von Daniel Benedikt Stienen

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4. November 2021

Es mutet paradox an: Nach 1947, dem Jahr, in dem der Alliierte Kontrollrat den preußischen Staat für aufgelöst erklärt hatte, setzte in den deutschen Geschichtswissenschaften, der Publizistik und in der Politik eine Diskussion ein, wann Preußen zu bestehen aufgehört habe.[1] Das so nahe liegende Jahr 1947 vermochte als Schlusspunkt indes wenig zu überzeugen. Diskutiert wurden andere Epochenjahre als Zäsur zwischen Bestehen und Nicht-Bestehen: Hatte Preußen nicht bereits 1945 mit dem Zusammenbruch jeglicher staatlichen Ordnung zu existieren aufgehört? Oder schon 1933/34 mit der Gleichschaltung, die den Ländern ihre Eigenständigkeit beraubte? Oder doch am 20. Juli 1932, als mit dem „Preußenschlag“ die demokratisch gewählte Regierung Otto Brauns abgesetzt und die Staatsgewalt auf den Reichskanzler übertragen wurde? War nicht die Monarchie seit jeher ein integraler Bestandteil preußischer Geschichte gewesen, sodass ihr Ende in den kalten Herbsttagen des Jahres 1918 zu verorten ist, als Wilhelm II. als Kaiser und König abdankte und in das niederländische Exil flüchtete?

 

Hans-Joachim Schoeps’ „Preußen – Geschichte eines Staates“

Zu einem ganz anderen Ergebnis gelangte Mitte der 1960er Jahre der Erlanger Ordinarius Hans-Joachim Schoeps. In einer populär gehaltenen, 1966 erschienenen Gesamtdarstellung der preußischen Geschichte, bestimmte er das Reichsgründungsjahr 1871 als deren eigentlichen Endpunkt. In dieser Konsequenz überschrieb er den mit dem Kaiserreich beginnenden letzten Teil seiner Darstellung als „Preußische Nachgeschichte“.

Preußen davor, so Schoeps, sei eine Erfolgsgeschichte gewesen; nicht ohne politische Brüche und soziale Verwerfungen zwar, aber alles in allem geführt von einer guten Regierung, die dem treuen Dienst am Staatswesen und damit letztlich auch dem Wohl seiner Bevölkerung verpflichtet war. „Das historische Preußen [...] ist ein Staat gewesen, der von oben her gegründet worden war durch das Staatsdienertum seiner großen Könige und ihres Adels, durch die Armee und die Verwaltung seines Beamtentums“, hieß es bei Schoeps. Und weiter: „Neben dem Dienstbegriff als einem überpersönlichen Ordnungsprinzip war einzigartig auch die Verbindung konservativer und liberaler Überzeugungen in diesem Rechtsstaat, der seit 1848 eine konstitutionelle Monarchie gewesen war.“[2] Der unparteiische Rechtsstaat, die Toleranz in religiösen und nationalen Belangen, die effiziente Verwaltung des preußischen Beamtentums – streng und autoritär zwar, aber nur zum Wohle aller –, Kunst und Wissenschaft im Dienste der Allgemeinheit; all das habe in den gut zwei Jahrzehnten nach der Revolution von 1848 eine späte Blüte erfahren.

Die Zeit zwischen Revolution und Reichsgründung war für Schoeps die eigentliche Hochphase und Veredelung des preußischen Staatsgedankens gewesen. Schoeps fand sie bei den preußischen Hochkonservativen, den Gebrüdern Gerlach, Friedrich Julius Stahl und Hermann Wagener. Männern, deren staatsphilosophischen Ansichten er große Aufmerksamkeit und eigene Abhandlungen widmete. Die Hochkonservativen der 1850er und 1860er Jahre, sie waren gegen jegliches Machtstaatsstreben Preußens, gegen jede Form obrigkeitlicher Zentralstaatlichkeit und stattdessen einer christlich grundierten Sittlichkeit der Politik verpflichtet. Vor allem aber waren sie antinational gesonnen: „Die Konservativen haben das Nationalstaatsstreben als revolutionär und als unvereinbar mit der europäischen Ordnung abgelehnt, weil der Nationalismus die Staaten in ständige Kämpfe um nationales Prestige oder um Volkstumsinteressen hineinreißen würde.“[3]

