Als am 6. Dezember des vergangenen Jahres die Mannschaft des neuen Berliner Senats vorgestellt wurde, überraschte die Linke mit einem Coup. Die neue Senatorin für Bau- und Wohnungswesen Katrin Lompscher (Die Linke) bestimmte den Berliner Stadtsoziologen Andrej Holm zum Staatssekretär für Wohnen. Der profilierte Gentrifizierungskritiker der Humboldt-Universität sollte die Wohnungspolitik in der wachsenden Hauptstadt in sozial verträglichere Bahnen lenken. Kurz darauf wurde jedoch öffentlich, dass Holm als 18-Jähriger im Herbst 1989 für fünf Monate als hauptamtlicher Mitarbeiter für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR tätig gewesen war. Der Zusammenbruch des SED-Regimes setzte seiner Stasi-Laufbahn, die er bereits im Alter von 14 Jahren mit einer Selbstverpflichtungserklärung eingeschlagen hatte, allerdings ein frühes Ende. Holm hatte aus seiner angestrebten Karriere für die Stasi zwar nie einen Hehl gemacht, jedoch verschwiegen, dass er seit dem September 1989 hauptamtlicher Mitarbeiter der Stasi gewesen war. Dies zumindest belegt seine Personalakte, die wenige Tage nach seiner Vorstellung als designierter Staatssekretär von der „B.Z.“ veröffentlicht wurde. Aus dem geplanten Überraschungskandidaten des neuen rot-rot-grünen Senats wurde eine böse Überraschung.
Bemerkenswert allerdings ist der Verlauf der Debatte um den so genannten Fall Holm, die seit Mitte Dezember die Berliner Öffentlichkeit beschäftigt und noch immer nicht abgeklungen ist. Zunächst ging es um Holms Verfehlung als jugendlicher Stasi-Mitarbeiter. Kritiker warfen ihm vor, für den SED-Überwachungsapparat noch in der letzten Phase seines Machterhalts gearbeitet zu haben, und sahen die Personalie Holm als weiteren Beleg für den mangelnden Aufarbeitungswillen der Partei Die Linke. Andere hingegen verteidigten Holm mit Verweisen auf seine Jugend, die kurze Zeit seiner Tätigkeit für die Stasi und schließlich die 27 Jahre, die seitdem ins Land gegangen sind. Dabei werteten sie die Debatte als gezielte Kampagne gegen eine linke Wohnungspolitik. Pro und Kontra gingen quer durch die Medienlandschaft, ja oft quer durch die Redaktionen einzelner Tageszeitungen. Zugleich wurde der Fall mit Vehemenz in den sozialen Medien diskutiert, wobei apodiktische Urteile gegenüber abwägenden Stellungnahmen wie üblich überwogen.
Die „Causa Holm“ trat in eine zweite Phase ein, als die Humboldt-Universität zu Berlin öffentlich machte, Holm habe bei seiner Einstellung im Jahr 2005 beim Ausfüllen eines Fragebogens nicht angegeben, früher als hauptamtlicher Mitarbeiter für das Ministerium für Staatssicherheit tätig gewesen zu sein. Er hatte lediglich erwähnt, seinen Wehrdienst im MfS-Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ geleistet zu haben.
Ins Zentrum der Debatte rückte damit die Frage, ob er bei seinem Einstellungsverfahren an der Humboldt-Universität gelogen habe. Holm berief sich darauf, sich an eine hauptamtliche Tätigkeit nicht erinnern zu können. Kritiker warfen ihm mangelnde Glaubwürdigkeit vor und erachteten ihn nun vor allem deshalb als ungeeignet für das Staatssekretärsamt. Verteidiger wiederum verwiesen auf die existenziellen Auswirkungen, die eine ehrliche Antwort auf die Stasi-Frage für Holms wissenschaftliche Karriere im öffentlichen Dienst gehabt hätte. Es ging fortan weniger um seine Stasitätigkeit, sondern vielmehr um Holms Umgang damit. Der sekundäre Skandal überdeckte zusehends das jugendliche Fehlverhalten, dessen tatsächliches Ausmaß nach bisherigem Kenntnisstand eher begrenzt gewesen scheint.
