalb der eigenen Handlungsmöglichkeiten.
Bemerkenswert ist, dass niemand in der Klasse Zweifel daran hegt, dass mit dem Frieden auch die Reisefreiheit für DDR-Bürger:innen kommen wird. In der Erinnerung der Lehrerin waren es gerade diese Wünsche nach Urlaub in New York, Paris oder Tokyo, die sie dazu veranlassten, die Texte zu verstecken. Offenbar scheint der Wunsch, dass im Jahr 2010 „auch ein DDR-Bürger in jedes Land reisen“ kann, für die 15-jährigen nicht jenen Tabubruch darzustellen, den wir aus heutiger Perspektive im Wissen um den engen Zusammenhang von Grenzöffnung und Ende der DDR annehmen. Die Schüler:innen stellen nicht den Fortbestand der DDR in Frage, sondern begreifen offene Grenzen als Teil der sozialistischen Ideale. „Wenn die Welt in Frieden und Freundschaft lebt. Dann kann man nach Ulu Lulu[,] Paris[,] Amerika und so weiter.“, stellt eine Schülerin fest.
Weltall, Erde, Mensch
Obwohl die Jugendlichen in einem Staat leben, in dem sie rund 13 Jahre auf ein Auto warten müssen, haben sie erstaunliche Erwartungen an den technischen Fortschritt. Fliegende Autos, Superschnellzüge und Urlaub im Weltraum – all das meinen die Schüler:innen in 25 Jahren verwirklicht zu sehen. Auch Computer üben, trotz ihrer geringen Verbreitung[8], eine große Faszination auf die Schüler:innen aus. Egal ob als Spielgerät, Haushaltshilfe oder „im Betrieb“, die Schüler:innen malen sich verschiedene Einsatzbereiche für die neue Technologie aus, nur als Kommunikationsmittel können sie es sich nicht vorstellen. Der Realität zum Trotz wird die Entwicklung und Nutzung neuer Technologien in den Aufsätzen sehr deutlich mit Fortschritt und Veränderung gleichgesetzt. „Schnellere“ Transportmittel, „hochqualifiziertere Maschinen“ und „ferngesteuerte Computer“ werden von den Jugendlichen angeführt, als wollten sie eindeutig darauf hinweisen, dass es sich bei ihren Aufsätzen um eine Schilderung der Zukunft handelt.
In gewisser Weise übernehmen sie damit den Modus, mit dem die krisengeschwächte SED-Herrschaft sich in den 1980er Jahren die Zukunft zu eigen machen versuchte. Wie die SED-Führung machen auch die Schüler:innen Fortschritt an technisch-wissenschaftlichen Errungenschaften fest, nicht an der Verwirklichung sozialistischer Werte. Der Widerspruch zwischen allgegenwärtiger Fortschrittsbehauptung und gesellschaftlichem Stillstand wird besonders in den Überlegungen einer Schülerin deutlich: Dass in 25 Jahren fliegende Autos die nachmittägliche Einkaufstour ermöglichen, ändert für sie nichts daran, dass ihr Mann am Steuer sitzt.
Die Zukunft der DDR?
Ängste und Hoffnungen, Träume und Sorgen sind in den Zukunftsvorstellungen der Jugendlichen miteinander vereint. Die Schüler:innen haben gelernt, dass eine gute und gerechte Gesellschaft allein im Sozialismus möglich sei, große Veränderungen können sie in ihrer Lebenswelt des Realsozialismus jedoch nicht wahrnehmen. Ihnen wurde vermittelt, dass den Westen die Schuld für Krieg und Aufrüstung trifft, gleichzeitig lässt der Kapitalismus eine Warenwelt entstehen, die ein gutes Leben verspricht. Die erodierten Sinnstrukturen der DDR sind nicht mehr in der Lage, diese Widersprüche glaubhaft aufzufangen. So ist es nicht allein das Nebeneinander von ideologischem Anspruch und realsozialistischem Alltag ‒ zwischen Utopie und Realität ‒, die das Verhältnis der Jugendlichen zu ihrer Zukunft ausmachen, sondern es sind diese Widersprüche selbst, die den spezifischen DDR-Zukunftsbezug prägen. Im Jahr 1985 fügen die Jugendlichen sich noch mit gewissem Optimismus in die für sie bestimmte Zukunft im System der DDR ein, sind jedoch für dessen Erhalt oder gar Verbesserung nicht mehr mobilisierbar.
[1] Michael Schlieben u. Valerie Schönian, Podcast: Wie war das im Osten? Folge 1: „Klar, ich war Repräsentantin des Systems“ – Lehrerin in der DDR, Berlin 2019, 1:34:26–1:34:42.
[2] Martin Sabrow, Die DDR-Historie im Rückblick, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 4, 2005, S. 14-25, hier S. 14.
[3] Niklas Luhmann, Die Beschreibung der Zukunft, in: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 129-147, hier S. 140.
[4] Rüdiger Graf u. Benjamin Herzog, Von der Geschichte der Zukunftsvorstellungen zur Geschichte ihrer Generierung. Probleme und Herausforderungen des Zukunftsbezugs im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 42, Nr. 3, 2016, 497-415.
[5] Martin Sabrow, Chronos als Fortschrittsheld. Zeitvorstellungen und Zeitverständnis im kommunistischen Zukunftsdiskurs, in: Igor Polianski u. Matthias Schwartz (Hg.), Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter, Frankfurt/Main 2009, S. 119-134, hier S. 123.
[6] Siehe hierzu: Juliane Brauer, Zeitgefühle. Wie die DDR ihre Zukunft besang. Eine Emotionsgeschichte, Bielefeld 2020.
[7] Die 23 Aufsätze der Schüler:innen wurden der Autorin von der Lehrerin zur Verfügung gestellt. Acht von ihnen sind darüber hinaus Teil des Bestands der Stiftung Haus der Geschichte, Berlin. Die Rechtschreibung der Aufsätze wurde nicht verändert.
[8] Vergl. Julia Gül Erdogan, Avantgarde der Computernutzung. Hackerkulturen der Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2021, S. 76; Jens Schröder, Auferstanden aus Platinen. Die Kulturgeschichte der Computer- und Videospiele unter besonderer Berücksichtigung der ehemaligen DDR, Stuttgart 2010, S. 88.