Waren dies für Schoeps die wesentlichen Elemente preußischen Geschichtsdaseins, so änderte sich alles mit einem Mal 1871: „Mit der Gründung des Deutschen Reiches hatte der preußische Staat als souveränes und unabhängiges Gebilde zu bestehen aufgehört.“ Durch das Aufgehen im deutschen Nationalstaat wurde Preußens Kern verfälscht. „Die Auswirkungen der Eindeutschung Preußens wurden im allmählichen Verfall altpreußischer Institutionen sichtbar“, befand Schoeps, was insbesondere in der Regierungszeit Wilhelms II. deutlich wurde. „Übertriebenes militärisches Gebaren, Militarisierung auch des zivilen Lebens, eine seltsame Hofrangordnung, die den Leutnant noch über den Professor stellte“, so der Verfasser. „Das alles waren Entartungserscheinungen, die Preußen oft bis zur Karikatur heruntersinken ließen.“[4] Und auch an anderen Stellen habe sich mit der Nationalstaatsgründung das Ende der preußischen Epoche bemerkbar gemacht. Denn mit dem Kulturkampf schloss Otto von Bismarck autonome Räume der Kirche und beendete damit, so Schoeps, die alte preußische Tradition konfessioneller Toleranz. Mit der Nationalstaatswerdung stieg außerdem der Germanisierungsdruck, den zuallererst die zahlenstarke polnische Minderheit zu spüren bekam, der von den preußischen Königen zuvor stets die nationale Eigenständigkeit zuerkannt worden sei.[5]

Die Quintessenz von Schoeps’ Geschichtsbetrachtung bestand darin, wie er in einem ergänzenden Quellenband deutlich machte, dass 1866 mit dem der kleindeutschen Lösung den wegbereitenden Krieg gegen Österreich, „für Preußen die entscheidende historische Weichenstellung statt[fand].“ Mit der Reichsgründung selbst begann die Dekadenz- und Verfallsgeschichte Preußens, in der es „in der Substanz verändert wurde, sich an das Reich verausgabte und schließlich um seinen eigenen sittlichen Gehalt gekommen ist“. Und mit einem Zitat von Arthur Moeller van den Bruck, der in den 1920er Jahren zu den prominentesten Vertretern der antidemokratischen „Konservativen Revolution“ gehörte, kam Schoeps zu dem Ergebnis: „Preußen wurde das Opfer von Deutschland.“[6]

Diese Anschauung war mindestens originell, wenn nicht sogar revolutionär. Zuvor hatten über Generationen hinweg Historiker eine „deutsche Mission“ Preußens gepredigt; Höhe- und Zielpunkt preußischer Ruhmes- und Machtentfaltung habe in der Gründung des Deutschen Reiches 1871 gelegen, der Apotheose deutschen Geschichtsdaseins. Schoeps’ ganz eigene Interpretation der preußischen Geschichte erklärt sich aus seiner politischen Agenda. Der konservative Intellektuelle, der sich als junger Mann Anfang der 1930er Jahre für eine Umwandlung der Weimarer Republik in einen autoritären Staat ausgesprochen hatte, sah in Preußen nicht den Ursprung, sondern gerade das notwendige Gegenmittel gegen die nationalsozialistische Vergiftung Deutschlands. Noch während des Zweiten Weltkrieges setzte sich Schoeps im schwedischen Exil, in das er als Jude hatte fliehen müssen, für die Rehabilitierung des vielgescholtenen Preußens ein, das der Kriegskoalition als „Wurzel allen Übels in Deutschland“ (Winston Churchill) galt. Es war eine Zeit, in der Gegner der Nationalsozialisten diesen in ihrer Anschauung folgten, das „Dritte Reich“ sei legitimer Erbe und Vollstrecker echten „Preußentums“, wozu Kontinuitätslinien von König Friedrich II. über Bismarck bis Hitler nachgespürt wurde.[7]

