von Marija Parchomenko

  |  

23. Februar 2024

Es existiert die Illusion, dass Historiker*innen, im Gegensatz zu Vertreter*innen anderer Berufe, in einer so außergewöhnlichen Situation wie einem Krieg einen Vorteil hätten. Du hast als Historiker oder Historikerin einen Haufen Bücher gelesen, sogar Aufsätze geschrieben und leidenschaftlich auf Konferenzen über die Überlebensstrategien von Durchschnittsmenschen diskutiert. Du hast deinen Studierenden und Schüler*innen jahrelang beigebracht, dass es den Durchschnittsmenschen nicht gebe und dass es jedermanns konkrete Wahl sei, die den Gang der Geschichte bestimme. Mit dem Romantismus, der den Historiker*innen eigen ist, warst du bereit, zwischen gesellschaftlichen und familiären Pflichten zu manövrieren und zusätzlich noch ein Tagebuch zu führen. Es schien dir, dass du sogar zum Sterben bereit seist, unbedingt natürlich zu einem heroischen Sterben, nicht zu irgendeinem unbeachteten Tod. Ja, so habe ich mir mich selbst unter Kriegsbedingungen vorgestellt und war insgeheim stolz auf mich.

Und so begann mein Morgen des 24. Februar 2022: mit einer Schnellbewertung des Typs und der Dauer des Krieges: kurz – eine oder zwei Wochen. Und mit einer allerdings nicht lang andauernden Verurteilung meiner Nicht-Historiker-Freund*innen, die chaotisch versuchten, in irgendeine Richtung aus dem beschossenen Charkiw herauszukommen und sich so der Gefahr aussetzten, auf russische Truppen zu stoßen. Dann die Vorbereitung eines Monatsvorrats an Lebensmitteln, der erfolglose Versuch, die Familie zu überreden, ebenfalls solche Vorräte anzulegen. Die öffentlichen Verkehrsmittel fuhren nicht mehr. Schließlich der Versuch, meine Bürgerpflicht durch Arbeit im Stab der Freiwilligendienste in der Charkiwer Gebietsverwaltung zu erfüllen. Zweitägiges Zögern. Mir ließ die Frage keine Ruhe, ob das Übernachten im Stab sicher sei. Am 1. März, am dritten Tag meiner Zweifel, wurde das Gebäude der Gebietsverwaltung durch einen Luftangriff zerstört. 44 Menschen kamen ums Leben.

Das Gebäude der Gebietsverwaltung von Charkiw nach dem Raketenangriff vom 1. März 2022, via АрміяInform.

Und da lernte ich, dass ich nicht jener Mensch war, für den ich mich gehalten hatte. Es begann der wenig heldenhafte Weg meiner Evakuierung und der Rettung meines eigenen Lebens und des Lebens meiner eigenen Familie.

 

Die Folgen des Krieges für die Wissenschaft – bereits seit 2014

War also der 24. Februar der Beginn einer langen Kette privater, zivilgesellschaftlicher und beruflicher Entscheidungen und Verluste? In der Forschungsdimension hinterließ der Krieg seine irreversiblen Veränderungen schon seit dem Jahr 2014. In der Risikozone waren alle Historiker*innen, deren Aufenthaltsort oder deren wissenschaftliche Interessen mit den besetzten Gebieten verbunden waren. Für mich war die Annexion der Krym auch eine persönliche Tragödie, weil die Forschungsexpeditionen der Charkiwer Uni nach Chersones beendet wurden. Die Charkiwer Wissenschaftler, die dort seit dem 19. Jahrhundert forschten, haben eine bedeutende Schule der archäologischen Forschung über das taurische Chersones aufgebaut. Jetzt werden von den Ausgrabungsstätten Ausstellungsstücke in die Russländische Föderation geschafft und das Territorium des historischen Denkmals wird mit modernen Gebäuden überbaut.

Die Bestände des Chersoner Archivs sind von den russischen Truppen geraubt und beim Abzug mitgeführt worden. Ungewiss ist, ob die Bestände der Archive und Museen in Mariupol und Melitopol erhalten sind.

