Am 23. März öffnet in Danzig das lange geplante Museum des Zweiten Weltkriegs seine Tore.[1] Dass es dem Team um Museumsdirektor Paweł Machcewicz vergönnt ist, die Früchte seiner neunjährigen Arbeit zu ernten, ist angesichts der geschichtspolitischen Großwetterlage in Polen alles andere als selbstverständlich. Schließlich versucht Jarosław Kaczyńskis nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) seit ihrem Wahlsieg im Herbst 2015 mit allen Mitteln, die Museumsleitung abzuservieren. Um ihre Macht zu konsolidieren, attackiert die PiS-Regierung nicht nur die Unabhängigkeit von Justiz, Medien und Zivilgesellschaft, sondern baut auch eifrig am Mythos einer von ubiquitären Feinden bedrohten nationalen Gemeinschaft, deren „guten Namen“ sie gegen Anwürfe innerer und äußerer, realer oder imaginierter Feinde zu schützen vorgibt. Das kontextualisierende, universalistisch ausgerichtete Danziger Museum ist ihr dabei ein Dorn im Auge.
Während die Dauerausstellung des Weltkriegsmuseums in Danzig nach dem Willen der PiS-Geschichtspolitiker einer „polnischen Erzählung“ weichen soll, in der Polen ausschließlich als „freiheitsliebende Katholiken und Patrioten“ auftauchen, die „vor allem stolz auf ihre Geschichte“ sein könnten,[2] ist ein anderes kürzlich eröffnetes historisches Museum ganz nach dem Geschmack der neuen Regierung: Das Museum in dem südostpolnischen Dorf Markowa ist der achtköpfigen Familie Ulma gewidmet und erinnert an jene mehrere Tausend Polen, die während des Zweiten Weltkriegs jüdische Mitbürger retteten. Diese über jeden Zweifel erhabenen polnischen „Gerechten“ werden von selbsternannten Verteidigern der nationalen Ehre schon seit Jahrzehnten immer dann ins Feld geführt, wenn im Ausland von polnischem Antisemitismus oder gar einer polnischen Mitverantwortung für den Holocaust die Rede ist. Staatspräsident Andrzej Duda (PiS) ließ sich nicht zweimal bitten und machte sich im März 2016 auf den weiten Weg aus Warschau zur Eröffnung des Museums ins Karpatenvorland. In seiner Rede betonte er, „Polen und die geschichtliche Gerechtigkeit“ hätten ein solches Museum nur allzu dringend benötigt, denn in Markowa „wird es uns ganz besonders bewusst, dass wir als Polen Würde empfinden können.“[3] Im Oktober kam Duda gleich noch einmal in die Provinz, um im Rahmen eines Gipfeltreffens den Staatspräsidenten der ostmitteleuropäischen Visegrad-Gruppe das Museum zu präsentieren. Bei den renommierten Historikern Jan Grabowski und Dariusz Libionka vom Zentrum für Holocaust-Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Centrum Badań nad Zagładą Żydów) stieß das Ulma-Museum dagegen auf heftige Kritik: Sie sehen darin ein Paradebeispiel für die „zynische Instrumentalisierung derjenigen Menschen, die uneigennützig Juden gerettet haben, um die Diskussion um weniger löbliche Haltungen der polnischen Gesellschaft zu beenden“.[4]
Die Fronten sind also verhärtet, ist doch das Verhältnis zur einstmals beträchtlichen jüdischen Bevölkerung des Landes seit jeher ein besonders heikler Punkt für den von der Rechten reklamierten Stolz der Polen auf ihre Nationalgeschichte. Insbesondere Fälle punktueller polnischer Mittäterschaft am Holocaust wie in dem ostpolnischen Landstädtchen Jedwabne werfen dunkle Flecken auf die vermeintlich reine Weste der polnischen Nation. Die PiS-Regierung hat die Debatte mit ihren geschichtspolitischen Initiativen weiter aufgeheizt und aus dem kleinen Museum in der Provinz ein hochsymbolisches Politikum gemacht. Doch was ist in Markowa eigentlich zu sehen, und lässt sich das dortige Museum wirklich auf ein geschichtspolitisches Ablenkungsmanöver der nationalen Rechten reduzieren? Oder macht es nicht gerade heute Sinn, der Zivilcourage jener mutigen Polen zu gedenken, die für die Rettung von Juden ihr eigenes Leben riskierten und allzu oft opferten?