In den 1950er Jahren, mittlerweile hatte der Remigrant Schoeps einen Lehrstuhl im fränkischen Erlangen erhalten, setzte er seine Rehabilitationsbemühungen fort, als Wissenschaftler und als politischer Publizist gleichermaßen. Seine Bestrebungen gipfelten in dem Versuch, Louis Ferdinand von Preußen, Chef des Hauses Hohenzollern, 1954 zum Bundespräsidenten wählen zu lassen, um das Amt anschließend in eine Erbmonarchie umzuwandeln. Ein aus heutiger Sicht unerhörter Vorgang, doch standen, wie eine Allensbach-Umfrage ergab, zu Beginn der 1950er Jahre immerhin ein Drittel der Westdeutschen einer Monarchie aufgeschlossen gegenüber, was mit dem katastrophalen Scheitern dreier grundverschiedener Systeme innerhalb von nur drei Jahrzehnten erklärt werden kann.[8]

Was den Historiker antrieb, das war die Überzeugung, dass Preußen eben nicht schuld am Nationalsozialismus gewesen sei. Seine Verteidigungsstrategie bestand darin, Charakteristika als typisch preußisch zu betonen, die dem Nationalsozialismus offenbar fremd waren: Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, eine sittliche und religiöse Begrenzung der Machtausübung. Und das hieß auch, das offensichtlichste Merkmal des Nationalsozialismus – den auf die Spitze getriebenen Nationalismus – scharf von der „anationalen“ preußischen Geschichte abzugrenzen, was bedeutete, die Geschichte Preußens 1871 enden zu lassen. Denn wenn, so die einfache Rechnung, die Existenz Preußens 1871 mit einem Mal verpufft war, musste auch die Weichenstellung in die Abgründe zweier Weltkriege andernorts erfolgt sein. Der Aufstieg der Nationalsozialisten, der mit der „deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) endete, konnte demzufolge kein Produkt des tugendhaften, protonationalen Preußens gewesen sein. Sondern ihr Aufstieg war ein Ergebnis deutscher Großmannssucht und eines egalitären Massenverständnisses, das dem rassistisch kodierten Nationalismus und der sich auf das Volk berufenden Gewaltherrschaft der Jahre nach 1933 den Weg ebnete. Das exkulpierende Element dieser Geschichtsschau wird in der Binnendifferenzierung deutlich, die Schoeps für die „preußische Nachgeschichte“ vornimmt: Auf das Kaiserreich folgt mit dem demokratischen Freistaat Preußen, dessen stabile Regierung unter dem Ministerpräsidenten Otto Braun, die sich wohltuend von den sich zeitgleich vollziehenden turbulenten Wechseln zahlreicher Reichskanzler abhob, „ein zweites Stadium postumer Existenz“. Dieses zweite Stadium lässt Schoeps – gerade noch rechtzeitig vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten – mit dem „Preußenschlag“ von 1932 enden, indem er befand, dass mit ihm „Preußen de facto zu bestehen aufgehört hat“. Kurzum, Preußen war von jeglicher Komplizenschaft mit dem Nationalsozialismus freizusprechen.[9]

Links: Buchcover Schoeps, Preußen – Geschichte eines Staates (1. Aufl., 1966). Foto: privat; Rechts: Buchcover Haffner, Preußen ohne Legende (8. Aufl., Taschenbuchausgabe, 1998). Foto: privat.