Es stellt sich die Frage, wie soll man seine Forschung weiterführen? Soll man überhaupt damit weitermachen, ein wissenschaftliches Problem zu untersuchen, dem man einen guten Teil seines Lebens gewidmet hat, wenn der Zugang zu den Quellen die Kommunikation, die Kollaboration mit Forschern erforderlich macht, die sich auf die eine oder andere Weise auf die Seite des Feindes geschlagen haben?

Andrij Domanowskyj, der für ukrainische Verhältnisse noch junge Leiter der Charkiwer archäologischen Expeditionen in Chersones, hat sich entschieden, auf das Trauma der Krym-Annexion zu antworten, indem er sich dem Kampf gegen die russische Propaganda verschrieb. Er nahm an dem zivilgesellschaftlichen Projekt „LIKBEZ – Historische Front“ teil und hielt Vorlesungen über die Geschichte Byzanz‘, des Krymkhanats, der Kyjiwer Rus, und schrieb auch die Abschnitte über die Geschichte des Krymkhanats für eine populärwissenschaftliche mehrbändige Geschichte der Ukraine.

Geschichte ist eine Waffe, oder warum die Ukraine ihre Vergangenheit verteidigt – Titelbild des Zaporizhzhia Historical Review 6 (2022), 58. АрміяInform

Aber diese Tätigkeit brachte ihn in Lebensgefahr an seinem Wohnort, einem Dorf nahe der Grenze, das schon in den ersten Stunden der russischen Totalinvasion besetzt wurde. Eine Zeitlang versteckte sich Andrij mit seiner Familie und wechselte ständig den Aufenthaltsort. In seiner Wohnung gab es Hausdurchsuchungen. Er wusste Bescheid über das Schicksal einer Reihe von Historikerkollegen und Journalisten mit pro-ukrainischer Position in jenen Gebieten, die seit 2014 nicht mehr von den ukrainischen Behörden kontrolliert wurden. Sie wurden entführt, ohne Gerichtsurteil inhaftiert, gefoltert und sogar ermordet.

Schließlich, nach eineinhalb Monaten im zeitweise besetzten Territorium, wagte Andrij es trotz aller Risiken, sich mit seiner Familie über Russland nach Lettland zu evakuieren. Auf wunderbare Weise und dank der Hilfe von Historikerkolleg*innen, deren Namen erst nach dem Ende des Krieges genannt werden können, konnte Andrij sich und seine Familie in Sicherheit bringen. Nach ungefähr drei Wochen Aufenthalt in Lettland entschied er sich, in die Ukraine zurückzukehren, denn es ließ ihm keine Ruhe, dass das ukrainische Volk und die Ukraine gegen die Besatzer kämpfen, während er im sicheren Europa sitzt. „Ich hatte weder militärische Erfahrung, noch irgendeine Vorbereitung für die Teilnahme an Kampfhandlungen“, erzählt er. „Ich konnte aber beim bewaffneten Kampf gegen die russischen Okkupanten auch nicht beiseite stehen und einfach weiter an der Uni unterrichten. Deswegen bin ich jetzt ziviler Mitarbeiter der ukrainischen Streitkräfte.“.

Andrijs Familie lebt nun das zweite Jahr getrennt von ihm in einer der weniger stark beschossenen Städte der Ukraine. Seine betagten Eltern wohnen 8 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, wo die Frontlinie verläuft. Das Dorf wird regelmäßig beschossen. Überdies ist Andrij bedrückt, weil er nur 50 historische Fachbücher retten konnte, ungefähr ein Prozent seiner Bibliothek.

