Fassen wir zusammen: Wer sich aus wissenschaftlicher Distanz mit der Geschichte südosteuropäischer Gesellschaften beschäftigt, rückt früher oder später ins Fadenkreuz nationaler Eiferer, die unermüdlich auf der Suche nach „Feinden“, „Verschwörungen“ und „Verrätern in den eigenen Reihen“ sind. "Viele meiner Landsleute waren wütend auf mich. Die Serben stellen sich immer gleich komplizierte Verschwörungen vor“, schreibt der in Belgrad geborene, seit 1953 in den USA lebende Charles Simic. „Für sie sind alle Ereignisse bloße Kulissen, hinter denen irgendwelche geheimen Absichten stecken. Dass meine Meinung, das Ergebnis schlafloser Nächte und zahlloser Gewissenqualen, von mir selber stammte, war undenkbar für sie. Es gab Andeutungen bezüglich meiner Familie, Hinweise, dass wir ihnen schon seit Jahren verdächtig waren, dass wir Fremde seien, denen es über Jahrhunderte hinweg gelungen sei, als Serben durchzugehen."[1]
Die serbischen Eiferer sind nicht allein. Sie haben Gesinnungsgenossen in Albanien, Bulgarien oder Griechenland ebenso wie in anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawien sowie außerhalb der Region.[2] Im Juni 2008 erhielt ich von einem 29jährigen Kroaten, der Geschichte, Geographie und Pädagogik im Lehramt studiert, eine Email. Darin hieß es: „Als Kroate, Historiker und an wissenschaftlichen Werken interessierter Mensch verfolge ich seit geraumer Zeit einiger Ihrer neuen und auch älteren Publikationen. Soeben habe ich mir Ihre Rezension über Josip Jurčevićs Werk durchgelesen.[3] Selbst als Nicht-Kroate muss man sich nach dem Durchlesen Ihrer Beiträge fragen: Woher stammt diese verbissene antikroatische Haltung und dieser, ja man [kann] ruhig offen sagen: Hass gegenüber dem ehemaligen kroatischen Staatsmann Franjo Tudjman? Wo lieg[en] die Wurzeln? Es ist für mich offensichtlich, dass ein Geschichtsprofessor (!), der das gesamte Gefüge des politischen Handelns eines Staatsmannes nicht begriffen hat, stattdessen aber einzelne Fehltritte, die es zweifelsohne gegeben hat, ins Unermessliche hochputscht, überfordert ist mit der Komplexität der neueren kroatischen Geschichte und deren Akteuren. (…) Man könnte etwa mit Maria Todorovas Werk ‚Die Erfindung des Balkans: Europas bequemes Vorurteil’ anfangen. Wir Kroaten haben es satt, von den westlichen Medien und Institutionen (zu einer von diesen gehören auch Sie und begründen Ihre Mitgliedschaft mit Ihren Publikationen immer wieder aufs Neue) und von den ‚jugoslawischen Kroaten’ in [den] politische[n], kulturelle[n] und geographische[n] Balkan gedrängt zu werden! Denn mit dem Versuch der Balkanisierung, somit dem Versuch der Verschmelzung Kroatiens mit den östlichen Nachbarn, hat das schlimmste Übel für die Kroaten im Wesentlichsten angefangen.“
Acht Monate später erreichte mich die Email eines deutschen Diplomingenieurs, der seit mehreren Jahren in Serbien lebt und mit einer Serbin verheiratet ist. Er schreibt: „Die Kritik über Ihr o.g. Buch [Geschichte Serbiens vom 19. bis 21. Jahrhundert] im serbischen Politmagazin NIN[4] hat mir im wahrsten Sinne erspart, es zu lesen. Aus der Kritik wird wieder einmal deutlich, dass Deutsche kein gutes Bild von Serben haben. Warum ist das so? Haben die Deutschen Angst vor den Serben oder vielleicht Sie persönlich? (…) Woher nun dieser ‚Serbenhass’, wobei die Aggression nur von deutscher Seite ausgeht? (Kein serbischer Soldat hat im 20. Jahrhundert einen Fuß auf deutsches Territorium gesetzt). Für mich ist das komplett unverständlich und irrational. Ich kann mich für die deutsche Sicht eigentlich nur schämen.