 

Sebastian Haffners „Preußen ohne Legende“

Im Jahr 1979, dreizehn Jahre nach Schoeps’ Monographie, erschien die Preußen-Darstellung des Publizisten Sebastian Haffner. Dieser war bislang vor allem als Kolumnist des Zeitgeschehens aufgetreten und als Sachbuchautor, der pointiert und wortgewandt den Nationalsozialismus sezierte; sein „Germany – Jekyll & Hyde“ (1940) und die „Anmerkungen zu Hitler“ (1978) hatten einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Haffner und Schoeps einte einiges: Das Geschehen des Ersten Weltkrieges hatte auf die beiden Angehörigen der Geburtsjahrgänge 1907 und 1909 als erstes, tief empfundenes historisches Ereignis einen nachhaltigen Eindruck gemacht. Beide verbrachten ihre Kindheit und Jugend im turbulenten Berlin der scheidenden Monarchie und der „Goldenen Zwanzigerjahre“, wobei sie als Schüler einen Geschichtsunterricht durchliefen, der noch in klassischer Manier preußische Monarchen mit ihren Kriegen und Siegen behandelte. Beiden machte die „Machtergreifung“ Hitlers 1933 einen Strich durch die Karriereplanung: Schoeps hatte im Vorjahr seine Promotion mit Auszeichnung abschließen können, an eine wissenschaftliche Anstellung als jüdischer Religionshistoriker war im „neuen Deutschland“ jedoch nicht mehr zu denken. Der junge Haffner haderte mit seinem Status als Jurist, der ihn gezwungen hätte, „sich in einem Unrechtsstaat der Rechtsprechung zu widmen“, und verlegte sich stattdessen aufs Journalistische. Und weitere Gemeinsamkeiten lassen sich finden: Beide emigrierten 1938 aus Hitler-Deutschland, Schoeps weil er Jude war, Haffner weil er eine Frau liebte, die den Nationalsozialisten als Jüdin galt; und beide kehrten nach 1945 nach Deutschland zurück, weil sie in der Fremde keine Heimat finden konnten (auch wenn Haffner zwischenzeitlich im Exil die britische Staatsbürgerschaft annahm).[10]

Wichtiger als diese biographischen Parallelen ist, dass Haffner Schoeps’ Buch kannte. Er hatte es für das politisch weit linksstehende Magazin konkret rezensiert. Haffner lobte Schoeps’ „verhaltene Kritik Bismarcks“, dem Weichensteller für die Reichseinigung, sah ansonsten aber grundlegende Probleme in den Werturteilen des Verfassers: „Professor Schoeps schreibt als Apologetiker.“ Und weiter: „Es ist immer sympathisch, wenn ein Historiker seinen Gegenstand mit den Augen der Liebe betrachtet. Aber Liebe macht bekanntlich blind […] und Verharmlosung ist das letzte, womit man Preußen gerecht wird.“[11]

In seiner eigenen, Jahre später erschienenen Darstellung der preußischen Geschichte, die unter dem Titel „Preußen ohne Legende“ stand, versprach Haffner hingegen ein ausgewogenes Urteil. Preußen war unwiderruflich verschwunden – das Auflösungsgesetz von 1947 war ihm ein überflüssiger Akt und glich einer „Leichenschändung“ – und dies erlaube, wie der Autor in seiner Einleitung bemerkte, endlich einen unparteiischen Blick auf diesen untergegangenen Staat zu werfen, den seine Zeitgenossen nicht besitzen konnten.[12]

Nichtsdestotrotz weist Haffners Schilderung einige Parallelen zu der von Schoeps auf.[13] Nicht nur, dass Haffner sich – reichlich unbeeindruckt von der sozialhistorischen Trendwende, die sich mittlerweile an westdeutschen Universitäten vollzogen hatte – auf die Geschichte des Staates und die Männer, die ihn lenkten, konzentrierte. Bemerkenswerter ist, dass es auch bei Haffner eine Hochphase des guten, ehrenhaften Preußens gibt, dem Staat der „preußischen Tugenden“. Nur dass Haffner diese Hochphase nicht wie Schoeps auf das 19. Jahrhundert datiert, sondern früher, auf das 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert des „Soldatenkönigs“ Friedrich Wilhelm I. und seines Sohnes Friedrich „des Großen“, eine Zeit, die Haffner als die „klassische Epoche“ Preußens bezeichnet.[14] Das Zeitalter dieser beiden Könige sei das Zeitalter des „rauhen Vernunftstaats“ und der strengen Zucht gewesen, aber auch das Zeitalter der religiösen Toleranz, der integren Rechtsstaatlichkeit, der aufopferungsvollen Hingabe der Monarchen für ihren Staat und der kühlen Genügsamkeit zugunsten bürokratischer und militärischer Effizienz. Alles an der kargen Nüchternheit der Staatsräson war, so der Autor, darauf ausgerichtet, die geschichtslose Künstlichkeit Preußens – einem Staat ohne Tradition, ohne natürliche Grenzen, ohne eigenem Volksstamm – vor dem Zerfall zu bewahren.