Ein minimalistisches Gedenkmuseum im Provinzidyll
Nähert man sich Markowa von der nahegelegenen Kleinstadt Łańcut aus, fällt zuerst die idyllische Landschaft der Region ins Auge. Markowa selbst ist ein polnisches Dorf wie aus dem Bilderbuch, dessen adrette Häuser und Höfe sich in einem langgezogenen Bachtal zwischen den sanften Hügeln des Karpatenvorlands verteilen. Im Zentrum steht etwas erhöht die katholische Kirche und gleich daneben das noch auf die Bauernbewegung der Zwischenkriegszeit zurückgehende Kulturhaus. Ein kleines Freilichtmuseum präsentiert bäuerliche Kultur und die regionaltypische Holzarchitektur. Hier also lebten Józef und Wiktoria Ulma mit ihren sechs Kindern als einfache Bauern unter eher ärmlichen Bedingungen. Während des Zweiten Weltkriegs boten sie in ihrem bescheidenen Holzhäuschen am Dorfrand acht jüdischen Nachbarn Unterschlupf, bis sie (vermutlich von einem polnischen Hilfspolizisten) verraten und am 24. März 1944 zusammen mit ihren Kindern und den versteckten Juden von deutschen Gendarmen erschossen wurden. Yad Vashem ehrte die Ulmas 1995 posthum als „Gerechte unter den Völkern“, und die katholische Kirche prüft ihre Seligsprechung.[5]
Das nun zu Ehren der Ulmas eröffnete Museum befindet sich nicht am historischen Ort ihrer Hütte, die nach dem Krieg abgerissen wurde, sondern im Dorfkern direkt neben der Kirche. Der entschieden moderne Bau des renommierten Warschauer Architekturbüros von Mirosław Nizio markiert mit den geraden Linien und der rauhen, industriellen Ästhetik seiner rostigen Stahlfassade einen größtmöglichen Kontrast zu der dörflichen Atmosphäre. Die Front des Museumsgebäudes nimmt die Konturen der Hütte der Ulmas in minimalistischer Form auf, was ihnen eine geradezu emblematische Klarheit verleiht. Auf dem Vorplatz erinnern beleuchtete Glasplaketten an weitere Polen, die wegen ihrer Hilfe für Juden ermordet wurden, und eine Gedenkwand neben dem Haupteingang trägt die Namen hunderter polnischer Einwohner der Wojewodschaft Karpatenvorland, die Juden vor dem Holocaust retteten. An die jüdischen Opfer wird etwas weniger konventionell mit einem Garten junger Obstbäume erinnert – eine Referenz nicht nur an den Garten der Gerechten in Yad Vashem, sondern auch an die kleine Baumschule von Józef Ulma, der als einer der Ersten im Dorf Obst- und Gemüsebau betrieb.
