Die Studierendenproteste in Serbien 2024/25

Zwischen Trauer, Symbolpolitik und internationaler Resonanz

 

Studierende haben in Serbien immer wieder als Seismographen gesellschaftlicher Krisen fungiert. Bereits in den Jahren 1996/97, als die Manipulation der Kommunalwahlen den Widerstand gegen den damaligen Präsidenten und später angeklagten Kriegsverbrecher Slobodan Milošević anfachte, wurde sichtbar, dass junge Menschen eine zentrale Rolle bei der Herstellung demokratischer Prinzipien einnahmen. Im Herbst 2024 wiederholte sich dieses Muster in neuer Form. Am 1. November 2024 stürzte ein kürzlich renoviertes Vordach des Bahnhofsgebäudes in der nordserbischen Stadt Novi Sad ein, wobei sechzehn Menschen ums Leben kamen. Während die regierungsnahen Medien den Unfall umgehend als Folge alter Bausubstanz herunterspielten, deuteten regierungskritischere Medien auf ein tieferliegendes systemisches Staatsversagen hin und machten Korruption und institutionelle Verantwortungslosigkeit zum Thema. Damit wurde schnell klar, dass der eigentliche Adressat der Empörung nicht allein die lokale Infrastruktur war, sondern die politische Führung um den serbischen Staatspräsident Aleksandar Vučić und die Serbische Fortschrittspartei (SNS), denen Versagen und Machtmissbrauch vorgeworfen wurden.

Beide Autorinnen befanden sich just zu dieser Zeit an der Universität in Novi Sad. Am 3. November 2024 kreuzten sich ihre Wege für einen Moment am Flughafen Stuttgart: Daniela Simon flog in die Stadt via Belgrad, während Danica Trifunjagić von dort gerade zurückkehrte. An diesen ungewöhnlich warmen Tagen für diese Jahreszeit, zwischen dem 3. und 5. November, lag über der Universität Novi Sad eine Atmosphäre gespannter Erwartung. Die Studierenden der Philosophischen Fakultät blickten den angekündigten ersten Protesten mit einer Mischung aus Trauer und Wut entgegen. Beim Rückflug am 5. November verdichteten sich Nachrichten über rote Schmierereien an Verwaltungsgebäuden, die symbolisch das Blut an den Händen der Verantwortlichen des Vordach-Einsturzes anklagten. Was als Unzufriedenheit mit der Aufklärung der Unfallursachen begann, wuchs in wenigen Wochen zur größten Studierendenbewegung in dieser Region Europas der letzten Jahrzehnte heran.

Auf die Trauermärsche folgte die Blockade der Fakultät für dramatische Künste in Belgrad am 25. November, begleitet von der Einführung des wöchentlichen Rituals der „15 Minuten Schweigen“ (wegen der bis dahin noch 15 Opfer) um 11:52 Uhr, exakt zur Zeit des Einsturzes des Vordachs. Von dort breitete sich die Bewegung landesweit aus: Protest am Slavija-Platz in Belgrad am 22. Dezember 2024 mit 100.000 Menschen (Arhiv javnih skupova/ Archiv öffentlicher Versammlungen, 22.12.2024), Blockaden der Mostarska-Schleife am 10. Januar 2025, die Besetzung des Stadtteils Autokomanda am 27. Januar mit rund 50.000 Teilnehmenden, der größte Protest in der Geschichte der Stadt Novi Sad am 1. Februar, eine Massenkundgebung in Kragujevac am 15. Februar und ein Protestzug in Niš am 1. März mobilisierten jeweils zehntausende Menschen. Ihren Höhepunkt erreichten die Proteste am 15. März 2025, als beim „15 für 15“-Protest in Belgrad laut der Tageszeitung Danas rund 300.000 Menschen auf die Straßen gingen (16.03.2025). Parallel dazu organisierten die Studierenden transnationale Aktionen: die Radfahrt nach Straßburg am 1. April 2025 sowie den Marathon „Struja promene“ (Strom der Veränderung) von Novi Sad nach Brüssel, der am 12. Mai endete, um dort das Europäische Parlament direkt auf die serbische Krise aufmerksam zu machen.

Ein Rückblick auf die Proteste von 1996/97 verdeutlicht das Besondere der aktuellen Bewegung. Damals stand der offensichtliche Wahlbetrug im Zentrum, und die Studierenden formulierten klare Forderungen: die Anerkennung der Wahlergebnisse, die Sicherung der Rechtsstaatlichkeit und die Einrichtung einer unabhängigen Wahlkommission (Naša Borba, 22.11.1996). Die Protestpraxis war laut, direkt und konfrontativ. Tägliche Demonstrationen, der offene Konflikt mit dem Belgrader Universitätsrektor Dragutin Veličković sowie die „Mauer aus Kartons“ als symbolische Aktion prägten das Bild. Die Bewegung war somit eindeutig politisch positioniert und stellte den Anspruch eines Systemwandels.