Diese Künstlichkeit, man könnte auch sagen: Zwecklosigkeit, war, was Haffner sichtlich am meisten faszinierte. Aus ihr bezog Preußen seine Staatsräson und seinen Reformeifer. All die Vorzüge des preußischen Staates, „seine unbestechliche Verwaltung und unabhängige Justiz, seine religiöse Toleranz und aufgeklärte Bildung“, waren keineswegs altruistisch gedacht, sondern pure Selbsterhaltung. Doch dank ihnen war Preußen, so Haffner, „nicht nur der neueste, sondern auch der modernste Staat Europas. Seine Krise begann, als die Französische Revolution ihn in der Modernität überholte. Von da an zeigen sich die Schwächen der preußischen Staatskonstruktion, und es beginnt die Suche nach einer neuen Legitimation, die schließlich mit einem triumphalen Selbstmord endete.“

Die „neue Legitimation“ war der deutsche Nationalgedanke und den „triumphalen Selbstmord“ sah Haffner – genau wie Schoeps vor ihm – in der Reichsgründung. Aus Gründen der Selbsterhaltung war Preußen auf stetiges Wachstum angewiesen und insofern stellte die Reichsgründung die größte bisher dagewesene Eroberung dar. Doch stellte Haffner apodiktisch fest: im „Augenblick seines größten Triumphs – damals sieht es keiner, heute kann es jeder sehen – beginnt Preußen abzusterben“, ein Gedanke, den Haffner nicht müde wird, in unterschiedlichen Variationen immer wieder zu betonen.[15]

Preußen und der deutsche Nationalismus, das sind wie zuvor bei Schoeps auch bei Haffner zwei separate, voneinander isolierte Geschichtsmächte, die nicht vereinigt, sondern nur getrennt oder allenfalls in einer hierarchischen Abhängigkeitsbeziehung gedacht werden konnten. In Haffners bestechender Diktion liest sich das folgendermaßen: „Das Bündnis zwischen der preußischen Staatsidee und der deutschen Nationalidee war ein Bündnis zwischen Feuer und Wasser; und wenn es auch so aussehen mag, als könnte ein starkes Feuer das Wasser in Dampf auflösen, am Ende wird das Feuer vom Wasser gelöscht.“[16]

All das, was auf 1871 folgen sollte, war die „Nachgeschichte Preußens“. Prononciert stellte Haffner an anderer Stelle fest: „Geschichte gemacht hat Preußen seit der Reichsgründung nicht mehr.“ Alles, was danach kam, fasste er unter dem Titel „Das lange Sterben“ zusammen. Die folgenden Jahrzehnte sah Haffner dadurch geprägt, dass die alten preußischen Prinzipien allmählich porös wurden. Wie Schoeps konstatierte auch Haffner einen Abschied auf Raten, der noch vor der folgenreichen Zäsur von 1933 abgeschlossen war: die Auflösung des preußischen Sonderbewusstseins zugunsten nationaler und regionaler Identitätsgehalte, der Beginn der „unpreußischen“ Kolonialpolitik und schließlich die Preisgabe der noch verbliebenen staatlichen Eigenständigkeit durch den staatsstreichartigen „Preußenschlag“ vom 20. Juli 1932. „Dieses Datum bezeichnet das tatsächliche Ende des preußischen Staates.“ Folglich war auch für Haffner Preußen nicht für die Zerstörungswut der Nationalsozialisten haftbar zu machen, mochten sie sich auch noch so sehr auf Preußen berufen haben. „Preußen, was immer es sonst war, war ein Rechtsstaat gewesen, einer der ersten in Europa. Der Rechtsstaat aber war das erste, was Hitler abschaffte.“ Und damit konnte er an anderer Stelle festhalten: „Nein, von der Schuld an den Katastrophen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert kann man Preußen freisprechen.“[17]