Die Integration sakralisierender Gedenkelemente, die dem Ulma-Museum bis zu einem gewissen Grade den Charakter einer Gedenkstätte verleiht, ist durchaus typisch für die jüngere polnische Museumsarchitektur.[6] Anders als etwa im Warschauer Aufstandsmuseum kommt diese Memoralisierung in Markowa jedoch ausgesprochen unaufdringlich und nüchtern daher. Dies gilt auch für den mit schlichten Sichtbetonwänden ausgeführten Ausstellungsraum, der von einem 5 x 8 Meter langen illuminierten Milchglaskubus dominiert wird – einer 1:1-Rekonstruktion der Hütte der Familie Ulma. Der Innenraum dieses Kubus ist dem Leben der Ulmas gewidmet, während der in dunklen Tönen gehaltene äußere Teil der Ausstellung den Kontext der Rettung von Juden vor dem Holocaust in Polen darstellt. Auch wenn dadurch ein gewisser Schwarz-Weiß-Kontrast entsteht, der durch idealisierende Sepia-Fotografien an den Wänden des Glaskubus noch verstärkt wird, erscheint dessen Inneres keineswegs als Schrein. Dies ist vor allem den eindrucksvollen authentischen Objekten und Dokumenten zu verdanken, die dort gezeigt werden, darunter Originalmöbel und eine hölzerne Werkbank aus der Vorkriegszeit sowie Bücher aus der Familienbibliothek und die Fotoausrüstung von Józef Ulma, der passionierter Fotoamateur war und hunderte von Aufnahmen des Familien- und Dorflebens hinterließ. Zu den emotionalsten Ausstellungsstücken gehört eine von den Ulmas genutzte Bibel, in der das Gleichnis vom barmherzigen Samariter aus dem Lukasevangelium angestrichen ist.
Auf dem schmalen Grat der Kontextualisierung
Während die museale Präsentation des Schicksals der Familie Ulma kaum Kontroversen hervorruft, wirft die angemessene Kontextualisierung ihres tragisch gescheiterten Versuches, Juden vor dem Holocaust zu retten, vielfältige Fragen auf. Angesichts der langjährigen hochemotionalen Debatten um das polnisch-jüdische Verhältnis vor, während und nach dem Holocaust ist hier besonderes kuratorisches Fingerspitzengefühl gefragt. Für das Museum in Markowa gilt das umso mehr, als es schon mit seinem Namen den doppelten Anspruch erhebt, sowohl an die Familie Ulma zu erinnern als auch an „die Polen, die während des Zweiten Weltkriegs Juden retteten“. Diese doppelte Widmung bietet einerseits das Potenzial, die oftmals überlebensgroß dargestellte Geschichte des Holocaust anhand eines konkreten lokalen Einzelbeispiels anschaulicher und berührender zu erzählen. Andererseits verleitet sie aber auch dazu, die wenigen Gerechten als repräsentativ für die lokalen, regionalen und nationalen Gemeinschaften zu betrachten, denen sie angehörten. Die schwierige Gratwanderung zwischen diesen beiden Zugängen gelingt den Museumsmachern leider nicht durchgängig.
Die Ausstellung in Markowa konzentriert sich auf die katholischen Polen, die ihren jüdischen Mitbürgern helfend zur Seite standen, und lässt die traumatischen Erfahrungen der betroffenen Juden weitgehend außen vor. Dies ist eine legitime kuratorische Entscheidung, solange diese Verengung der Perspektive nicht zu einer einseitigen Privilegierung polnisch-katholischer Deutungen des Geschehens führt. Genau dies ist in der Ausstellung aber der Fall: So werden die Bemühungen des polnischen Untergrundstaats sowie der katholischen Geistlichkeit um die Rettung von Juden stark betont, während vergleichbares Handeln der damals noch zahlreichen ukrainischen Bevölkerung der Region per definitionem ausgeblendet bleibt.
Schwerer noch wiegt, dass auch das breite und differenzierte Spektrum individueller Handlungsoptionen von Polen gegenüber Juden in Markowa nur ausschnittsweise beleuchtet wird. Man mag die Meinung des Gründungsdirektors des Museums Mateusz Szpytma durchaus teilen, dass es zu den vornehmsten Aufgaben historischer Museen gehöre, positive Vorbilder und Verhaltensmuster zu präsentieren. Dafür bieten die Zivilcourage der Ulmas und ihr tragisches Schicksal in der Tat hervorragende Ausgangspunkte. Was aber wäre für das Verständnis der in jeder Hinsicht vorbildlichen Haltung von Józef und Wiktoria Ulma gewonnen, wenn man allein diese als blutleere Helden ohne Fehl und Tadel inszenierte, die MuseumsbesucherInnen aber wenig oder gar nichts darüber erführen, wie andere Polinnen und Polen damals dachten und handelten?
