von Peter Ridder

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7. Dezember 2018

Im 20. Jahrhundert lässt sich die Geschichte der Menschenrechte in Phasen der Einigkeit zwischen einzelnen Staaten und jenen der Kontroverse erzählen. So gab es Zeiten der Übereinstimmung, in denen sich die Interessen von Staaten und Zivilgesellschaften überschnitten, was die Einführung und Durchsetzung universeller Normen möglich machte, etwa 1945, 1966, 1977 und 1990. Dazwischen gab es aber auch immer wieder Momente, in denen die internationale Gemeinschaft in eben diesen Normen eine Bedrohung sah. Die UNO-Menschenrechtspakte spiegeln diese wechselvolle Geschichte und zeigen, wie die Menschenrechte und das System zum Schutz dieser durch globale Konflikte und transnationale Aushandlungsprozesse geprägt wurden.[1]

 

Frieden, Macht und Recht

Bereits während des Zweiten Weltkrieges entwickelten die Regierungen der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion Pläne für eine neue Weltordnung, die zukünftig Konflikte verhindern und die eigene wirtschaftliche und politische Vormachtstellung nach dem Krieg absichern sollten. Die Menschenrechte dienten den USA dazu, ihr Bündnis mit Großbritannien moralisch zu konsolidieren. Dass die Menschenrechte 1945 bei der Gründung der Vereinten Nationen in die UNO-Charta eingeschrieben wurden, war vor allem dem Engagement liberaler internationaler Eliten zuzuschreiben, die die Politik der USA geschickt zu beeinflussen suchten. Personen wie Eleonore Roosevelt, René Cassin, John Humphrey und Charles Malik legten schließlich das Fundament für ein internationales System zum Schutz der Menschenrechte. Gemeinsam setzten sie 1947 die Entwicklung einer International Bill of Rights in Gang, mit der eine unverbindliche Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), ein verbindlicher Menschenrechtspakt sowie ein System zu dessen Implementierung eingeführt werden sollten. Während die AEMR bereits 1948 von der Generalversammlung angenommen wurde, verzögerte sich die Ausarbeitung des Menschenrechtspaktes bis zum Jahr 1966, am Ende lagen zwei voneinander unabhängige Verträge vor. Es dauerte weitere zehn Jahre, bis beide Pakte von einer genügenden Anzahl von Staaten ratifiziert wurden, um in Kraft zu treten. Breite Anerkennung erfuhren die Vereinbarungen erst Anfang der 1990er Jahre, als eine Mehrheit der UNO-Staaten die Regelungen anerkannte.[2]

 

Im Bann globaler und nationaler Konflikte

Die Debatte über den Menschenrechtspakt verschärfte sich schon zu Beginn des Kalten Krieges Ende der 1940er Jahre. Ost und West instrumentalisierten die Debatte in der UNO, um ihren Gegner anzugreifen und sich abzugrenzen. Die Sowjetunion forderte in diesem Zusammenhang wirtschaftliche und soziale Rechte ein, während die Westmächte nur politische und bürgerliche Rechte, geltend machen wollten. Hinzu kamen praktische Bedenken, nach denen Individualrechte nicht mit Kollektivrechten vermengt werden sollten. Dieser Konflikt führte 1954 zur Ausarbeitung zweier Pakte. Der Zivilpakt verband politische und bürgerliche Rechte während der Sozialpakt wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte regeln sollte.[3] Zugleich sahen die Großmächte in wirksamen Menschenrechten eine Bedrohung ihrer nationalen Interessen. Die westeuropäischen Staaten kämpften Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre mit Gewalt um den Zusammenhalt und die Rückeroberung ihres zerbrechenden Kolonialreiches in Afrika und Asien. Die Sowjetunion zementierte indes mittels Repressionen ihren Einfluss in Osteuropa, und in den USA restaurierten die ‚weißen Männer‘ ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft. Großbritannien forderte, dass die BewohnerInnen der Kolonien von diesen Rechten ausgeschlossen wurden und die USA wünschten sich eine Sonderregelung für föderale Staaten, die es den einzelnen Bundesstaaten erlauben sollte, die Segregation aufrecht zu erhalten. Zugleich entbrannte in den USA ein Streit über die Befugnisse des Präsidenten,  inwiefern dieser eigenmächtig internationale Verträge abschließen dürfe. Die Einzigen, die sich zu dieser Zeit für universelle Menschenrechtspakte einsetzten, waren die wenigen dekolonisierten Staaten. Mit der Forderung nach dem Recht auf Selbstbestimmung instrumentalisierten sie die Menschenrechtspakte für ihren Kampf gegen den Kolonialismus. Gemeinsam mit den sozialistischen Staaten hebelten sie die Ansprüche der Westmächte aus und setzten in einem Entwurf von 1954 das Recht auf Selbstbestimmung als ersten Artikel beider Pakte durch. Den liberalen Internationalisten gelang es immer weniger, ihren Einfluss geltend zu machen, und nach 1954 überlagerte der Ost-West-Konflikt und die Dekolonisierung die Debatte, wodurch sich die Annahme des Menschenrechtspaktes durch die Generalversammlung der UNO verzögerte.[4]