Haffners Buch setzte Maßstäbe. In den Jahren um 1980 gewann das Thema „Preußen“ während der sogenannten Preußen-Renaissance ein öffentliches Interesse, wie es die bundesrepublikanische Erinnerungskultur zuvor nicht gekannt hatte. „Preußen ist wieder chic“, bemerkte der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler abschätzig. Die Initialzündung ist im Sommer des Jahres 1977 zu suchen. Damals machte der Regierende Bürgermeister von (West-)Berlin, Dietrich Stobbe, den aufsehenerregenden Vorschlag, man könne in Berlin doch eine Ausstellung über Preußen machen; eine für einen SPD-Politiker vielleicht überraschende Bemerkung, die sich aber an der zeitgleich in Stuttgart laufenden, überaus erfolgreichen Staufer-Ausstellung ein Vorbild nahm. Haffner machte mit seinem Buch also nicht den ersten Aufschlag zur „Preußen-Renaissance“, aber ihm gelang der erste Punkt: Sein kaum ein Jahr später erschienenes Buch platzte mitten in den seit Stobbes Vorschlag in Politik, Wissenschaft und Feuilletons geführten Kontroverse darüber, ob und was die Berliner Monarchie der Bonner Republik eigentlich noch zu sagen habe. Die Darstellung Haffners erschien somit genau zum richtigen Zeitpunkt auf dem bundesdeutschen Buchmarkt und lief der nur kurze Zeit später erschienenen, ungleich düstereren Darstellung Bernt Engelmanns den Rang ab. Das mag nicht zuletzt auch damit zusammenhängen, dass Buchkäufer an der Ladentheke zu honorieren neigen, wozu sie eine positive Grundhaltung haben. Ob jedoch Haffner tatsächlich Preußen „ohne Legende“ bot oder nicht doch neue Legenden fabrizierte, in dieser Frage gingen die Einschätzungen auseinander.[18]

Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. am 18. Januar 1871 zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal von Versailles. 1885 im Auftrag der preußischen Königsfamilie zum 70. Geburtstag Kanzler Bismarck erstelltes Gemälde von Anton von Werner. Bismarcks weiße Kleidung entspricht nicht der Realität, sollte aber seine Position herausheben. Bismarck-Museum, Friedrichsruh. Gemälde von Anton von Werner - Museen Nord / Bismarck Museum: Picture, via Wikimedia Commons, Lizenz: Gemeinfrei.

 

Die Gnade des frühen Ablebens – Ein publikumswirksames Versöhnungsnarrativ für die Bundesrepublik

„Preußen“ war beiden Autoren ein Faszinosum. Entsprechend sind die Gemeinsamkeiten beider Bücher hervorzuheben: Nicht nur sprechen sie Preußen durch das Auf- und Untergehen im Deutschen Reich vom Schuldspruch frei, Steigbügelhalter des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Sie waren überdies kommerziell überaus erfolgreich und genossen (jenseits der akademischen Fachöffentlichkeit) eine breitenwirksame Popularität auf dem bundesdeutschen Buchmarkt. Schoeps’ Buch war seine apologetische Haltung offenbar nicht abträglich. Es richtete sich an ein breites Publikum und auch wenn niemand Geringeres als Golo Mann den Stil als „anspruchslos, auch wohl ein wenig hausbacken“ bezeichnete, so war die Darstellung doch anschaulich und kenntnisreich geschrieben, zugleich mit einem Ladenpreis von 24 Mark erschwinglich. In der Spiegel-Bestsellerliste hielt sich das Buch 34 Wochen und erlebte bis in die Gegenwart gut ein Dutzend Neuauflagen.[19]