Nun ist es keineswegs so, dass negatives Verhalten von Polen gegenüber Juden in dem Museum vollständig ausgeblendet würde. Jeder, der etwas über solche wenig erbaulichen Vorfälle erfahren möchte, wird dazu eine Reihe von Informationen finden. Meist werden solche problematischen Aspekte jedoch nicht eigens betont oder explizit gemacht. So findet sich in der Ausstellung ein Urteil aus einem Nachkriegsprozess gegen mehrere Einwohner von Markowa, die unter Verdacht standen, bei der Suche und der Ermordung von versteckten Juden im Dorf im Dezember 1942 mit der deutschen Polizei kollaboriert zu haben. Eine geduldige Besucherin, die sich die Mühe macht, den in voller Länge ausgestellten seitenlangen Text bis zum Ende durchzulesen, erfährt eine Vielzahl beunruhigender Details über das Verhalten einiger Dorfbewohner während der Besatzungszeit – am Ende wird sie aber beruhigt feststellen, dass alle Beschuldigten aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurden.[7]
Auch die Tatsache, dass der Tod der Familie Ulma und der von ihnen versteckten Juden aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Denunziation durch einen polnischen Hilfspolizisten zurückzuführen ist, wird in der Ausstellung nicht verschwiegen. Hingegen fehlt jeder Hinweis auf den kontroversen Vorwurf des Holocaust-Forschers Jan Grabowski, dass polnische Bauern auf die Nachricht von der Erschießung der Ulmas möglicherweise mit einem Massenmord an versteckten Juden in dem Nachbardorf Sietesz reagiert haben könnten. Obwohl die empirischen Belege für diesen Vorfall in der Tat noch weiterer Prüfung bedürfen,[8] wäre es zweifellos sinnvoll gewesen, Informationen zu vergleichbaren Fällen in das Museum zu integrieren, um ein breiteres Bild von den schwierigen Umständen zu vermitteln, in denen Józef und Wiktoria Ulma ihre Entscheidungen treffen mussten. Ein im wahrsten Sinne des Wortes naheliegendes Beispiel wäre der gut dokumentierte Pogrom in dem kaum 20 Kilometer von Markowa entfernten Dorf Gniewczyna Łańcucka gewesen: Dort durchkämmten im Herbst 1942 Mitglieder der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr aus eigener Initiative das Dorf nach versteckten Juden, sperrten diese tagelang in einem Haus neben der Pfarrkirche ein, raubten sie aus, folterten sie und vergewaltigten wohl die Frauen. Schließlich meldeten sie die gefangenen Juden an die Deutschen, die kaum mehr tun mussten, als diese zu erschießen. Ihre sterblichen Überreste liegen heute auf demselben Friedhof wie die ermordeten Juden aus Markowa.[9]
Solche Details bleiben den Besucherinnen des Museums in Markowa erspart. Die dortige Ausstellung vermeidet es sichtlich, unmissverständlich klar zu machen, dass die moralisch so bewundernswerte Haltung von Józef und Wiktoria Ulma alles andere als typisch für ihre polnischen Mitbürger war. Der außergewöhnliche Mut und die kompromisslose Ethik, die Menschen wie die Ulmas an den Tag legten, dürften so nur schwer zu ermessen sein. Dennoch werden aufmerksame Besucher das Museum nicht verlassen, ohne die Atmosphäre von Ambiguität und Angst wahrgenommen zu haben, die viele Exponate subtil durchdringt. Am greifbarsten wird diese Atmosphäre in einem anonymen Drohbrief, den ein polnischer Einwohner von Markowa nach der Exekution der Familie Ulma und ihrer jüdischen Schicksalsgenossen erhielt. Darin wird er aufgefordert, die von ihm angeblich versteckten Juden „auf irgendeine Weise“ loszuwerden – sonst müsse er ebenfalls damit rechnen, das Schicksal der Ulmas zu teilen.
