Vor 50 Jahren wurde in Stuttgart-Stammheim der Prozess gegen die Hauptangeklagten der Roten Armee Fraktion (RAF) eröffnet. Die Erstveröffentlichung von Stefan Austs Buch Der Baader-Meinhof-Komplex liegt nun 40 Jahre zurück. Was läge näher, als dieses Doppeljubiläum im Fernsehen angemessen zu begehen? Der Regisseur Niki Stein hat sich dieser Aufgabe nun angenommen und Stefan Aust hat ihn beim Drehbuchschreiben unterstützt. Kurz zusammengefasst: Man hat schon Originelleres gesehen.
Nichts Neues in Stammheim
Der Film hat weder inhaltlich etwas Neues zu bieten, noch ist seine Erzählweise und Figurenausgestaltung besonders innovativ. Niki Stein konzentriert sich darin auf die Jahre 1974 bis 1977, das heißt der Film steigt mit der Zusammenlegung der vier Hauptangeklagten im Hochsicherheitstrakt von Stammheim ein und endet mit den Suiziden von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Dazwischen ist zum wiederholten Male ein sich aufpumpender Baader beim Beleidigen der Beamten zu bestaunen. Oder wie er und Gudrun Ensslin sich gegen Ulrike Meinhof zusammentun und sie – wie es Stefans Austs Buch insinuiert – in den Suizid mobben. Jan-Carl Raspe indes sitzt meistens nachdenklich und eher schweigsam daneben. Gelegentlich zieht auch er arrogant die Augenbrauen hoch, wenn ein Justizvollzugsbeamter in seine Nähe kommt. Nur einmal versucht er sich zaghaft schützend vor Meinhof zu stellen, gibt dann aber dem Druck nach, den Baader und Ensslin machen. So kennt man die vier, seit Stefan Aust sie entsprechend beschrieben hat. Und wie bereits bei Reinhard Hauffs Kinofilm »Stammheim« von 1986 oder Uli Edels Actiondrama »Der Baader-Meinhof-Komplex« von 2008, hat Aust auch hier wieder mitgeschrieben.
Besonders rätselhaft aber erscheint, was Niki Stein selbst an seinem Film alles neuartig findet. Nicht nur wurde am »Originalschauplatz« gedreht und dafür eigens die alte Zellenbibliothek wieder aus dem Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung herbeigeschafft. Na und? Außerdem hätten sie »erstmals« die Tonbandprotokolle aus dem Prozess anhören können. »Davor« hätte man ja nicht einmal Baaders Stimme gekannt. Tatsächlich sind die Tonbänder aber seit fast zwanzig Jahren bekannt und ungefähr so lang auch als Edition auf CD erhältlich. Bereits vor dreizehn Jahren hat sich jemand die Mühe gemacht, sie auf YouTube hochzuladen. Und während sich Andreas Baaders mit nuschelnder Aussprache und in gemessenem Ton vor Gericht gehaltene Monologe auch im Netz schon längst einer gewissen Beliebtheit erfreuen, spricht Niki Stein darüber, als hätten Aust und er das alles eben erst entdeckt.[1]
Was auch immer das im Film bewirken soll, es sind zumindest keine besseren Filmfiguren daraus entstanden. Der pöbelnde Baader, wie man ihn seit dem Baader-Meinhof-Komplex kennt, und derjenige, den man auch im Film kurz vor dem Oberlandesgericht referieren hört, sind schlichtweg miteinander unverträglich. Die Figur wurde dadurch weder facettenreicher noch widersprüchlicher, nur noch unstimmiger.
Der Aust-Bubeck-Komplex
Das Drehbuch selbst basiert im Wesentlichen auf einer Montage von Auszügen aus Stefan Austs Buch Der Baader-Meinhof-Komplex sowie den Erinnerungen des damaligen Anstaltsleiters Horst Bubeck, die ebenfalls vor gut zwanzig Jahren schon von dem Journalisten Kurt Oesterle in Buchform gebracht wurden.[2] Dass hier nun zwei Texte mit sehr unterschiedlichen Erzähldynamiken verwoben wurden, spiegelt auch der Film wider. Bekanntlich ist Stefan Austs Buch »schnell« geschrieben, es wirkt »dicht dran« und liest sich gleichsam »wie in Echtzeit«. Aufgrund dieser Stilmittel entfaltet der Text eine große Sogkraft, worauf auch seine anhaltende Attraktivität für Unterhaltungsproduktionen gründen mag. Hingegen wirkt Oesterles Buch über Horst Bubeck, da es den Duktus eines im Alter milde und nachdenklich gewordenen Justizvollzugsbeamten aufnimmt, vergleichsweise schwerfällig.