Unerreicht blieb jedoch Haffners Buch und zwar verglichen auch mit all den anderen populären Darstellungen Preußens, die in der alten Bundesrepublik von Schoeps, S. Fischer-Fabian, Marion Gräfin Dönhoff und anderen geschrieben wurden. Haffner konnte mit „seinem exzellent geschriebenen“ Buch reüssieren, womöglich auch wegen des opulenten Bildteils, der mehr als die Hälfte des Umfangs ausmacht. Trotz des hohen Ladenpreises von 78 Mark schaffte die Darstellung die beachtliche Leistung, sich mit Unterbrechungen über ein Jahr lang in der Spiegel-Bestsellerliste zu halten. Allein bis Oktober 1981 waren Verlagsangaben zufolge mehr als 250.000 Exemplare verkauft.[20]

Die beiden hier genannten Bücher gehören somit zu den erfolgreichsten Darstellungen der Geschichte Preußens und hatten jedes für sich genommen eine enorme Reichweite. Beiden Preußen-Darstellungen ist gemein, dass sie ein versöhnliches Narrativ der Geschichte Preußens anbieten. Nimmt man Zahl und Inhalt zusammen, liegt somit die Vermutung nahe, dass bei der interessierten Öffentlichkeit eine Lesart der Geschichte beachtliche Verbreitung gefunden hat, wonach Preußen nicht erst 1947, sondern bereits 1871 unterging, und dass es folglich frei von nationalsozialistischen Kontaminationen und an der deutschen Zerstörungswut im 20. Jahrhundert unschuldig ist.

In jüngster Zeit hat Christopher Clark diesen Gedanken mit den Worten „Deutschland […] war nicht die Erfüllung Preußens, sondern sein Verderben“[21] wieder aufgegriffen. Auch Clarks Preußen-Monographie war erfolgreich und stand sechs Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Der Erfolg dieser drei Bücher lässt auf eine bis heute andauernde Sehnsucht wenigstens in Teilen der deutschen Gesellschaft schließen, Frieden mit dem preußischen Erbe zu machen. Zugleich verlangt unsere pluralistische Erinnerungskultur danach, das Bild, das wir uns von Preußen machen, kontinuierlich zu hinterfragen. In Debatten um die Hohenzollern und das Kaiserreich, um den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses und der Potsdamer Garnisonkirche wird unser Verhältnis zu Preußen jedes Mal neu bestimmt. Dabei ragt die Vergangenheit in die Gegenwart hinein. Preußen hat uns offenbar auch heute noch etwas zu sagen. Was das ist; diese Frage muss sich jeder und jede immer wieder neu beantworten.

 