Auch wenn es den meisten Besuchern des Museums schwer fallen dürfte, die ganze Bandbreite zeitgenössischer Handlungsoptionen nachzuvollziehen, kommen sie vermutlich nicht an der Erkenntnis vorbei, dass der Holocaust keineswegs etwas war, das mit der polnischen Gesellschaft wenig bis gar nichts zu tun hatte. Anstelle der vorherrschenden Bilder des industrialisierten Massenmords in den Gaskammern der Vernichtungslager, wo das Morden von den Deutschen bürokratisch organisiert und penibel durchexerziert wurde, lenkt das Museum mit seinem Fokus auf individuelle Hilfeleistung für Juden im ländlichen Raum unweigerlich die Aufmerksamkeit auf jene Ränder des Holocaust, die bisher im populären Bewusstsein vergleichsweise wenig präsent sind. Da Pogrome und Exekutionen vielfach mitten in polnischen Dörfern stattfanden, erlebte eine große Zahl von Polinnen und Polen die Vernichtung ihrer jüdischen Mitbürger hier ganz konkret. Und in solchen lokalen Kontexten waren Polen auch nicht notwendig dazu verurteilt, den deutschen Terror als passive bystanders zu erdulden, sondern mussten sich zwischen schwierigen Alternativen entscheiden: Sie konnten ihren jüdischen Nachbarn Schutz und Hilfe anbieten, womit sie angesichts des drakonischen deutschen Besatzungs„rechts“ ihr eigenes Leben (und das ihrer Familien) aufs Spiel setzten, oder sie konnten mehr oder weniger aktiv an deren Verfolgung partizipieren. Obwohl das Ulma-Museum seine BesucherInnen leider nicht explizit mit diesen Dilemmata konfrontiert, lässt es doch keinen Zweifel daran, dass das Verhalten lokaler Gemeinschaften und mutiger Einzelner einen Unterschied machen konnte.
Holocaust-Erinnerung lokal, national, transnational
Die programmatische Grundausrichtung des Ulma-Museums in Markowa passt zweifelsohne gut zu den geschichtspolitischen Zielen der neuen polnischen Rechtsregierung. Dass diese das Projekt sichtlich goutiert, lässt sich nicht nur an den wiederholten Besuchen von Staatspräsident Duda in Markowa ablesen, sondern auch am Aufstieg des Initiators des Museums Mateusz Szpytma, der inzwischen zum Vizedirektor des Instituts des Nationalen Gedenkens (IPN) berufen wurde, der zentralen staatlichen Behörde für zeithistorische Forschung und Geschichtspolitik. Es wäre allerdings verfehlt, das Museum allein auf diese politische Dimension zu reduzieren. Zwar verdankt es seine Realisierung überwiegend der seit Jahren von der PiS-Partei dominierten Regionalregierung der Wojewodschaft Karpatenvorland; zugleich scheint es aber authentisch in der lokalen Gemeinschaft verwurzelt zu sein.[10]
Spricht man mit Mateusz Szpytma über den langen Weg bis zur Eröffnung des Museums, so stößt man im Grunde auf eine Geschichte von der Entwicklung und Vertiefung lokalen Geschichtsbewusstseins. Szpytma ist einerseits professioneller Historiker und war lange in der Krakauer Abteilung des Instituts des Nationalen Gedenkens tätig, andererseits stammt er aber selbst aus Markowa und ist mit der Familie Ulma sogar verwandt. Seine Nachforschungen führten im Jahr 2004 zur Errichtung eines Denkmals für die Ulmas, zu dessen Einweihung auch Abraham Segal aus Israel anreiste, der den Holocaust dank der Unterstützung polnischer Bauern in Markowa überlebte. Diese Begegnung weckte nicht nur beträchtliches Medieninteresse, sondern trug auch dazu bei, dass sich der Fokus der bis dahin strikt auf die Hilfeleistung der katholischen Polen beschränkten lokalen Gedenkinitiativen auf die von diesen unterstützten Juden erweiterte. Normale polnische Dorfbewohner, die nach dem Holocaust geboren waren und ihr Leben lang nicht einen einzigen Juden in ihrem Dorf getroffen hatten, wurden erstmals damit konfrontiert, dass Juden über Generationen ein Teil ihrer lokalen Gemeinschaft gewesen waren.