„Ich hoffe immer noch, zur universitären Lehre und zur wissenschaftlichen Arbeit in den Geschichtswissenschaften zurückzukehren, wenn die Ukraine die russischen Aggressoren besiegt hat, aber mit jedem Monat werden diese Hoffnungen schwächer. Denn der Krieg, so scheint es, kann noch sehr lange dauern, und die verlorene Zeit einzuholen, wird nicht mehr möglich sein.“

 

Das Exil als Chance

Für jene Historiker, größtenteils Historikerinnen, die das Glück hatten, Schutz und zeitweilige Arbeit in den Wissenschaftsinstitutionen der Europäischen Union zu finden, ist der charakteristischste Satz: „Die Instabilität ist das Stabilste in unserem Leben, das einzige an Stabilität, was wir haben.“. Davon zeugen die Ergebnisse des Oral-History-Projekts „Bewegung nach Westen: Ukrainische Wissenschaftler unter den Bedingungen der Zwangsmigration, 2014-2023“. Das Projekt wurde von zwei Dozentinnen der Charkiwer Karasin-Universität initiiert, Wiktorija Iwaschtschenko und Julija Kiseljowa[1]. Bilanziert man die Antworten der Befragten über ihre Erfahrungen mit der Anpassung in den europäischen Ländern, kann festgehalten werden, dass alle mit Dankbarkeit auf die Hilfe europäischer Wissenschaftsinstitutionen und auf die persönliche Unterstützung durch europäische Kollegen verweisen. Für einige Befragte, die vor dem Krieg in der Ukraine außerhalb des Universitätssystems arbeiteten, weil das Wissenschaftssystem unterfinanziert ist, war das Exil die Chance, zur wissenschaftlichen Arbeit zurückzukehren.

Die Autorinnen des Projekts „“Moving West”: Ukrainian Academics in Conditions of Forced Migration (2014-2022)“, Wiktorija Iwaschtschenko und Julija Kiseljowa, nach der Konferenz „Rethinking Ukraine and Europe: New Challenges for Historians“ in Vilnius, 17. September 2023.

Zu diesem Personenkreis gehörte auch die Verfasserin dieses kurzen Essays. Nach dem Verlust der Krym und der Verteidigung meiner Dissertation schien es mir, dass eine Rückkehr in die Wissenschaft für mich vollständig unmöglich sei. Doch im März 2022 ermöglichte mir der Lehrstuhlfür Neuere und Neueste Geschichte mit dem Schwerpunkt der Geschichte Osteuropas FAU Erlangen-Nürnberg genau das, und ich hatte die Möglichkeit, meine Forschungsarbeit wieder aufzunehmen. Die Integration in die neue Umgebung, das Leben in Deutschland verdanke ich meinen Kollegen Moritz Florin und der Lehrstuhlleiterin Julia Obertreis (1969-2023), die tragisch verstorben ist, während ich diesen Text schrieb. Julia hat die letzten Monate ihres Lebens ungeachtet ihrer schweren Erkrankung der Hilfe für gefährdete Wissenschaftler*innen gewidmet und Möglichkeiten geschaffen, um ukrainischen Wissenschaftler*innen im europäischen akademischen Milieu eine Stimme zu geben.

Julia Obertreis zu Gast in der Charkiwer Karasin-Universität, 2019. Foto: Ljudmyla Posochowa.

 

Herausforderungen der Arbeit im neuen Umfeld

Die Interviews mit ukrainischen Wissenschaftler*innen, die Wiktorija Iwaschtschenko und Julija Kiseljowa durchgeführt hatten, zeugen vom ständigen Bemühen, sich vor allem als Forscher*in zu positionieren, die ihre Arbeit fortführen. Berufliche Tätigkeit und soziales Engagement werden auch zu einem Weg, um die stressbeladene Erfahrung der Zwangsmigration zu verarbeiten. Außerdem betonten die Historikerinnen, dass das eigene Erleben einer traumatisierenden Erfahrung ihnen auch helfe, die Motive von Akteur*innen zu verstehen, die an tragischen historischen Ereignissen teilhatten.

Gleichzeitig zeugen die Interviews auch davon, dass die Befragten bei der Verwirklichung ihres Idealbilds von Wissenschaftlerinnen mit Emigrationserfahrung auf Schwierigkeiten stoßen. Erstens ist die Position von Forscherinnen, die großen Wert darauflegen, Probleme eigenständig zu lösen und mit den europäischen Kolleg*innen Beziehungen auf Augenhöhe aufzubauen, nicht frei von Widersprüchen. Denn die Befragten sind bei der Lösung ihrer beruflichen und persönlichen Fragen fortgesetzt abhängig von ihren westlichen Kollegen.