Die Proteste 2024/25 erscheinen demgegenüber bewusst zurückhaltend. Über Monate verzichteten die Studierenden auf konkrete politische Forderungen und setzten stattdessen auf performative Formen: Schweigen, Gedenkrituale und symbolische Blockaden wurden zu einer neuen Sprache des Widerstands. Erst im Mai 2025, also ein halbes Jahr nach Beginn, traten explizite politische Forderungen hinzu. Neben der bereits geforderten vollständigen Aufklärung des Einsturzes von Novi Sad, juristischen Verfolgung der Verantwortlichen, Freilassung der inhaftierten Protestierenden sowie höheren Zuweisungen für Universitäten, verlangten die Studierenden schließlich Neuwahlen. Das, was Studierende in diesem Zusammenhang als „System Vučić“ adressierten, bezeichnet weniger eine einzelne Person als die politische Struktur. Diese beruht auf einer dichten Verzahnung von Regierungspartei und Institutionen, von der Wahladministration über öffentliche Unternehmen bis hin zu Aufsichtsorganen, was systematisch Wettbewerbsbedingungen verzerrt und die Grenze zwischen Staat und SNS verwischt. Die Forderung nach Neuwahlen speist sich daher weniger aus „Regime-Change“-Rhetorik als aus der Einsicht, dass Verantwortung ohne institutionelle Erneuerung und Beseitigung der Korruption nicht herstellbar ist.

Die Medien rahmen die gegenwärtigen Proteste in gegensätzlicher Weise. Die regierungsnahe Tageszeitung Politika nutzt drastische Schlagzeilen, anonyme Quellen und unkommentierte Regierungszitate, um die Bewegung als inszeniertes Chaos darzustellen (z.B. Politika, 28.01.2025). Die regierungskritische Tageszeitung Danas bezeichnet hingegen die Schweigemärsche als Akt der „demokratischen Reaktivierung“, verweist auf die Leere der repräsentativen Institutionen und verstärkt die symbolische Bedeutung der studentischen Praktiken (Danas, 17.02.2025). Gleichzeitig hat sich im Vergleich zu den früheren Protesten gegen Milošević, die letztlich zu seiner Absetzung 2000 geführt haben, die Medienlandschaft radikal verändert. Staatsnahe traditionelle Printmedien diskreditieren in ihrem Diskurs den Protest als vom Ausland instrumentalisiert oder gar gewalttätig, während Studierende selbst zur Deutungsmacht digitaler Medien wurden. Über soziale Netzwerke organisieren sie seit Herbst 2024 spontan „Plenums“, basisdemokratische Versammlungen ohne zentrale Führung und formierten Online-Netzwerke, die Offline-Strukturen wie Schweigemärsche unmittelbar verbanden und sichtbar machten. Dies verleiht der Bewegung eine mediale Autonomie, sie ist weniger auf die Deutung durch klassische Medien angewiesen, denn online Plattformen wurden selbst zur Öffentlichkeit. Zugleich reagiert der Staat mit digitaler Repression, darunter mit Entlassungen von Staatsbediensteten wegen regierungskritischen online Beiträgen, Erpressungen von Lehrenden und Studierenden mithilfe geleakter Privatfotos oder Einsatz von Ausspähprogrammen auf den Smartphones (Balkan Insight, 17.04.2025).

Nach den ersten Monaten des Gedenkens entwickelte sich die Bewegung ab dem Frühsommer 2025 in eine Phase offenerer Konfrontation. Amnesty International und Civil Rights Defenders beklagten rechtswidrige Gewaltanwendung und willkürliche Festnahmen (Amnesty International, 07.07.2025). Anfang Juli berichteten Reuters und andere Medien von mindestens 79 Festnahmen innerhalb weniger Tage (Reuters, 03.07.2025). Im August kam es zu den bislang heftigsten Auseinandersetzungen. In mehreren serbischen Städten eskalierten die Proteste in Straßenschlachten, Polizist*innen und Demonstrierende wurden gleichermaßen verletzt. In Novi Sad gingen Demonstrierende so weit, die lokalen Büros der Regierungspartei SNS zu zerstören, womit der Protest erstmals eine offene Attacke auf das materielle Symbol der Macht vollzog (Reuters, 15.08.2025). Vučić setzte Hooligans ein, die Angriffe auf Bürger*innen verübten und gleichzeitig den Schutz der Parteiräume übernahmen. Über mehrere Nächte hinweg kam es zu Konfrontationen.

Vučić selbst reagierte mit einer Strategie der Umdeutung. In internationalen Medien und offenen Briefen bezeichnete er die Bewegung als von radikalen Gruppen infiltriert und präsentierte die Regierung als dialogbereit (Guardian, 29.08.2025). Damit verschob er die öffentliche Wahrnehmung: nicht mehr der Einsturz von Novi Sad, sondern die Gewalt selbst stand im Zentrum der Debatte.