Dieser Prozess einer basisorientierten, an den alltagsgeschichtlichen Erfahrungen ganz normaler Menschen vor Ort anknüpfenden Wiederentdeckung der lokalen Vergangenheit erinnert durchaus an Slogans wie „Grabe, wo du stehst“, die in den 1970er und 1980er Jahren von der westeuropäischen Geschichtswerkstätten-Bewegung propagiert wurden. Zwar sind Szpytma und seine Mitstreiter jener linken Überzeugungen unverdächtig, auf deren Grundlage die westlichen „Barfußhistoriker“ traditionelle Geschichtsbilder in Frage stellten, um den historischen Erfahrungen von Arbeitern, Frauen und anderen subalternen Gruppen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Auch sollte man das Ulma-Museum nicht mit anderen Initiativen in einen Topf werfen, die sich in vielen polnischen Kleinstädten der Wiederentdeckung jüdischer Geschichte verschrieben haben. Indem es einen lokalen Blick auf einen Schlüsselaspekt des Holocaust eröffnet, lässt sich das Museum in Markowa dennoch in mancher Hinsicht als faszinierendes Beispiel eines partizipatorischen Zugangs zu Geschichte von unten begreifen.
Zugleich lässt sich diese lokale Dimension gerade bei einem so stark symbolisch aufgeladenen historischen Gegenstand wie dem Holocaust nicht losgelöst von nationalen und transnationalen erinnerungskulturellen Bezügen betrachten. Die Vereinnahmung des tragischen Schicksals von Józef und Wiktoria Ulma zur Aufbesserung des nationalen Selbstwertgefühls der Polen, wie sie etwa Präsident Duda in seiner Eröffnungsrede demonstrierte, grenzt tatsächlich an „zynische Instrumentalisierung“. Mit der Komplexität der historischen Realität ist sie jedenfalls unvereinbar. Das Ulma-Museum wird sich deshalb nur dann als glaubwürdig erweisen, wenn es solchen durchschaubaren Instrumentalisierungsversuchen nicht weiter Vorschub leistet.
Józef und Wiktoria Ulma eignen sich zweifellos hervorragend, um als positive Vorbilder für eine moderne Zivilgesellschaft zu dienen, die sich selbstlos und offen auf Andere einlässt. Nicht zuletzt liefert ihr Beispiel gelebter christlicher Nächstenliebe ein ziviles Gegenmodell zu dem rücksichtslosen Fanatismus der nationalistischen Nachkriegspartisanen, die von der Geschichtspolitik der polnischen Rechten seit einiger Zeit als „verfemte Soldaten“ (żołnierze wyklęci) glorifiziert werden. Ein Museum zum Gedenken an die polnischen Gerechten, das auf ein überregionales Publikum zielt, kann jedoch nicht umhin, sich über eine enge national-katholische Sinnwelt hinaus zu öffnen und eine ausgewogene Darstellung von positiven und negativen Einstellungsmustern sowie der weiten Grauzone dazwischen zu leisten. Obwohl die Ausstellung in Markowa in dieser Hinsicht einige Wünsche offen lässt, ist die Eröffnung des dortigen Museums zunächst einmal eine gute Nachricht. Da die Kuratoren ausdrücklich ihre Offenheit für zukünftige Veränderungen und Ergänzungen der Ausstellung erklären, besteht die Chance, diese als Ausgangspunkt für weitere Reflexionen über die alltäglichen Dilemmata zu nutzen, vor die der deutsche Terror sowohl Polen als auch Juden gestellt hat.