Die dritte Phase der Debatte wurde durch eine Ankündigung des Berliner Senats ausgelöst. Der Senat wollte seine politische Entscheidung über den Verbleib Andrej Holms im Staatssekretärsamt nun an die Verwaltungsentscheidung der Humboldt-Universität knüpfen. Die Universität hatte in der Zwischenzeit eine Anfrage bei der Stasiunterlagenbehörde gestellt und Holm zu detaillierten Auskünften über seine Stasitätigkeit aufgefordert. Kritiker attestierten daraufhin dem Senat ein mangelhaftes Krisenmanagement und argwöhnten, Holm halte sich nur aufgrund eines politischen Stillhalteabkommens zwischen der Linken und der SPD noch im Amt. Mieterverbände und Angehörige der Universität erklärten sich dagegen in breiter Front solidarisch mit Holm und verliehen ihrer Befürchtung Ausdruck, dass Holm bei einer negativen Prüfung durch die Universität um seine gesamte berufliche Existenz gebracht würde – sowohl als Wissenschaftler als auch als Staatssekretär.
Dies war der Stand der Debatte, als am vergangenen Freitag, dem 6. Januar 2017, die Robert-Havemann-Gesellschaft in das Kulturzentrum „Sebastian Haffner“ im Prenzlauer Berg lud, um unter der Fragestellung „Einmal Stasi – immer Stasi?“ über den Fall Holm zu diskutieren. Die Debatte sollte vor allem mit Andrej Holm selbst stattfinden, der sich erstmals seit dem Bekanntwerden der Vorwürfe einer größeren öffentlichen Diskussion stellte. Zunächst hatten die Veranstalter jedoch den DDR-Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk von der Stasiunterlagenbehörde gebeten, in einem Impulsvortrag seine Sicht auf den „Fall Holm“ vorzutragen. Auffallend an diesem Abend war nicht nur die extrem aufgewühlte Atmosphäre im überfüllten Saal, in den immer mehr Menschen lautstark Einlass begehrten und damit Kowalczuks Vortrag unterbrachen. Bemerkenswert war vor allem der ausgewogene Ton, den der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in seiner Analyse traf.
Als scharfer Kritiker der DDR bekannt, offenbarte Kowalczuk zunächst erstaunliche Parallelen zwischen seiner eigenen Biographie und jener Andrej Holms. Wie Holm stamme er aus einer linientreuen Familie und habe im jugendlichen Alter von 12 Jahren eine Selbstverpflichtung für eine Offizierslaufbahn bei der NVA unterschrieben, ganz so wie Holm dies mit 14 Jahren für die Stasi getan habe. Holm sei, aufgrund seines Alters, zunächst also Opfer des Systems gewesen. Dann aber hätten sich die biographischen Wege der beiden getrennt. Während Kowalczuk zunehmend angeeckt sei, habe Holm seinen Weg in das System geradlinig und bewusst weiterverfolgt. Kowalczuk kann daher auch nicht nachvollziehen, dass sich Holm nicht an seine hauptamtliche Tätigkeit für die Stasi zu erinnern vermag, denn jeder DDR-Bürger habe in dieser Frage genau gewusst, was er tat und wozu er sich verpflichtete.
