Unter dem Motto „Who cares?“ fand vom 27. bis 29. Mai die Konferenz re:publica für die digitale Gesellschaft in Berlin statt.
Diese 17. Ausgabe der re:publica des Jahres 2024 erzielte einen, erwartbaren, Publikumsrekord. An den drei Tagen im Mai strömten nahezu 30.000 Besucher*innen in die Hallen der Station Berlin in Kreuzberg , es sprachen über 1000 Speaker*innen auf den Podien zu, so gut wie allen relevanten, gesellschaftspolitischen Themen wie Cyberkriminalität, Inklusion, Rechtsextremismus, Misogynie im Netz, Bildungs- und Gesundheitspolitik, Kommunikation, Antisemitismus, die Zukunft des Sozialstaates, Streamingdienste... die Aufzählung ließe sich erweitern.
Zahlreiche prominente Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Journalismus nahmen an dem Festival teil. So gehörten etwa die Politiker*innen Anna Lena Baerbock, Karl Lauterbach, Lisa Paus, Hubertus Heil und Robert Habeck zu den Gästen dieser Konferenz. Hinzu kamen aber auch sehr junge Speaker*innen aus dem Blogger- und Social-Media-Bereich wie Parshad und Gesina Demes. Diese „Verjüngung“ der re:publica ist vor allem der Jugendkonferenz Tincon zu verdanken, die zeitgleich stattfand und die insgesamt 4000 etwa 13 bis 25jährige Besucher*innen anzog. Dadurch war das Publikum sehr jung. Der Eintritt für die 13- bis 25-Jährigen war zudem kostenlos. Schließlich sind die hohen Eintrittspreise für diejenigen, die keinen Zuschuss für den Festivalbesuch von ihren Arbeitgeber*innen bekommen, kaum zu bezahlen.
Zur Selbstbeschreibung der Veranstalter*innen gehört die Absicht „...einen Querschnitt unserer (digitalen) Gesellschaft“[1] abzubilden. Auffallend war dennoch, dass es sich, wie auch im letzten Jahr, um ein überwiegend weißes Publikum, mit akademischen Hintergrund handelte (uns selbst eingeschlossen).
Spiegelt das die digitale Gesellschaft?
Wen kümmert was und wie werden gesellschaftlich relevante Themen verhandelt?
Zur digitalen Realität gehören rechte, antifeministische, rassistische und antisemitische Stimmen, die besonders laut sind und sich auf verschiedenen Plattformen sehr gut vernetzen. Bei dem Panel zu digitaler Gewalt gegen Frauen von Sonja Peteranderl, Asha Hedayati, Chris Köver und Sina Laubenstein wurde deutlich, wie gefährlich zum Beispiel Tracking-Apps sein können und dass gesetzliche Grundlagen, die diese Form der Gewalt ahnden und verhindern können, noch immer fehlen.
Der Aktivist Raul Krauthausen kritisierte die ableistischen Strukturen unserer Gesellschaft und forderte ein Mitdenken von Perspektiven von Menschen mit Behinderungen.
Das die meisten von uns zu wenig schlafen, dass es vor allem aber einen Gender-sleep-gap gibt, der vor dem Hintergrund der ungleich verteilten Care-Arbeit zu Lasten von Frauen geht, hat sich bereits herumgesprochen. Dass Großkatastrophen wie etwa Tschernobyl und Tankerunglücke ebenfalls aufgrund des Schlafmangels der Verantwortlichen rekonstruiert werden können, thematisierte Susanne Mierau in ihrem Panel zum Thema „Schlaf“.
Es gibt derzeit irritierenderweise nur wenig Überlegungen zur Entwicklung und Zukunft des Sozialstaates, das haben nicht zuletzt die Parteiprogramme der letzten Jahre gezeigt. Innovativ scheinen der politischen Klasse einzig die Diskurse zu Kürzungen der Sozialausgaben. Wenn es überhaupt ein Nachdenken zum Thema Sozialstaat gibt, reicht dies nicht über die jeweilige Legislaturperiode hinaus. Gleichzeitig gibt es jedoch auf lokaler Ebene immer wieder und offenbar weitgehend unbeachtet, sehr innovative Konzepte eines gerechteren und zielführenden Handelns, wie das Beispiel der Arbeit der Arbeiterwohlfahrt in Mönchen-Gladbach zeigte. Die AWO zeigt hier nicht nur wie Hierarchieabbau möglich ist, sondern auch, wie kompetenzbasierte Arbeit die gegenwärtige Projektinflation ablösen kann. Der Zwang zur ständigen Wiederholung und Erneuerung von Projekten ist anstrengend und unsinnig, denn die Bedarfe verschwinden ja nicht.[2] Davon können auch Wissenschaftler*innen ein Lied singen.
Das Tincon-Format eignete sich hervorragend zur Aufnahme einer ganz gegenwärtiger Diskussion über die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Hier wurde von den sehr jungen Speaker*innen kritisiert, dass immer wieder die diffuse Forderung auftaucht, junge Menschen müssten der Gesellschaft etwas zurückgeben. Das Für und Wider der Wehrpflicht wurde kontrovers diskutiert, wobei das Publikum sehr dicht dran war an der Debatte. Viel Applaus gab es vor allem aus den Reihen derjenigen, die ein allgemeine Wehrpflicht ablehnten.