“ Wenige Tage danach veröffentlichte ein gewisser Dragomir Andjelković in der Zeitschrift „Nova srpska politička misao“ nachstehenden Kommentar: „Darüber dass die Deutschen, zumindest im Bereich der geistigen Entlastung, zu den größten Profiteuren der medialen Satanisierung der Serben gehören, erinnerte mich ein Buch. Es handelt sich um die ‚Geschichte Serbiens vom 19. bis 21. Jahrhundert’ des deutschen Historikers…Holm Sundhaussen. (…) Die Serben werden dargestellt als Leute, denen das Schicksal die Rolle von Parias zugewiesen hat, und die Deutschen können sich trösten, denn sie mussten das nur für kurze Zeit sein. Das von diesem Geist durchdrungene Buch, das in seiner Funktion als Propaganda und (wahrscheinlich auch aus Nichtwissen) voller materieller Fehler und Missbräuche der Vergangenheit steckt, wurde in die serbische Sprache übersetzt dank Unterstützung des deutschen und österreichischen Außenministeriums. Wahrscheinlich damit auch wir fühlen, wie den Deutschen zumute war, als sie zum Zweck der Indoktrination mit fremden und – Hand aufs Herz – ebenso bösartigen Deutungen ihrer Vergangenheit bombardiert wurden. Und außerdem damit auch unsere nationalen Masochisten eine kultisch-historische Lektüre bekommen. Damit sie sich selbst zusätzlich bestärken in der Überzeugung, dass ihr Volk das schlechteste auf der Welt ist, und damit sie diese Überzeugung, wo immer dies möglich ist, unter ihren Landsleuten verbreiten (wobei ihnen sicher verschiedene Stiftungen helfen werden).“[5]
Das Buch, von dem hier die Rede ist, erschien Ende Januar 2009 in serbischer Übersetzung beim Clio-Verlag in Belgrad.[6] Es stellt den Versuch einer Synthese der Geschichte Serbiens von den beiden serbischen Aufständen gegen die osmanische Herrschaft bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts dar, behandelt also einen Zeitraum von zweihundert Jahren. Die Synthese beschränkt sich nicht auf die relativ gut erforschte Politikgeschichte, sondern bezieht die Gesellschaftsgeschichte, die Wirtschaftsgeschichte und Kulturgeschichte mit ein, wo jeweils noch viele Forschungslücken bestehen. Angesichts einer immer stärker ausdifferenzierten, spezialisierten und unübersichtlichen Forschung war es mein Ziel, die verschiedenen, häufig wechselseitig isolierten Stränge miteinander zu verknüpfen. Gesamtdarstellungen dieser Art gibt es bisher kaum, auch wenn ein Diskussionsteilnehmer in Belgrad behauptet hat, dass Ausländer bereits 2500 Geschichten der Serben geschrieben hätten![7] Mein Werk stützt sich sowohl auf eigene Forschungen während der letzten vier Jahrzehnte als auch zu wesentlichen Teilen auf das, was andere Kolleginnen und Kollegen in Studien zu einzelnen Zeitabschnitten oder einzelnen Themen erarbeitet haben. Bei einem Unternehmen dieser Art sind Fehler unvermeidbar, da man nicht alles, was bereits untersucht wurde, selber noch einmal überprüfen kann. Bei Fehlern sollte man jedoch unterscheiden zwischen Fehlern, die faktographische Details betreffen und keinerlei Auswirkungen auf die Argumentation haben,[8] und „Fehlern“, die die Komposition und Synthese insgesamt berühren. Bei letzteren lässt sich oft schwer oder gar nicht entscheiden, ob es sich um empirisch falsifizierbare Fehler oder um unterschiedliche Sichtweisen bzw. Interpretationen von Autor und Leser handelt.