Anders als mancher im Saal es nun erwartet hätte, rechnete Kowalczuk daraufhin jedoch nicht mit Andrej Holm und seiner Stasitätigkeit ab, sondern problematisierte den bisherigen Verlauf der Aufarbeitung der DDR-Geschichte, die mit der alleinigen Fokussierung auf die Stasi einen Sündenbock gefunden habe, während die Hauptschuld der Einheitspartei lange außer Acht gelassen worden sei. Vor dem Hintergrund des vielfach praktizierten kompletten Ausschlusses ehemaliger hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter aus dem öffentlichen Dienst äußerte Kowalczuk durchaus Verständnis für das Dilemma, vor dem Holm bei seiner Einstellung an der Humboldt-Universität gestanden habe. Hätte er das richtige Kreuz gesetzt, wäre seine Karriere als Wissenschaftler extrem gefährdet gewesen. Dagegen warf er den Protagonisten der gegenwärtigen Debatte vor, die Personalie Andrej Holm für ihre jeweils eigenen Zwecke zu instrumentalisieren: Die Linke sei geschichtsvergessen und versuche, eine neue Wählerschaft anzuziehen. Der SPD und den Grünen gehe es dagegen allein um den Machterhalt. Die CDU und die FDP seien gut beraten, sich lieber der Vergangenheit der Blockparteien zu widmen, die sie selber diskussionslos übernommen hätten. Die Aufarbeitungsszene agiere wie gewohnt reflexhaft, während die Mehrzahl der JournalistInnen ungenau recherchiere.
Nach diesem Rundumschlag blieb nur noch Zeit für ein pessimistisches Fazit: Kowalczuk befürchtet, dass jede Entscheidung, die nun getroffen werde, fehlerbehaftet sein werde – egal ob Holm schließlich im Amt verbleibe, zurücktrete oder entlassen werde.
Andrej Holm griff die Steilvorlage, die Kowalczuk ihm mit seiner differenzierten Analyse geboten hatte, jedoch nicht auf und zeigte wenig Problembewusstsein. Er verwies vielmehr auf das selektive Erinnerungsvermögen des Menschen und beteuerte, dass er sich nicht an eine hauptamtliche Tätigkeit für die Stasi erinnern könne. Statt seinen Umgang mit der Stasi-Vergangenheit offen zu thematisieren und sich selbst zu befragen, verwies er lediglich auf das laufende Verfahren an der Humboldt-Universität und seinen Anwalt, der ihn „in den Folterkeller werfen würde“, wenn er sich öffentlich zu seinen Angaben auf dem Fragebogen äußern würde. Das war taktisch und juristisch nachvollziehbar, aber ungeschickt. Zumal sich Holm im Laufe des Abends immer wieder darüber mokierte, dass es nur noch um sein Kreuz von 2005 ginge und nicht mehr um die eigentliche Stasitätigkeit, mit der er sich ja kritisch auseinandergesetzt habe. Im Übrigen sei die Veranstaltung anders verabredet worden, beklagte sich Holm und verlor damit weiter an Souveränität, während die moralisierende Moderatorin Ulrike Bieritz mit ihrer Rolle sichtlich überfordert war. Holm verstieg sich in recht unglückliche Vergleiche über Stasi, Fleischkonsum und Vegetarismus und konnte das Problem der Glaubwürdigkeit, das ihm Kowalczuk vorhielt, nicht nachvollziehen, da er weiterhin davon ausging, alles offenbart und selbst am meisten zur Aufklärung seines Falles beigetragen zu haben. Die Hälfte des Publikums bedachte dies nur noch mit Hohn, während die andere Hälfte eine Verschwörung des Establishments gegen den Gegner der Gentrifizierung am Werke sah. So endete der Abend als eine weitere vertane Chance. Dabei wäre es möglich gewesen, an diesem Freitagabend einen differenzierteren Blick auf die Stasi-Schuld zu werfen und die Aufarbeitung der SED-Diktatur kritisch zu bilanzieren.
Aktuell dazu von unserer Kollegin Marion Detjen im Blog 10vor8 der ZEIT vom 16.1.2017: Es bleiben nur Verlierer. Der Berliner Bau-Staatssekretär Andrej Holm tritt wegen seiner Stasi-Vergangenheit zurück. Die Debatte um Wohnungspolitik und das Erbe der DDR muss jetzt erst beginnen.