 

Konkurrenz um Menschenrechte

Das änderte sich erst Mitte der 1960er Jahre. Die beginnende Détente festigte den Status quo in Europa, wodurch die direkte Konfrontation zwischen Ost und West in den Hintergrund trat und sich die Auseinandersetzung in die „Dritte Welt“ verlagerte. Zudem waren die dekolonisierten Staaten ab 1960 in der Mehrheit, woraufhin Ost und West im Rahmen einer Politik der friedlichen Koexistenz verstärkt um die Gunst dieser Länder konkurrierten. Verursacht durch den Abbau der Segregation und dem Ende des British Empire, setzten sich nun auch die USA und Großbritannien für den Schutz der Menschenrechte in der UNO ein. Während sich die Sowjetunion hinter die afroasiatischen Staaten in ihrem Kampf gegen Rassendiskriminierung und die Apartheid stellte, profilierten sich die westlichen Staaten mit der Forderung nach einem effektiven System zum Schutz der Menschenrechte. Eine Mehrheit der dekolonisierten Staaten war in dieser Zeit für diese Idee, weil sie hofften, ein System zum Schutz der Menschenrechte, gekoppelt an ein Regelwerk, gegen Südafrika einsetzen zu können. Gemeinsam gelang es ihnen im Dezember 1966, beide Menschenrechtspakte von der Generalversammlung annehmen zu lassen. Zugleich wurde mit einem Fakultativprotokoll die Einrichtung eines Menschenrechtsausschusses beschlossen, der die Implementierung des Zivilpaktes überwachen sollte.[5]

 

Demokratien in Bedrängnis

Kurz darauf kippte die Stimmung erneut. Ende der 1960er Jahre radikalisierten sich die dekolonisierten Länder im Rahmen der Bewegung bündnisfreier Staaten und stellten sich gegen die Ausweitung des Menschenrechtsschutzes. In immer mehr Ländern ehemaliger Kolonien etablierten sich Diktaturen, in denen die wirtschaftliche Entwicklung über den Schutz der Menschenrechte gestellt wurde. Zugleich grenzten sie sich mit ihrer Forderung nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung ab, und die Ratifizierung der Menschenrechtspakte verzögerte sich.

Die demokratischen Staaten wurden in den 1970er Jahren innerhalb der UNO isoliert. Zugleich erlebte das Thema Menschenrechte in diesem Jahrzehnt einen regelrechten Boom. Millionen Menschen in den westlichen Industrienationen engagierten sich in NGOs, die zu wichtigen Akteuren in der internationalen Menschenrechtspolitik wurden, indem sie Druck auf ihre Regierungen ausübten. Zudem konsolidierten sich die westeuropäischen Staaten innerhalb der europäischen politischen Zusammenarbeit, wobei sie Demokratie und Menschenrechte zu Idealen ihrer Außenpolitik erklärten, um sich mit diesem Thema im Rahmen der Entspannungspolitik gegenüber den sozialistischen Staaten zu profilieren. Im Jahr 1976 erreichten die Menschenrechtspakte die für eine Annahme notwendige Mitgliederzahl von 30 Staaten, und in dem Jahr, in dem Jimmy Carter die Menschenrechte ins Zentrum der US-Außenpolitik rückte, nahm auch der UNO-Menschenrechtsausschuss seine Arbeit auf. [6]

 

Der Sozialpakt im Schatten des Zivilpaktes

Westliche Juristen dominierten dank der Unterstützung ihrer Regierungen fortan die Arbeit des Ausschusses und prägten mittels juristischer Verfahren die Umsetzung des Menschenrechtsschutzes. Zugleich wurde der Ausschuss in dieser Zeit zu einer Bühne für die Gegenüberstellung von Sozialismus und Demokratie in Verbindung mit Menschenrechten. Während der Zivilpakt damit immer mehr Gestalt annahm, kam der Sozialpakt kaum über den Status der Konvention hinaus. Erst mit der stärker werdenden Forderung nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung in Verbindung mit einem Recht auf Entwicklung zu Beginn der 1980er Jahre geriet die Debatte über die Implementierung des Sozialpaktes in Schwung. Hinzu kam, dass immer mehr afrikanische Staaten im Rahmen der Debatte über eine afrikanische Menschenrechtscharta eine Aufwertung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte anstrebten. Dabei wurde deutlich, dass sich der Menschenrechtsschutz nicht alleine auf juristische Verfahren begrenzen ließe, sondern umfassende gesellschaftspolitische Maßnahmen erforderte. 1985 wurde ein Ausschuss zur Implementierung des Sozialpaktes eingerichtet, und der UNO-Menschenrechtsschutz wurde auf den Schutz wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte ausgeweitet.[7]