Die Vorträge der Konferenz und die Reaktionen des Publikums, die gesamte Atmosphäre suggerierten eine große Einigkeit zwischen den Teilnehmenden. Es herrschte Konsens, sowohl was die Relevanz der Themen als auch die Form der Diskussionen betraf. Das Publikum stimmte fast immer zu und applaudierte überhaupt sehr viel. So gab es beispielsweise nach dem Vortrag von Carolin Emcke zum Thema „Queer leben – eine Intervention“ langanhaltende stehende Ovationen. Der Journalist Mohamed Amjahid formulierte im Verlauf seines Vortrags über Polizeigewalt treffend: „Alle wirken so glücklich auf der re:publica.“
Damit stellt sich die Frage, was das eigentliche Ziel dieser Konferenz ist – ein Austausch und eine Bestätigung innerhalb der gleichen Bubble?
Forderung nach Dialog
Ein großes Thema der Konferenz war das Erstarken der Rechten in Europa und insbesondere der AfD in Deutschland. Viele sprachen sich dabei für einen Dialog mit den Rechtsextremen aus. So wurde etwa diskutiert, ob es in einem kommunalen Interessenbeirat die Zusammenarbeit mit Vertreter*innen der AfD geben sollte. Eine Frage die, nur kurze Zeit später und mit Blick auf die Wahlergebnisse, vor allem im Osten Deutschlands geradezu absurd klingen mag. Aber auch bei der probeweise geführten Abstimmung mit dem überwiegend jungen Publikum im Raum, zeigte sich die Mehrheit gewillt, die Vertreter*innen der Rechten in die kommunalen Beiräte einzubeziehen.[3] Jedoch blieb die Frage offen, wie dieser Dialog umgesetzt werden könnte.
Auch die Debatten über den Nahostkonflikt wurden kritisch diskutiert. Die Journalistin Khola Maryam Hübsch plädierte für eine Entkriminalisierung der Positionen vor allem derjenigen, die sich mit der Situation in Gaza auseinandersetzen, und sprach sich für eine Erweiterung der Diskursräume aus, um einen Dialog überhaupt erst zu ermöglichen. Die Deutsch-Palästinenserin Alena Isabel Jabarine forderte in ihrem Panel mit dem Israeli Tomer Dotan-Dreyfus und Korbinian Frenzel vom Deutschlandradio ein Ende der Pseudodebatten und eine Versachlichung der Begriffe, um dann über die eigentlichen Probleme diskutieren zu können.
Aber selbst in diesem spannenden (und friedlichen) Panel zeigte sich ein Problem, dass sich durch die gesamte Konferenz zog: Trotz all der klugen Beiträge, der schlüssigen Argumentationen und der sympathischen Speaker*innen blieb die Frage danach unbeantwortet, wie die immer wieder geforderten Dialoge in die Praxis umgesetzt werden können.
Dabei waren es vor allem jene Speaker*innen, die sich intensiv mit digitalen Methoden und der Praxis im social media-Bereich beschäftigten und damit schließlich arbeiteten, jene die innovativ, praxisnah und geradezu angstfrei mit gesellschaftlichen Kontroversen umgingen. Magdalena Hess etwa, eine Aktivistin bei Fridays for Future, stellte die erfolgreiche Strategie ihrer Gruppe vor, die anlässlich der Europa-Wahlen eine Gegenkampagne unter dem Namen #reclaimtictoc initiierte, um gegen die vielen AfD-Accounts auf TikTok vorzugehen. In ihrem Vortrag präsentierte sie eine Social-Media-Strategie, mit der man dem Erstarken der Rechten entgegentreten kann.
Ebenso beeindruckend war die Idee der „Lebensbücher“, ein Projekt von Cersten Frank, Lena Jacobi, Inna Klee und Jonathan Höges. Das Zusammenspiel einer Fragen stellenden KI und der persönlichen Begegnung von Erzählenden und Zuhörenden zeigte auf, wie Dialog im 21. Jahrhundert entstehen kann. Dabei wurde Digitaltechnik nicht als „kalt“ und verhindernd reproduziert, sondern als das, was sie durchaus sein kann, als Initiation und Organisation eines Dialogs zwischen Menschen. Diese beiden, relativ kleinen Panels gehörten für die Autorinnen zu den beeindruckendsten Diskussionsforen der Konferenz.
Auf der re:publica wurden viele wichtige Positionen vertreten und gesellschaftliche Probleme aufgezeigt, aber die permanent wiederholten Formel vom gesellschaftlich so sehr notwendigen „Dialog“ blieb merkwürdig blass, ja letztlich unbeantwortet. Die Atmosphäre war freundlich, man war sich fast immer einig über die Frage danach, was die Welt da draußen braucht um gerechter, diverser, kreativer etc. zu werden. Nur gestritten wurde nicht und: Ohne Streit keine Lösungen...
[1] re:publica 24 (about)
[2] Dazu das Panel: Die Zukunftsfähigkeit des Sozialstaates, mit: Saskia Esken, Marina Weisband, Claudia Mandrysch, Josephine Gauselmann, Katrin Rönicke (Podiuamsdiksussion)
[3] Daphne Büllesbach, Laura Gerards Iglesias: Treffen sich ein AfDler, eine feministische Stadtplanerin und ein Wirtschaftsboss...(Conference am 29.5.2024, Stage 10)