Ein Buch ist ein Text. Und wie jeder Text, kann auch dieses Buch aus unterschiedlichen Blickwinkeln gelesen werden. Je nach Perspektive des Lesers stellt sich der Inhalt etwas anders dar. Diejenigen, die sich über das Buch empören – unabhängig davon, ob sie es gelesen haben oder nicht – übersehen in der Regel einen Aspekt, der für mich zentral war. Ich spreche nie von „den“ Serben. Ich spreche von der serbischen Nation, denn das 19. und 20. Jahrhundert stand europa- und weltweit im Zeichen von Nationen und Nationalstaaten. Ich spreche von der Gesellschaft und ich spreche von einzelnen Akteuren – von Politikern, Intellektuellen u.a. - und von gesellschaftlichen Gruppierungen, - von ihren Zielsetzungen und Entscheidungen. Aber ich spreche nie von „den“ Serben. Wiederholt habe ich betont, dass das, was in Serbien im 19. und 20. Jahrhundert geschehen ist, in ähnlicher Form auch in anderen Teilen Europas und der Welt hätte geschehen können; und tatsächlich auch geschehen ist. Und da ich nicht von „den“ Serben spreche, weise ich ihnen auch keine kollektiven Eigenschaften (wie böse, gewalttätig, Parias der Geschichte o.ä.) zu. Keiner der Kommentatoren, die mir derartige Etikettierungen unterstellen, hat eine Textstelle als Beleg angeführt. Das wäre auch unmöglich. Wenn jemand dennoch bei dieser Unterstellung bleibt, ist dies ein eindeutiger Beleg dafür, dass er/sie das Buch nicht gelesen hat. Ich betrachte die Geschichte Serbiens als Beispiel, als eine der vielen Varianten europäischer Geschichte während der letzten beiden Jahrhunderte. Mein Ziel war es, die Geschichte zu entnationalisieren. Das ist schwierig für eine Periode, in der die Nation als Ein-und- Alles galt (und gilt). Und es mag als Widerspruch erscheinen, über das Zeitalter der Nationen zu schreiben und gleichzeitig die Geschichte entnationalisieren zu wollen. Aber das Eine (der Untersuchungsgegenstand) hat mit dem Anderen (der Herangehensweise) nichts zu tun.
Obwohl bisher offenbar nur Wenige die serbische Übersetzung des Buches gelesen haben, hat das Werk eine Fülle von Kommentaren in den Medien und insbesondere im Internet ausgelöst. Die meisten der Kommentatoren im Internet, bei denen es sich in der Regel nicht um Historiker handelt, kennen das Buch nicht und erklären mitunter offen, dass sie es auch nicht kennen lernen wollen. Dennoch glauben sie zu wissen, was im Buch steht. Andere, darunter auch Historiker, haben das Werk anscheinend nur ausschnittsweise gelesen, da sie mir Behauptungen unterstellen, die meiner Argumentation regelrecht widersprechen. Oder weil sie angebliche Auslassungen kritisieren, welche sie vielleicht nicht an den Stellen gefunden haben, wo sie sie vermutet hätten, die aber in der Darstellung enthalten sind.[9] Einig sind sich viele Historiker und Nicht-Historiker darin, dass das Buch voller Vorurteile und Stereotypen stecke. Darauf komme ich gleich noch einmal zurück. Was mich im Augenblick mehr interessiert, sind einige Grundsatzfragen, die in den Diskussionsforen immer wieder auftauchen. Dabei handelt es sich meistens (aber nicht ausschließlich) um Argumente von Nicht-Historikern, von Leuten, die sich für Geschichte interessieren, sich aber nicht professionell mit ihr beschäftigen. Und da wir nicht nur für Kolleginnen und Kollegen, sondern auch für ein breiteres Publikum schreiben, muss man diese Argumente Ernst nehmen.