Im Film vermischt sich beides etwa dergestalt, dass nun vier ideologisch heillos Verblendeten dabei zuzusehen ist, wie sie einander in den Selbstmord treiben, während ein leitender Justizvollzugsbeamter (Bubeck) nur tatenlos zuschauen und häufig besorgt seufzen kann. Einschreiten kann er nicht. Zu tief ist der Graben zwischen den »anarchistischen Gewalttätern« und dem Staat, als dessen Büttel sie ihn ansehen – zu unversöhnlich sind die Fronten. Um wenigstens diese Geschichte in sich stimmig erzählen zu können, mussten aber andere Szenen aus Stefan Austs Buch entfallen. So zum Beispiel diese, in der ein Rollkommando der Gefängnispolizei in den Zellentrakt einfällt und die vier Inhaftierten – gleichsam als Strafaktion – zusammenschlägt. Dem stets duldsam-mitfühlenden Horst Bubeck, den man in Niki Steins Film fast schon als den »guten Geist des Hauses« kennenlernt, hätte das sicher nicht besonders gut zu Gesicht gestanden.
Warum dieser Film?
Der Film war von vornherein als »Kammerspiel« gedacht, sagt Stein – und dass eine überraschend erfolgte Drehgenehmigung für ihn den Anlass bot, ihn zu drehen. Im entsprechenden Gefängnistrakt standen Renovierungsarbeiten bevor, da ergab sich plötzlich die Chance. Viel Zeit zur Vorbereitung bleibt da nicht. Wohl aufgrund des geplanten (oder auch notwendigen) Kammerspielcharakters wurden dann aber auch zahlreiche andere Passagen aus Stefan Austs Buch nicht im Drehbuch übernommen, die für das Verständnis der Handlung nicht unwesentliche historische und politische Kontexte mitgeliefert hätten. So wirkt alles, was sich auf der siebenten Etage und dem »Käfig« genannten Ausgangsbereich auf dem Gefängnisdach zwischen den Gefangenen abspielt, außerdem abstrakt.
Doch ohnehin prägte die »Baader-Meinhof-Gruppe«, also das Gründer*innenpersonal der RAF, um das sich hier alles dreht, nur die ersten sieben Jahre der RAF. Diese gab es nach der sogenannten »Todesnacht« aber noch weitere einundzwanzig Jahre, in denen sie den Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion überlebte, worauf ja immerhin ihr Name noch verwies – was auch jüngst Stephanie Bart mit einem grandiosen ersten Satz in ihrem Roman in Erinnerung gerufen hat: »Ostwind kommt auf […].«[3] Erst im schon wieder fortgeschrittenen Zeitalter der »Globalisierung« wurde auch der RAF allmählich ihre eigene Sinnlosigkeit klar, bis sie 1998 schließlich ihre Auflösung bekanntgab. Da hätte es also allerlei gegeben, was filmisch noch nicht dermaßen auserzählt ist, wie es die RAF-Gründer*innen in Stammheim inzwischen sind. Und so sucht auch dieser Film wieder in den Gesichtern des Gründerpersonals nach Antworten auf längst hinfällig gewordene Fragen, fast wie sich auch Franz Kafkas »Mann vom Lande« irgendwann wenigstens von den Flöhen im Bart des Türhüters weiterführende Antworten erhoffte, nachdem dessen Antworten ihm unverständlich geblieben sind.
Das »Märtyrertum« als denkbare Erzählung
Auch wenn die Textvorlage Austs, die ja selbst noch tief in der »alten BRD« wurzelt, ihrerseits inzwischen anachronistisch ist, hätten die Stammheimer Jahre 1974 bis 1977 noch immer schlüssige Ausgangspunkte für ein aufschlussreiches Historiendrama liefern können. Niki Steins Film deutet es zwar an, doch geht es gleich am Anfang eher unter: Aber zum Beispiel der fünfte Hauptangeklagte, Holger Meins, kam in Stammheim nie an. Nach mehreren Hungerstreiks verstarb er im November 1974 noch in der JVA Wittlich, etwa zur gleichen Zeit, als Baader und Raspe gerade in Stammheim eintrafen. Im Film wird es insoweit behandelt, dass ziemlich am Anfang Gudrun Ensslin zu sehen ist, die sich gleich nach ihrer Ankunft an die Schreibmaschine setzt, um den sterbenden Holger Meins mit Kassibern im Hungerstreik weiterhin anzufeuern: Er solle unbedingt weitermachen, auch wenn »Typen dabei draufgehen«.
Was das aber »draußen« alles in Gang setzte, vermittelt der Film kaum, weil es jenseits seines Blickwinkels liegt. So wurde erst Meins und danach Ulrike Meinhof, durch ihren Suizid im Mai 1976, draußen zur »Märtyrerin«. Und die Rolle, die ab 1974 »Märtyrer« für die RAF spielten, ist vielleicht dem gar nicht so unähnlich, was »Märtyrer« auch 50 Jahre später noch für so manche islamistische Terrorzelle bedeuten. Das wäre eine mögliche Alternative gewesen, um noch eine Brücke zu bauen, die eine Verbindung zwischen Stammheim und der Gegenwart herstellt. Aber das Figurenensemble Baader-Ensslin-Meinhof-Raspe alleine gibt da kaum noch etwas her.