Zweitens ist die Mehrheit der Befragten mit ihrer Familie geflüchtet und ihre Interviews zeugen vom Konflikt zwischen beruflichen und familiären Werten. Die Wissenschaftlerinnen haben vielversprechende Forschungsaufenthalte oder Stellen erhalten, können aber gleichzeitig ihren eigenen Ansprüchen an professionelle Arbeit nicht genügen, da sie sich in der Notsituation um ihre Verwandten und ihre kleinen Kinder ohne die Hilfe ihrer Männer kümmern müssen, die in der Ukraine geblieben sind.

Die dritte Schwierigkeit besteht im emotionalen Zustand der Befragten, deren Interviews von tiefen inneren Konflikten zeugen, die auf Schuldgefühle zurückgehen. So fühlt ein Teil der Befragten Schuld gegenüber ihren Verwandten, die in der Ukraine geblieben sind, und fast alle fühlen sich schuldig gegenüber ihrem Volk, ihrem Land. Manchmal erwähnen die Befragten ihr Bedauern, nicht an der Front kämpfen zu können, versuchen aber auch, ihre eigene Tätigkeit metaphorisch als Kampfeinsatz an der „Informations-“ oder „Wissenschaftsfront“ zu umschreiben.

Eine Folge ist auch, dass für viele gerade die Rückbindung an die Familie auch zum lebenswegentscheidenden Faktor wird. Die Verwandten verlangen nicht nur ständige Zuwendung von Seiten der ukrainischen Wissenschaftler, sondern werden auch zum Bestandteil ihrer Migrationserfahrung und nehmen Einfluss auf ihre Verhaltensstrategien. So berichten die Befragten im Interview von Kindern, die sich der Schule und der Anpassung im neuen Land verweigern und die Eltern zur Rückkehr nach Hause drängen, oder die weitere Mobilität der Wissenschaftlerinnen einschränken.

Die Trennung der Familien und die Übertragung der gesamten Last der Fürsorge für die Kinder und der Organisation des Familienlebens auf die Schultern der Frauen sind dabei nur ein Aspekt der Schwierigkeiten, mit denen die Wissenschaftlerinnen konfrontiert sind. Diese Situation kann sich verkomplizieren, wenn die Frauen ihre Arbeit aus der Heimat verlieren, aber auch, wenn stabile Verwandtschaftsbeziehungen in die Ukraine fehlen. Sie stehen dann vor der Notwendigkeit, eine Anpassungsstrategie im Gastland zu entwickeln, und das unter ziemlich ungewissen akademischen Perspektiven.

Diese Probleme verbinden die Forschenden, die ihre Arbeit in der Ukraine fortsetzen, mit denen im Ausland. Doch es ist völlig verständlich, dass die Möglichkeiten der beruflichen Selbstverwirklichung für Historiker, die Militärdienst leisten, ungleich geringer sind. Für alle ist ihre Zukunft ungewiss. Gemeinsam ist ihnen die Strategie, alles zu tun, was unter diesen Umständen von ihnen selbst abhängt: „Wenn ich schon hierhin geraten bin, dann mache ich hier auch das Maximum daraus…für mein Land, für meine Familie, und auch für mich selbst“; „ich werde das, was Gott mir jetzt in meinem Leben gegeben hat, maximal gut machen“.

 

Übersetzung aus dem Ukrainischen von Anna Veronika Wendland.

 


[1] Zum Projekt “Moving West”: Ukrainian Academics in Conditions of Forced Migration (2014-2022).

 

Die Überschrift ist eine Analogie zu Marjana Bajdak, Der Krieg als Herausforderung und Möglichkeit: Ukrainerinnen während des Ersten Weltkrieges“, L’viv 2021 [Original: Marjana Bajdak, Wijna jak wyklyk i moschlywist. Ukrajinky w roky Perschoji Switowoji Wijny, Lwiw: Instytut narodosnawstva NAN Ukrajiny, 2021, ISBN 978-966-02-9425-7].