Ein auffallend häufig wiederkehrendes Argument lautet: Ein „Fremder“, ein Ausländer kennt „uns“ und „unsere“ Geschichte nicht und kann „uns“ nicht verstehen. Viele auswärtige Kolleginnen und Kollegen sind mit solchen Aussagen konfrontiert worden. „’You don’t know our history.’ I don’t know how many times I heard this remark“, schreibt der niederländische Anthropologe Mattiijs van de Port in seinem Aufsatz “’It Takes a Serb to Know a Serb’: Uncovering the roots of obstinate otherness in Serbia”.[10] “’You don’t know our history.’ (…) Sometimes it was whispered with fatigue, sometimes hurled at me in a querulous tone of voice. (…) ‘You don’t know our history’ was not an encouragement to intensify my studies. Quite the reverse. Underneath the polite applause that lauded my efforts to study the Serbs I often discerned resentment about my interest in Serbian language, culture, history. ‘You don’t know our history’ was, above all, a statement of fact. Don’t bother, is what the phrase seemed to imply, you’re not going to find it out…”
Aber warum nicht? Warum kann ein Amerikaner, ein Pole oder ein Franzose keine Geschichte der Deutschen oder ein Deutscher keine Geschichte der Griechen oder Serben schreiben und verstehen? Diese Frage wird nie gestellt. Und da sie nicht gestellt wird, muss sie auch nicht beantwortet werden. Aber die Frage ist wichtig und verdient eine Antwort. In anderen wissenschaftlichen Disziplinen ist Internationalität längst eine Selbstverständlichkeit. Niemand käme auf die Idee zu sagen, ein chinesischer Herzspezialist kann das Herz eines Italieners nicht verstehen. Die große Ausnahme von der Regel ist die Geschichte. Und das ist ihr Hauptproblem. Geschichte gilt vielerorts nach wie vor als nationale Veranstaltung, die mehr einem Gottesdienst als einer Wissenschaft ähnelt. Im sozialistischen Jugoslawien wurde diese Auffassung zum wissenschaftspolitischen Dogma erhoben. Die historischen Institute in den verschiedenen Republiken sollten/durften sich nur mit der Geschichte der betreffenden Republik beschäftigen. Das Nicht-Verstehen-Können (oder: das Nicht-Verstehen-Wollen?) wurde zur Norm erhoben.
Aber warum kann ein „Fremder“ „unsere“ Geschichte nicht verstehen? Sieht man von denjenigen ab, die aus dem vermeintlichen Nichtverstandenwerdenkönnen einen Kult machen und beschränkt sich auf die, die sich unverstanden fühlen, aber verstanden werden wollen, so bieten sich mehrere Antworten an. Erstens: Der Mangel an Informationen bzw. an Wissen. Viele der Internet-Kommentatoren, die mit dem Argument des Nicht-Verstehen-Könnens operieren, gehen von der Annahme aus, dass diejenigen, die in einem bestimmten Land aufgewachsen sind und dort leben, dieses Land, seine Menschen und seine Geschichte am besten kennen, - besser als dies ein „Fremder“ jemals könnte. Aber ist das so? Zahllose Umfragen in vielen Ländern der Welt belegen das Gelegenteil. Die Kenntnisse über das eigene Land, die eigene Gesellschaft oder die eigene Geschichte sind oft erschreckend gering. Die Tatsache, dass ich in einem bestimmten Land lebe, macht mich nicht automatisch zum Experten für dieses Land und seine Geschichte. Die Expertise muss in jedem Fall erarbeitet werden, egal ob es sich dabei um „unsere“ Leute oder um „Fremde“ handelt. Aber allgemein gilt: Wissenslücken lassen sich schließen und sind kein grundsätzliches Verständigungshindernis. Der zweite mögliche Grund für das Nicht-Verstehen ist die Nähe oder Distanz eines Autors zu „unserer“ Geschichte. Wer sich mit unserer Geschichte gänzlich oder weitgehend identifiziert, nimmt zwangsläufigerweise eine andere Perspektive ein als derjenige, der unsere Geschichte aus großer Distanz betrachtet. Im ersten Fall besteht die Gefahr, dass der Kontext, das Umfeld unserer Geschichte, aus dem Blickfeld gerät oder (sehr viel öfter) dass die Umwelt zwar wahrgenommen, aber nur auf uns zentriert wahrgenommen und damit zum bloßen Annex unserer Geschichte wird. Im zweiten Fall – bei größtmöglicher Distanz – besteht die Gefahr, dass unsere Geschichte weitgehend an den Rand gedrängt und zum bloßen Annex der Umwelt wird. Beide Varianten sind problematisch: Wer sich mit