 

Frieden, Demokratie und Menschenrechte

Anfang der 1990er Jahre stieg die Mitgliederzahl der Menschenrechtspakte sprunghaft an. Staaten wie die USA nutzten die UNO und die Menschenrechte, um ihre neugewonnene hegemoniale Stellung in der Welt moralisch und rechtlich abzusichern, und ratifizierten den Zivilpakt. Auch Staaten wie Israel und Südafrika ratifizierten die Menschenrechtspakte. Dabei war weniger das Ende des Ost-West-Konfliktes für diesen Aufschwung entscheidend als der allgemeine globale Trend zur Demokratisierung seit Mitte der 1980er Jahre. Diktaturen und Bürgerkriege in Südamerika, Asien, Afrika und Osteuropa, die über Jahre die Menschen in diesen Regionen fest im Griff hielten, wurden beendet. Die Mehrheit der UNO-Mitglieder entwickelte sich Anfang der 1990er Jahre zu Demokratien. Zugleich verdeutlichten die Jugoslawienkriege und die Konflikte in Afrika die Notwendigkeit eines effektiven Systems zum Schutz der Menschenrechte. Bis zum Ende des Jahrtausends unterwarfen sich fast alle UNO-Mitglieder den Menschenrechtspakten, und diese erlangten nach 50 Jahren den Status einer allgemein anerkannten International Bill of Rights.[8]


[1] Vgl. Sergant, Daniel, Eine Oase in der Wüste. Amerikas Widerentdeckung der Menschenrechte, in: Jan Eckel / Samuel Moyn (Hrsg.), Moral für die Welt, Göttingen 2012, S. 259-316.
[2] Mark Mazower, No Enchanted Palace. The End of Empires and the Ideological Origins of the Unites Nations, Princeton 2009; Glenn Mitoma, Human Rights and the Negotiation of American Power, Philadelphia 2013, S. 17-44; Roger Normand / Sarah Zaidi, Human Rights at the UN. The Political History of Universal Justice, Bloomington 2008, S. 197-243.
[3] Jennifer Amos, Unterstützen und Unterlaufen. Die Sowjetunion und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948-1958, in: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Moralpolitik. Geschichte und Gegenwart, Göttingen 2010, S. 142-169; Peter Ridder, Die Menschenrechtspakte, in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, herausgegeben vom Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Mai 2015; Normand / Zaidi, Human Rights, S. 197-243.
[4] Brian Simpson, Human Rights and the End of Empire, Oxford 2001, S. 489-490; Natalie Hevener Kaufman / David Whiteman, Opposition to Human Rights Treaties in the United States Senate. The Legacy of the Bricker Amendment, in: Human Rights Quarterly 10 (1988), Nr. 3, S. 309-337; Roland Burke, Decolonization and the Evolution of International Human Rights, Philadelphia 2010, S. 59-92.
[5] Sarah B. Snyder, The Rise of Human Rights During the Johnson Years, in: Francis J. Davin / Mark A. Lawrence (Hrsg.), Beyond the Cold War. Lyndon B. Johnson and the New Global Challenges of the 1960s, Oxford 2014, S. 237-261; Steven L. B Jensen, The Making of International Human Rights. The 1960s, Decolonization, and the Reconstruction of Global Values, Cambridge 2016, S. 1-18; Peter Ridder, Konkurrenz um Menschenrechte. Die Auswirkungen des Ost-West-Konfliktes auf die Entstehung des UN-Menschenrechtsschutzes in den Vereinten Nationen, 1966-1993, Diss phil Köln 2018.
[6] Burke: Decolonization, S. 59-92; Jürgen Dinkel: Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik, 1927-1992, München 2015; Samuel Moyn, The Last Utopia, Human Rights in History, Cambridge / London 2010, S. 120-176; Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechtspolitik in der internationalen Politik seit den 1940er Jahren, Göttingen 2014, S. 347-583; Jeremi Suri, Détente and Human Rights: American and West European Perspectives on International Change, in: Cold War History 8 (2008), Nr. 4, S. 527-545.
[7] Leemann, Ramon, Entwicklung als Selbstbestimmung. Die menschenrechtliche Formulierung von Selbstbestimmung und Entwicklung in der UNO, 1945-1986, Göttingen 2013; Eckel, Ambivalenz, S. 768-803.
[8] Eckel, Ambivalenz, S. 803-825; James E. Cronin: Global Rules. America, Britain and a Disordered World, New Haven / London 2014, S. 244-289; Stefan-Ludwig Hoffmann, Human Rights and History, in: Past and Present 232 (2016), Nr. 1, S. 279-310.