[1] Vgl. exemplarisch Golo Mann, Das Ende Preußens, in: Hans-Joachim Netzer (Hg.), Preußen. Porträt einer politischen Kultur, München 1968, S. 135-165; Karl Dietrich Bracher, Das Ende Preußens, in: Kurt Birrenbach u. a. (Hg.), Preußen. Seine Wirkung auf die deutsche Geschichte, Stuttgart 1985, S. 281-307.
[2] Hans-Joachim Schoeps, Preußen. Geschichte eines Staates, Berlin 1966, S. 297.
[3] Ebd., S. 222 f.
[4] Ebd., S. 273, 282 u. 275.
[5] Vgl. Hans-Joachim Schoeps, Preußen. Bilder und Zeugnisse, Berlin 1967, S. 10.
[6] Ebd., S. 46, 35 u. 39.
[7] Vgl. Barbro Eberan, Luther? Friedrich „der Große“? Wagner? Nietzsche? …? …? Wer war an Hitler schuld? Die Debatte um die Schuldfrage, 1945–1949, München 1983; Hans-Christof Kraus, Preußen im deutschen Geschichtsbild nach 1945, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 28 (2018), S. 125-139.
[8] Vgl. ders., Eine Monarchie unter dem Grundgesetz? Hans-Joachim Schoeps, Ernst Rudolf Huber und die Frage einer monarchischen Restauration in der frühen Bundesrepublik, in: Hans-Christof Kraus/Heinrich Amadeus Wolff (Hg.), Souveränitätsprobleme der Neuzeit. Freundesgabe für Helmut Quaritsch anlässlich seines 80. Geburtstages, Berlin 2010, S. 43-69; Frank-Lothar Kroll, Geschichtswissenschaft in politischer Absicht. Hans-Joachim Schoeps und Preußen, Berlin 2010, S. 58-80.
[9] Schoeps, Bilder, S. 10; ders., Preußen, S. 229 u. 296.
[10] Vgl. Sebastian Haffner, Germany. Jekyll & Hyde. 1939 – Deutschland von innen betrachtet, München 1996 [EA London 1940]; ders., Anmerkungen zu Hitler, Frankfurt am Main 1978; Uwe Soukup, Ich bin nun mal Deutscher. Sebastian Haffner. Eine Biographie, Berlin 2001, S. 44.
[11] Sebastian Haffners Monatslektüre, in: konkret 6/1967, S. 46 f.
[12] Vgl. Sebastian Haffner, Preußen ohne Legende, 2. Aufl., Hamburg 1979, S. 20 f., Zitat: S. 20.
[13] Vgl. Jürgen Peter Schmied, Sebastian Haffner. Eine Biographie, München 2010, S. 432 f.
[14] Eine Formulierung, die Haffner womöglich von seinem Kollegen Harry Pross entlehnt hat. Vgl. Harry Pross, Preußens klassische Epoche, in: Hans-Joachim Netzer (Hg.), Preußen. Porträt einer politischen Kultur, München 1968, S. 41-75. Pross’ Essay war aus einer Produktion des Bayerischen Rundfunk hervorgegangen, an der auch Haffner beteiligt gewesen ist, der in seinem Beitrag („Preußens Krise und Wandlung“, ebd., S. 77-134) viele der später in Preußen ohne Legende vorgetragenen Gedanken vorweggenommen hat. Eigentümlicherweise fehlt bei den Literaturhinweisen zu Haffners Aufsatz der Hinweis auf Schoeps’ Monographie. Zu Haffners Methode der Literaturverwertung auch Schmied, Haffner, S. 432 f.
[15] Haffner, Preußen, S. 20 f.
[16] Ebd., S. 266, vgl. auch ders., Von Bismarck zu Hitler. Ein Rückblick, München 1987, S. 21-26.
[17] Ders., Preußen, S. 336, 346 u. 348; ders., Preußens kurze Geschichte, abgedruckt in: ders., Historische Variationen, München 2003, S. 39-53, hier S. 52 f.
[18] Hans-Ulrich Wehler, Preußen ist wieder chic. Der Obrigkeitsstaat im Goldrähmchen, in: ders.: Preußen ist wieder chic. Politik und Polemik in zwanzig Essays, Frankfurt am Main 1983, S. 11-18 (Erstdruck 1979); Bernt Engelmann, Preußen. Land der unbegrenzten Möglichkeiten, München 1979. Kritiken bei: Hans-Jürgen Puhle/Hans-Ulrich Wehler, Vorbemerkung, in: dies. (Hg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, S. 7-9, hier S. 8; Ingrid Mittenzwei, Preußens neue Legenden. Gedanken beim Lesen einiger neuer Bücher über Preußen, in: Journal für Geschichte 4/1981, S. 4-9, hier S. 4; Schmied, Haffner, S. 433-438.
[19] Golo Mann, Stumme Macht, die wächst?, in: Der Spiegel, Nr. 42/1966. Bestsellerliste in: Der Spiegel, Nr. 10/1967 bis Nr. 43/1967.
[20] Mittenzwei, Preußens neue Legenden, S. 5; Jürgen Peter Schmied: Preußen als Vorbild? Sebastian Haffners Bestseller „Preußen ohne Legende“, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft (2016), H. 1, S. 117-124, hier S. 122. Bestsellerliste in: Der Spiegel, Nr. 1/1979 bis Nr. 6/1980 (mit Unterbrechungen).
[21] Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600–1947, München 2008, S. 13. Bestsellerliste in: Der Spiegel, Nr. 19/2007 bis Nr. 24/2007.