von René Schlott

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2. Februar 2018

Eine feste, tiefe und entschlossene Stimme erschallt unter der Kuppel des Reichstages, dessen Flaggen auf halbmast wehen. Vor voll besetzten Stuhlreihen berichtet die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch von Breslau, Auschwitz und Bergen-Belsen, den drei Stationen ihres Lebens, die sie als Jugendliche tief geprägt haben. Am Arm des Bundespräsidenten war die 92-Jährige seit Kriegsende in Großbritannien lebende Lasker-Wallfisch in das Plenum des Bundestages gekommen. Frei von Pathos und Emotionalisierungen spricht Lasker-Wallfisch von der Zerstörung ihrer assimilierten deutsch-jüdischen Familie in Breslau durch die Nationalsozialisten, von der Deportation und Ermordung ihrer Eltern 1942, ihrer eigenen Zeit im Mädchenorchester des Vernichtungslagers Auschwitz 1943/44 und vom Transport nach Bergen Belsen Ende 1944, wo sie schließlich wenige Monate später von englischen Truppen befreit wurde. Begleitet wird Lasker-Wallfisch im Bundestag von ihrer eineinhalb Jahre älteren Schwester Renate Lasker-Harpprecht, mit der sie gemeinsam die Lager überlebte. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebenserfahrungen warnt Lasker-Wallfisch am Ende ihrer Rede vor Hass, mit dem man sich nur selbst vergifte, und sie drückt die Hoffnung aus, dass auch der gegenwärtige Antisemitismus ein Ende haben wird und letztlich der Verstand siegen möge. Das Plenum spendet ihr stehend Applaus.

Am Mittwochnachmittag war neben dieser eindrucksvollen Rede auch ein interessantes Déjà-vu im Bundestag zu beobachten: Denn die vom Bundestagspräsidenten zum Holocaust-Gedenktag geladene Rednerin lobt am Ende ihrer Ansprache die Migrationspolitik der nur wenige Meter vor ihr sitzenden Bundeskanzlerin insbesondere deren Entscheidung im September 2015, die deutschen Grenzen nicht zu schließen. Wie Ruth Klüger 2016, hat auch Anita Lasker-Wallfisch ihre Rede nicht auf die reine Nacherzählung ihres Überlebens beschränkt. Nein, beide Frauen nutzten das Podium auch für ihre ganz persönlichen Bemerkungen zur aktuellen politischen Situation. Und doch gab es einen entscheidenden Unterschied zu 2016: Während vor zwei Jahren noch der ganze Saal bei dieser Redepassage applaudierte, bleiben die Hände diesmal bei einer Fraktion unbewegt: die der AfD.

Dass deren Abgeordnete ganz rechts außen der Rednerin und ihrem Sohn Raphael, der in der Gedenkstunde selbst Cello spielt, am nächsten sitzen, wird auf der Zuschauertribüne noch vor Beginn der Gedenkfeier aufmerksam registriert. Sorgenvoll blicken die Zuschauerinnen und Zuschauer in das Plenum auf die Abgeordneten dieser Partei, sprechen davon, dass sich die Gedenkstunde in diesem Jahr anders „anfühle“. Denn der nach Jahrzehnten des kollektiven Beschweigens und versuchten Entlastens erkämpfte bundesrepublikanische Erinnerungskonsens ist von dieser seit 2017 im Bundestag vertretenen Partei faktisch aufgekündigt worden. Deren Funktionäre und Abgeordnete forderten öffentlich ein Ende des „Kults mit der Schuld“ (Wilhelm von Gottberg) und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ (Björn Höcke). Auf Seite 48 des letzten AfD-Wahlprogramms heißt es: „Die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiv identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst.“

Diesen Gefallen hat ihnen Anita Lasker-Wallfisch getan - aber sicher anders als von den Rechtspopulisten erwartet: Sie hebt in ihrer Rede einzig die Migrationspolitik aus dem Herbst 2015 als positiven Aspekt der jüngeren deutschen Geschichte hervor. Als Lasker-Wallfisch von Jugendlichen in einer Gesprächsrunde nach der Gedenkrede gefragt wird, was ihr durch den Kopf gegangen sei, als sie vor AfD-Abgeordneten sprach, antwortete sie unumwunden: „Nichts. Gott sei Dank, wusste ich gar nicht, wo die sitzen.“ Und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble räumt ein, dass man im Vorfeld Sorge um das Verhalten der AfD-Abgeordneten gehabt habe, es aber offensichtlich einen laufenden „Erziehungsprozess“ gebe, denn die Abgeordneten hätten ja an den meisten Stellen applaudiert, und seien am Ende wie alle anderen aus Respekt vor der Rednerin aufgestanden.

In seiner eigenen Rede hatte Schäuble immer wieder betont: „An Auschwitz scheitert jede Gewissheit.“ Und in der Diskussionsrunde mit Jugendlichen aus Frankreich und Deutschland macht er deutlich, dass dies nicht nur hohle Phrasen für ihn gewesen seien: Je mehr er sich mit dem Holocaust beschäftigt habe, desto unbegreiflicher sei ihm das Geschehene geworden.

Und doch ist der Tag nicht frei von Gedenkroutine. Zum 23. Mal kamen die Parlamentarier zusammen um an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern, nachdem der damalige Bundespräsident Roman Herzog den nationalen Gedenktag 1996 proklamiert hatte. Der 27. Januar sollte dabei Jahr für Jahr an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee 1945 erinnern. Dass der Bundestag nun mit viertägiger Verspätung zusammenkam, hat mit Beginn der üblichen Sitzungswoche zu tun. Für die Abgeordneten war die gut einstündige Gedenkfeier deshalb nur ein Termin unter Vielen. Am Vormittag konstituierten sich die Fachausschüsse und unmittelbar nachdem die Gedenkreden beendet waren, wurden die drei weißen Blumengebinde eilig beiseite geräumt, um den Stenographen wieder ihren Platz frei zu machen. Im Plenum debattierte man anschließend über den Jahreswirtschaftsbericht 2018.

 

Buchtipp: Anita Lasker-Wallfisch, Ihr sollt die Wahrheit erben. Breslau – Auschwitz - Bergen-Belsen, Göttingen 1997.