dem Gegenstand seiner Betrachtung völlig oder weitgehend identifiziert, kann keine wissenschaftliche Arbeit abliefern. Wer seinem Gegenstand völlig fern ist, kann es ebenfalls nicht. Mit anderen Worten: Es geht immer um eine Halbnähe oder Halbdistanz. Wie diese konkret aussehen kann oder soll, lässt sich in allgemeiner Form nicht beantworten, sondern hängt vom jeweiligen Thema und der jeweiligen Fragestellung ab. Die Frage nach Nähe oder Distanz stellt sich nicht nur in räumlicher, sondern auch in zeitlicher Hinsicht. Viele Nicht-Historiker wie Historiker sind der Auffassung, dass eine bestimmte zeitliche Distanz zum Untersuchungsgegenstand gegeben sein muss. Das Für und Wider will ich jetzt nicht erörtern. Bemerkenswert aber ist, dass viele derjenigen, die für eine zeitliche Distanz plädieren und diese für unverzichtbar halten (z.B. wenn es um die postjugoslawischen Kriege der 1990er Jahre geht), eine räumliche Distanz (also die Distanz gegenüber uns und unserer Geschichte) als Problem empfinden. Im ersten Fall ist Distanz gut, im zweiten Fall ist sie schlecht. Noch problematischer wird die Angelegenheit, wenn zeitliche Distanz mit räumlicher Nähe gekoppelt ist. Kann ich die Gesellschaft im wilhelminischen Deutschland, in der Weimarer Republik oder im nationalsozialistischen Deutschland besser verstehen, weil der zeitliche Abstand gegeben ist und ich eine deutsche Staatsbürgerschaft besitze oder deutscher Abstammung bin? Davon kann keine Rede sein. Die Deutschen im wilhelminischen Kaiserreich oder zur Zeit des Nationalsozialismus sind mir fremder als die Franzosen heute. Erst die Geschichtswissenschaft eröffnet mir eine Möglichkeit des Verstehens, wobei es belanglos ist, ob der Autor Amerikaner, Engländer oder Deutscher ist.
Der dritte Grund für das tatsächliche oder vermeintliche Nicht-Verstehen von „otherness“ sind unterschiedliche Erfahrungshorizonte. In Reflexion über seine Feldforschungen in Novi Sad schreibt der eben erwähnte van de Port: „Faced with the magnitude of suffering und cruelty that the Novosadjani have had to incorporate in their worldview – for the bitter irony is that victims and perpetrators of savagery are united in their knowledge of the dark side of humankind - the insistence on being other becomes more than the mere chauvinism of the nationalist. After Kiš and Tišma, after Vukovar, Sarajevo, Mostar and Krajina, the peevishness with which my interlocutors rejected the possibility of intercultural dialogue and understanding takes on another dimension. In it one may descry the voice of experiences untold, tragedies unaccounted for; a voice that marks a void, a missing page in history, a blind spot in the programme of civilization.”[11] Es ist unbestreitbar, dass das Leid, das andere Menschen erfahren haben, allenfalls näherungsweise nachempfunden werden kann. Das gilt für individuelles wie kollektives Leid; und es gilt für Menschen in der Wojwodina und den übrigen Gebieten des früheren Jugoslawien ebenso wie für Menschen in allen anderen Teilen der Welt. Die Binnenperspektive der Selbsterfahrung und die Außenperspektive des Beobachtens stoßen hart, oft (scheinbar) unversöhnlich aufeinander. Erlittenes und analysiertes Leid lassen sich nie ganz zur Deckung bringen. Das ist aber auch nicht erforderlich. Ein Historiker, ein Genocidforscher oder ein Psychotherapeut müssen nicht die Schrecken selbst erlebt haben, mit denen sie sich beschäftigen. Anderenfalls wäre das nicht nur das Ende mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen und das Ende jeden interkulturellen Dialogs, es wäre auch das Ende aller Versuche, über leidvolle Erfahrungen innerhalb einer Gesellschaft und zwischen den Generationen zu kommunizieren. Das Ergebnis wäre die Bewahrung der „missing page in history“, die Konservierung einer Welt des Schweigens oder der Selbstdialoge, - einer Welt, die auch Kiš, Tišma und andere nicht durchbrechen könnten. Untersucht man dagegen die Evolution einer Binnenperspektive, so erschließt sich eine Vielzahl intersubjektiv kommunizierbarer Elemente, mit denen der vermeintliche Gegensatz zwischen Binnen- und Außenperspektive überwunden werden kann.
