von Annette Schuhmann

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22. November 2018

Es sind die Bilder, die von der ersten Szene an einen Sog ausüben, das warme Licht auf den Gegenständen, der Blick auf die Platanen vor dem Fenster, die Sonne, die sich im blankgeputzten Parkett spiegelt. Es sind die warmen, satten Farben einer Wohnung, die bewohnt ist, wirklich bewohnt. Einer Wohnung, die den bernsteinfarbenen Glanz Belgrader Bürgerlichkeit der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts nur noch erahnen lässt, deren Verfall noch immer von längst vergangener Eleganz zeugt. Um diese Wohnung und ihre Bewohnerin rankt sich die Geschichte, die die 1979 geborene Regisseurin Mila Turajlić in ihrer preisgekrönten Dokumentation erzählt.


Filmstill: Srbijanka Turajlić beim Putzen des Tafelsilbers. © jip film & verleih.

 

Die Wohnung ist, ebenso wie die Stadt, in der sie liegt, wie das Land, das nicht mehr existiert, geteilt und zutiefst gespalten.
Die Bewohnerin der Wohnung, Srbijanka Turajlić, ist die Mutter der Regisseurin.
Sucht man im Netz nach ihrem Namen und beherrscht die serbische Sprache nicht, wird es dünn. Lediglich ein kurzer Text in der englischsprachigen Wikipedia erwähnt die Eckdaten eines Lebens, das nicht einmal annähernd in die 100-minütige Dokumentation passt.

Die 1946 geborene Srbijanka Turajlić gehörte zum nationalen Team der 6. Mathematik-Olympiade 1964 in Moskau. Die Mitglieder dieses Teams treffen sich noch immer regelmäßig in der bernsteinfarbenen Wohnung. Turajlić studierte elektrotechnische Ingenieurswissenschaften in Belgrad und Grenoble und promovierte im Jahr 1979. In den frühen achtziger Jahren unterrichtete sie in Monterey/Kalifornien und wurde danach Professorin an der Fakultät für Elektrotechnik der Belgrader Universität. Während der jugoslawischen Kriege in den 1990er Jahren gehörte sie zu den unerschrockenen kritischen Stimmen Serbiens, war aktives Mitglied der ganz Osteuropa prägenden Demokratiebewegung OTPOR und maßgeblich beteiligt am Sturz des Kriegstreibers Slobodan Milošević im Oktober des Jahres 2000.
Es gibt Szenen, in denen sie auf der Bühne steht, umgeben von zigtausenden Menschen, die ihre Reden mit frenetischem Applaus feiern. Nach der Revolution und dem Sturz Miloševićs wurde sie Bildungsministerin in der ersten demokratischen Regierung Serbiens.

Die Geschichte der in Teilen enteigneten Wohnung und ihrer scharfsinnigen und mutigen Bewohnerin Srbijanka Turajlić ist eine exzellent erzählte Analogie der wechselvollen Geschichte Jugoslawiens. Die Regisseurin verknüpft die verschiedenen Erzählstränge zu einer bewegenden Meistererzählung darüber, wie Geschichtskonstruktion, Gewaltherrschaft und Ideologie Einzelschicksale formt oder besser verformt. Es ist, als schaue man nicht durch die Kamera, sondern durch ein Mikroskop und beobachte, wie der Verlauf der jüngeren Geschichte Jugoslawiens auch noch die Nachgeborenen mit den Übeln des Ressentiments, der Lüge und der Angst infiziert. Und offenbar scheint es in den Augen der Jüngeren, der „Nachkriegskinder“, nur der Weg ins westliche Ausland zu sein, der ein normales Leben möglich macht.


Filmstill: Die verschlossene Tür. © jip film & verleih.

 

Der Film beginnt mit dem Blick auf eine verschlossene Zimmertür. Die Verriegelung der Tür war das Ergebnis einer angeordneten Teilung der großbürgerlichen Wohnung Mitte der 1940er Jahre. Damals zogen Volkskommissare durch die bürgerlichen Viertel Belgrads und teilten die großen Wohnungen der Bessergestellten mit dem Zollstock. In der Folge prallten die Klassengegensätze, die die Belgrader Gesellschaft prägten, auf engstem Raum aufeinander. Es entstand in der noch jungen sozialistischen Republik Jugoslawien eine soziale Melange, die in ganz Osteuropa zu beobachten war und die, da sie durch Dekrete verfügt worden war, nur von einer dünnen Lackschicht des Gehorsams und der Angst überzogen war. Der Preis für diese aufoktroyierte Form des sozialen Miteinanders sollte später gezahlt werden.