Gelingt dies hingegen nicht, so wird das Museum in Markowa seine Stimme kaum über den regionalen und nationalen Kontext hinaus hörbar machen können. Es ist ja kein Zufall, dass Deutsche, die Juden vor dem Holocaust gerettet haben, in der transnationalen Holocaust-Erinnerung ihren selbstverständlichen Platz haben, während das für Polen nicht in demselben Maße gilt. Denn im deutschen Kontext werden Judenretter automatisch als Individuen, als Ausnahme von der traurigen Regel betrachtet, während diese Exzeptionalität innerhalb des polnischen Diskurses immer wieder in Frage gestellt wird. Solange aber nicht anerkannt ist, dass Menschen wie die Ulmas und die Tausenden von Polinnen und Polen, die es ihnen gleich taten, anders handelten als die Mehrheit ihrer Landsleute, wird die Welt weiterhin zuerst an NSDAP-Mitglied und Kriegsgewinnler Oskar Schindler denken, wenn es um jene Gerechten geht, die den verfolgten Juden Europas zu Hilfe eilten. Der Eifer, mit dem die gegenwärtige polnische Regierung die Politisierung der Nationalgeschichte vorantreibt, erweist dem ehrenden Gedenken an mutige Polen wie Józef und Wiktoria Ulma deshalb einen Bärendienst.
[1] Eine ausführlichere englischsprachige Fassung dieses Artikels erschien im Dezember 2016 im Forum „Cultures of History“ des Imre-Kertész-Kolleg Jena.
[2] Rezension (pdf-Datei) des Historikers und PiS-Politikers Jan Żaryn zur geplanten Dauerausstellung des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig (24.3.2016), veröffentlicht am 14.7.2016 auf der Website des Museums (englische Übersetzung).
[3] Rede des Präsidenten (rtf-Datei) der Republik Polen bei der Eröffnungszeremonie des Museums der Familie Ulma (offizielle deutsche Übersetzung), 17.3.2016.
[4] Jan Grabowski / Dariusz Libionka: Wsadzili ich na wozy, powieźli jak bydło. Bezdroża „polityki historycznej“: Muzeum w Markowej, in: Gazeta Wyborcza vom 10./11.12.2016, S. 12f. – Vgl. auch die Kritik von Piotr Forecki in Zagłada Żydów. Studia i Materiały 12 (2016).
[5] Die tragische Geschichte der Ulmas ist auf Englisch nachzulesen bei Mateusz Szpytma: The Risk of Survival. The Rescue of the Jews by the Poles and the Tragic Consequences for the Ulma Family from Markowa. Warszawa/Kraków 2009.
[6] Vgl. meinen Artikel: Florian Peters, Polens Streitgeschichte kommt ins Museum. Wie neue Museen in Danzig und Warschau die polnische Geschichtskultur verändern, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2015.
[7] Zu diesem und anderen Nachkriegsprozessen siehe Mateusz Szpytma: Zbrodnie na ludności żydowskiej w Markowej w 1942 roku w kontekście postępowań karnych z lat 1949–1954. In: Zeszyty Historyczne WiN-u, Nr. 40 (2014), S. 39–66.
[8] Museumsgründer Szpytma bezweifelt die Glaubwürdigkeit der Zeugenaussage des jüdischen Überlebenden Yehuda Erlich, auf die sich Grabowskis Darstellung stützt. Vgl. Adam Leszczyński: „Na likwidację Żydów pojechałem. Kowalski Jan“. In: Gazeta Wyborcza vom 30–31.7.2016, S. 23; Szpytma: Zbrodnie na ludności żydowskiej w Markowej (wie Anm. 7), S. 52, Fußnote 54; sowie die jüngste Kontroverse zwischen Szpytma und Grabowski/Libionka in der Gazeta Wyborcza vom 7.–8.1.2017, S. 25.
[9] Tadeusz Markiel / Alina Skibińska: „Jakie to ma znaczenie, czy zrobili to z chciwości?“ Zagłada domu Trynczerów. Warszawa 2011.
[10] Die Regionalregierung finanzierte mit 7,5 Mio. Złoty (ca. 1,8 Mio. Euro) den Löwenanteil der Baukosten; eine weitere Million (ca. 240.000 Euro) stammte vom Kulturministerium der damaligen liberalen Regierung.