Die EU blieb auffallend zurückhaltend. Zwar äußerte die neue Außenbeauftragte Kaja Kallas Verständnis für die Studierenden doch auf die August-Eskalationen reagierte Brüssel kaum. EU-Ratspräsident António Costa forderte bei seinem Belgrad-Besuch eine größere Distanz Serbiens zu Russland, vermied aber eine klare Stellung zu den Protesten. Kommentatoren wie die Guardian-Redaktion kritisieren dies als politische Unterlassung, die das Vertrauen in Europas demokratischen Anspruch untergräbt (Guardian, 25.08.2025).

Gleichzeitig bewegt sich Serbien außenpolitisch in einem sensiblen taktischen Spannungsfeld. Trotz EU-Ambitionen erhält das Land maßgebliche Unterstützung aus Russland, insbesondere im Energiesektor. Zudem blieb Serbien bisher zögerlich bei Sanktionen gegen Moskau, was es von EU-Partnerstaaten deutlich abhebt. Diese doppelte Strategie – klarer EUKurs rhetorisch, aber faktische Orientierung auf die Energielieferungen aus Russland – ist Teil der außenpolitischen Grundhaltung Vučićs. Er umschifft den Widerspruch, indem er gegenüber der EU pro-forma Reformabsichten signalisiert, aber zugleich enge ökonomische und kulturelle Verbindungen zu Russland aufrechterhält, wie etwa bei der diesjährigen Militärparade zum 80. Jahrestag des Sieges der Sowjetunion über Nazideutschland in Moskau (Danas, 10.05.2025). Gleichzeitig profitiert Vučić von regionaler Unterstützung. Milorad Dodik, lange Präsident der bosnisch-serbischen Entität Republika Srpska, gilt als Verbündeter, obwohl gerade ein politisches Aussetzungsverfahren gegen ihn im Gange ist. Sowohl Serbien als auch Russland bezeichnen die juristische Verfolgung Dodiks als politische Instrumentalisierung. Nicht zuletzt bleiben auch die USA ein politischer Faktor. Unter Präsident Donald Trump wich die US-Rhetorik von prowestlicher zu pragmatischstrategischer Kommunikation, mit zeitweiser Rückendeckung gegenüber Belgrad, etwa beim Thema russischer Einfluss auf die Ölraffinerie in Niš (Financial Times, 28.03.2025).

Diese außenpolitische Doppelkalkulation, gepaart mit regionalen Allianzen verschafft dem Regime von Vučić zwar Flexibilität, belastet aber die Legitimität demokratischer Partnerschaften. Für die Studierenden sind diese Verflechtungen mehr als diplomatische Details. Sie untergraben die Erwartung eines verlässlichen, reformfähigen Europas und nähren das Bewusstsein, dass innerer Wandel nur unter Druck erreichbar ist. Eine Studierendenbewegung, die ihre Stärke aus Symbolik und moralischer Autorität zog, ist in eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt geraten. Es geht nicht mehr nur um politische Reformen, sondern um die Erschütterung dreifacher Ordnungen: der politischen Ordnung, der Rechtsordnung und der moralischen Ordnung, die in jedem Akt von Gewalt und institutionellem Schweigen neu bedroht wird.

Für die internationale Öffentlichkeit ergibt sich daraus ein schwieriges Dilemma. Offene Parteinahme kann als ausländische Einmischung diskreditiert werden, Schweigen jedoch stabilisiert das autoritäre Narrativ. Ob aus den Studierendenprotesten ein nachhaltiger Wandel erwächst oder die Bewegung als erschöpfter Protest im Alltag verpufft, bleibt offen. Doch sie zeigen, dass auch in einem repressiven Klima Räume der Handlungsmacht entstehen können. Die eigentliche Aufgabe der europäischen Öffentlichkeit besteht darin, diesen Moment nicht zu ignorieren und Solidarität zu üben, ohne die Sprache der Studierenden für eigene politische Zwecke zu vereinnahmen.

 

 

Dieser Essay ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung der Vorträge, die von den Autorinnen unter dem Titel „Protestieren in bedrohten Ordnungen: Die Studierendenproteste in Serbien 1996/97 und 2024/25 im Spiegel der Medienberichterstattung“ am 5. Juni 2025 vor der Verfassten Studierendenschaft der Universität Tübingen sowie unter dem Titel „Media Coverage of Student Protests in Serbia in 1996/1997 and 2024/2025“ am 23. Mai 2025 an der Columbia University in New York gehalten wurden.

 

 

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Zitation

Daniela Simon, Danica Trifunjagić , Die Studierendenproteste in Serbien 2024/25. Zwischen Trauer, Symbolpolitik und internationaler Resonanz, in: Zeitgeschichte-online, , URL: https://zeitgeschichte-online.de/themen/die-studierendenproteste-serbien-202425