Die Geschichte dieser Wohnung weitet sich in der Dokumentation Mila Turajlićs zur Geschichte Jugoslawiens, zur Geschichte eines Vielvölkerstaates, der seit seiner Gründung im Jahr 1918 mit einem extremen Entwicklungsgefälle zwischen den wohlhabenden Regionen im Norden und den ärmeren Gegenden im Süden zu tun hatte.
Und trotzdem hielten sich die multiethnischen Konflikte bis zum Beginn der 1980er Jahre in Grenzen. Jedenfalls belegen Umfragen, dass die interethnischen Beziehungen am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft von der Mehrheit der jugoslawischen Bevölkerung als gut bezeichnet wurden und die Distanz zwischen den verschiedenen Volksgruppen geringer war als beispielsweise in den USA.

 

„Niemand weiß, wie ein Krieg beginnt... Bis er anfängt...“ (Srbijanka Turajlić)

Und dennoch: Elf Jahre nach dem Tod Titos im Jahr 1980 begannen die jugoslawischen Kriege. Zwei bis drei Millionen Menschen wurden Opfer der Paranoia von Nationalisten aller Konfliktparteien.[1] Am Ende der Kriege wurde Jugoslawien in sieben Nachfolgestaaten geteilt. Weder der Krieg und seine Folgen noch die Ursachen dafür wurden in den Gesellschaften des ehemaligen Jugoslawiens offen diskutiert. Die Nachwirkungen der Kriege, das macht auch die Dokumentation mit jeder Filmsekunde deutlich, werden noch lange zu spüren sein. Wobei die Erwartung, dem Kriegsende könne eine zeitnahe kritische Auseinandersetzung mit den Ursachen, dem Verlauf und den Auswirkungen des Krieges folgen, vollständig „wirklichkeitsfremd“ ist, merkt der Historiker Holm Sundhaussen zu Recht an. Auch in Deutschland hat das, was mit dem Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“ umschrieben wurde, erst zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begonnen. Und damals wurde dieser Prozess begleitet von heftigen Widerständen großer Teile der Gesellschaft.[2] Wer verstehen will, woran dieser einst friedliche multiethnische Staat zerbrochen ist, sollte sich Zeit nehmen für die Arbeiten des 2015 verstorbenen Südosteuropa-Historikers Holm Sundhaussen. Es gibt im deutschsprachigen Raum kaum eine Stimme, die sich derart leidenschaftlich und kenntnisreich zur Geschichte Jugoslawiens geäußert hat.[3]

 

Aber wann brach Jugoslawien auseinander?

Die Runde der ehemaligen TeilnehmerInnen der Mathematik-Olympiade, die sich am großen Tisch in der Wohnung Srbijanka Turajlićs trifft, fragt sich: Wann genau hat der Krieg begonnen? Und: Wäre er zu verhindern gewesen?

Und dann kommen die Bilder: Verhandlungen im serbischen Parlament von 1989, an deren Ende die Autonomie des Kosovo drastisch beschränkt wurde. Panzer der jugoslawischen Armee an der Grenze Sloweniens, erschreckende Bilder aus der Phase der Hyperinflation in Belgrad, leergefegte Supermärkte im Jahr 1990, verzweifelte Eltern, die ihre Söhne zurückfordern. Söhne, die ihren Militärdienst angetreten hatten und sich in einem Krieg wiederfanden, den sie nicht verstanden. Und später die Särge und noch mehr Särge, die ganze unglaubliche Brutalität, die auch über die Bildschirme des Westens lief, der Wahnsinn eines Krieges, der die ProtagonistInnen des Films noch heute ratlos zurücklässt.
Aber es gibt auch andere Bilder, jene der Demonstrationen gegen den Krieg, Bilder von mutigen Studierenden, die in Anwesenheit Miloševićs erklären, dass er endlich abtreten soll und dass niemand von ihnen in den Krieg ziehen will: Bilder von tausenden Demonstranten auf der einen und ebenso vielen auf der anderen Seite. Diese Bilder beschämen, weil der Westen so wenig Notiz von der Demokratiebewegung in Serbien genommen hat. Die exzellenten Texte von Erich Rathfelder (taz) und Matthias Rüb (FAZ) gehörten im Verlauf der Kriege zu den wenigen reflektierten und vor allem informierten Berichten aus der Balkan-Region. Aber bereits nach den Verhandlungen in Dayton Ende 1995 sank das Interesse der Medien an der geschundenen Region deutlich.
So ist die Enttäuschung der Intellektuellen, die sich in der Wohnung Srbijanka Turajlićs treffen, über den Westen kaum zu überhören: „Erst war Milošević für den Westen der Garant für Stabilität und Sicherheit und kurz darauf der Schlächter vom Balkan.“

 

„Wird die Freiheit so schön klingen, wie die Unterdrückten über sie singen...?“ (Srbijanka Turajlić)