»Antiimperialismus«
Auch nur flüchtig sind im Vorspann von Niki Steins Film ein paar historische Fernsehaufnahmen des Vietnamkriegs zu sehen. Dass die RAF bei ihrer »Mai-Offensive« des Jahres 1972, worauf sich ja immerhin die Hauptanklagepunkte im Stammheim-Prozess bezogen, unter anderem auch einen schweren Bombenanschlag auf das Heidelberger Hauptquartier der US-Streitkräfte verübt hatte, von wo aus Militäroperationen in Nordvietnam koordiniert wurden, erscheint darin als Marginalie. Allerdings wurden bei diesem Anschlag drei Menschen getötet und fünf verletzt. Das Anschlagsziel war jedenfalls ganz im Sinne des »antiimperialistischen Kampfs« gewählt, den die RAF zu führen glaubte – und wovon in den vorgetragenen Erklärungen Baaders und Ensslins auch vor Gericht viel die Rede war.
Unmittelbar vor dem Prozessauftakt endete der Vietnamkrieg, was im Film keinerlei Erwähnung findet. Für die RAF wurde dadurch etwa diffus, welche Anschlagsziele sich im Rahmen des »antiimperialistischen Kampfs« selbst aus ihrer Sicht noch halbwegs nachvollziehbar »begründen« ließen. Von nun an ging es nur mehr darum, die Stammheimer mit weiteren Morden und Anschlägen herauszupressen. Einrichtungen des US-Militärs oder der Springer-Presse, die »Kriegshetze« betrieb, benötigte man dafür nicht mehr. Stattdessen geriet alles, was sich irgendwie mit »Justizterror«, »Vernichtungshaft« und »Terrorstaat« in Verbindung bringen ließ – einschließlich des dazugehörigen Staatspersonals – ins Visier. Wenigstens dieses Grundmotiv blieb ihr bis zum Schluss – und bis weit über die Auflösung der historischen Ost-West-Achse hinaus, auf der auch die RAF noch gediehen war – als identitätsbildendes Element erhalten. Ihre letzte Aktion war die Sprengung eines Gefängnisneubaus in Weiterstadt.
Aber nachdem alle Stammheimer tot waren, ging es nicht mal mehr darum, jemanden zu befreien. Spätestens dann war die Bahn zu einer Entwicklung frei, die Silke Maier-Witt – Gruppenmitglied zwischen 1977 und 1979 – in ihrer jüngst erschienen Autobiografie folgendermaßen beschrieben hat: »Wir töten nicht mehr, um politisch etwas zu bewegen, sondern um RAF zu bleiben.«[4] Wäre das – und wie Maier-Witt und andere anschließend in der DDR untergekommen sind und erst nach dem Staatszusammenbruch verhaftet werden konnten – nicht erzählenswerter gewesen? Aber das bekommt man natürlich nicht in den Blick, wenn man nur danach schaut, was im Hochsicherheitstrakt vor sich ging.
Sollte sich nochmals jemand an eine Verfilmung des Baader-Meinhof-Komplexes wagen, dann wäre ein Fernsehspiel darüber zu wünschen, wie Stefan Aust das Buch schrieb und es zum Bestseller wurde. Es hätte vielleicht sogar komödiantisches Potenzial, sicherlich aber auch viel Abgründiges zu bieten. Denn nicht nur war der Autor (immerhin ein Ex-Kollege Ulrike Meinhofs bei konkret) etwa bis 1971 immer ziemlich nah »dran«. Sondern auch sein Buch hat die Geschichte der RAF (und wie man sie sich erzählt) enorm geprägt. Denken wir heute an deren Gründer*innen, dann haben wir sie meist so vor Augen, wie Aust sie uns beschrieben hat. Nur liegt das Jahr 1985, als das Buch erschien, auch schon sehr lange zurück. Vielleicht eignet sich der Stoff inzwischen ja wirklich für ein eher postmodernes Erzählformat.
[1] Siehe etwa das Interview mit ihm bei prisma (»Schockierende Einblicke: Das wahre Gesicht der RAF in ›Stammheim‹«). Ebenfalls aufschlussreich zu den Dreharbeiten ist dieses Video auf der ARD-Mediathek.
[2] Kurt Oesterle, Stammheim: Der Vollzugsbeamte Horst Bubeck und die RAF-Häftlinge. Tübingen 2003. Und selbstverständlich: Stefan Aust, Der Baader-Meinhof-Komplex. München (9. Aufl.) 2008.
[3] Stephanie Bart, Erzählung zur Sache: Roman. Berlin 2023, S. 11.
[4] Silke Maier-Witt, Ich dachte, bis dahin bin ich tot: Meine Zeit als RAF-Terroristin und mein Leben danach. Köln 2025 (2. Aufl.), S. 141.
Zitation
Alex Aßmann, Das Baader-Meinhof-Kammerspiel: . Niki Steins Film »Stammheim – Zeit des Terrors« bringt Stefan Austs Buch aus einem anderen Blickwinkel ins Fernsehen, in: Zeitgeschichte-online, , URL: https://zeitgeschichte-online.de/themen/das-baader-meinhof-kammerspiel