Die Reflexionen am großen Tisch im Wohnzimmer über das Warum des Krieges, die hitzigen Diskussionen über den Zustand der serbischen Gesellschaft, die Schwäche der Demokratiebewegung, durchziehen den Film. Es wird diskutiert und geraucht, geschwiegen, gelacht und immer wieder diskutiert. Warum zerbricht eine scheinbar stabile Gesellschaft in derart kurzer Zeit und was sind die Gründe für die exzessive Gewalt während der Kriege? Die Historikerin Marie-Janine Calic zieht in ihren Analysen zur Zeitgeschichte Jugoslawiens eine Linie vom 19. Jahrhundert hin zu den „ethnischen Säuberungen“ im Verlauf des Bosnien-Krieges.[4] Vielleicht war es aber auch der Konflikt im Kosovo oder die schwere Wirtschaftskrise der 1980er Jahre, der Verfassungsstreit um die Verfassung von 1974, der Verlust der legitimatorischen Kraft, die Tito trotz allem bis zu seinem Tod besaß?


Filmstill: Srbijanka Turajlić. © jip film & verleih.

 

Die Kamera bleibt dicht an den Gesichtern. Als Tochter der Gastgeberin ist die Regisseurin den BesucherInnen vertraut, verlieren sich Posen, Eitelkeiten und Verunsicherung der ProtagonistInnen schnell. Wir sehen Menschen, die sich fast dreißig Jahre nach Beginn der Kriege fragen: Wie konnte das geschehen? Die Kamera zeigt uns Ratlosigkeit und Trauer und immer wieder lautstarke Diskussionen über die Zeit danach, über die Entmachtung Miloševićs, die Ohnmacht der Demokratiebewegung, über die Sehnsucht nach dem „starken Mann“. Als hätten nicht vor allem die „starken Männer“ das Land in diese Situation gebracht.

An einer Stelle verändert sich der Blick Srbijanka Turajlićs, ist er von Trauer und Resignation getrübt: Hätte ich die Geschichte besser studiert, erklärt sie, hätte ich wissen müssen, dass alle Revolutionen scheitern.

Am Ende des Films wird die Tür zum anderen, dem „gestohlenen Zimmer“ geöffnet. Die mittlerweile 90-jährige Bewohnerin, Proletarierin, als die sie sich selbst bezeichnete, ist gestorben. Was bleibt, ist ein Raum, in dem Chaos herrscht, ein Zimmer, das die Geschichte einer isolierten und kranken alten Dame erzählt. Ein Zimmer, das von der Geschichte einer Idee erzählt, die nie verwirklicht wurde.

Der Film ist ein Lehrstück über die Geschichte Jugoslawiens, über das Scheitern der serbischen Demokratiebewegung, darüber, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist.
Es gibt, vielleicht von der Regisseurin unbeabsichtigt, ein Rauschen, ein Nebengeräusch, das, so kann man es deuten, ein Signal ist:
Demokratie ist nichts, was einfach da ist. Sie ist wie eine empfindliche Pflanze, die gepflegt werden muss, und zwar zu jeder Zeit und von allen, sonst sitzen auch wir eines Tages ratlos in unseren schönen großen Wohnungen und fragen uns: Warum?

 

Die andere Seite von allem – eine politische Geistergeschichte“
Originaltitel: Druga strana svega/The other side of everything
Ein Dokumentarfilm von Mila Turajlić, produziert von Dribbeling Pictures SE, Survivance FR; 104’; Regie und Kamera: Mila Turajlić
(Serbien, Frankreich, Katar 2017)
Verleih: jip film & verleih
Kinostart in Deutschland: 15.11.2017

Pressemappe Die andere Seite von allem


[1] Holm Sundhaussen, Der Zerfall Jugoslawiens und dessen Folgen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 24.7.2008.
[2] Annette Schuhmann und Robert Lučić, Nach den Kriegen. Jugoslawien zwischen juristischer Aufarbeitung und forcierter Erinnerungspolitik, in: Zeitgeschichte-online, Juli 2013.
[3] Holm Sundhaussen, „Wenn ein Deutscher eine serbische Geschichte schreibt…“[*]. Ein Beitrag zum (Miss)Verstehen des Anderen, in: Zeitgeschichte-online, März 2011, und Holm Sundhaussen, Zwanzig Jahre nach dem Kriegsbeginn in Bosnien. Kriegsfolgen und ihre Aufarbeitung, in: Zeitgeschichte-online, April 2012.
[4] Marie-Janine Calic, Der erste „neue Krieg“? Staatszerfall und Radikalisierung der Gewalt im ehemaligen Jugoslawien, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 2 (2005), H. 1, Druckausgabe: S. 71-87.