Der vierte und wichtigste Grund für das Nicht-Verstehen ist weitgehend unabhängig von der Fülle bzw. dem Mangel an Informationen und Wissen. Vielmehr geht es um Deutungen, Emotionen, Erfahrungen und Vorannahmen („Vorurteile“), - um Vorannahmen darüber, was richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht, wahr oder unwahr ist. Bevor ich darauf näher eingehe, will ich in Erinnerung rufen, dass „Verstehen“ eine doppelte Bedeutung hat, die ihrerseits wieder mit Nähe und Distanz zu tun hat. „Verstehen“ kann einerseits bedeuten, dass man eine Erklärung dafür sucht, warum sich ein Mensch oder eine Gesellschaft so verhält, wie sie sich verhält, ohne dass man sich die Motive zu Eigen macht. Andererseits verbinden Viele mit „Verstehen“ die Erwartung, dass sich der „Andere“ mit „unseren“ Handlungsweisen und „unseren“ Motiven identifiziert. Und zumeist ist es dieses zweite Verständnis von „Verstehen“, das zu Missverständnissen führt.
Der Kern dieses Missverständnisses sind fast immer unterschiedliche Wertvorstellungen und Wertsysteme. Zwar gibt es Werte, die zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften geschätzt wurden, z.B. Verlässlichkeit und Ehrlichkeit. Auch Gerechtigkeit ist ein alter universaler Wert, der jedoch – anders als Verlässlichkeit und Ehrlichkeit – sehr unterschiedlich konkretisiert und interpretiert wird. Was in einer Gesellschaft als gerecht gilt, kann in einer anderen Gesellschaft als ungerecht gelten. Entscheidend sind jeweils die Prämissen und der soziokulturelle Kontext. Deshalb gehe ich von einem kultursoziologischen Wertbegriff aus, in dem Werte als „gesellschaftlich verbindliche Orientierungsmuster“ gesehen werden, als „verpflichtende Leitideen“, die den Verhaltensweisen und Zielsetzungen einer Gesellschaft und ihrer Mitglieder Sinn geben sollen. Diese übergeordneten Wertorientierungen sind für die Schaffung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen des Handelns in doppelter Hinsicht konstitutiv: Sie stiften Identität und bilden das Fundament gesellschaftlicher Kohäsion.
Werte stehen als organisierendes und Richtung weisendes Prinzip über Wünschen und zweckorientierten Präferenzen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch sich an sie binden lässt, ohne sich dabei unfrei zu fühlen. Erst durch diese Bindung erhält der Mensch seine Orientierung und kann in seinem sozialen Umfeld (und zwar in Übereinstimmung mit diesem Umfeld) zielgerichtet agieren. Damit rücken Werte in die Nähe von religiösen Überzeugungen. Es kommt eine stark affektive, an die Grundfesten unserer Identität rührende Dimension ins Spiel. Das bedeutet nicht, dass Werte irrational sind, aber sie leiten sich immer von historisch gewachsenen Vorannahmen oder Prämissen ab, die nicht richtig oder falsch, nicht beweisbar oder widerlegbar sind. Hier stößt das Verstehen tatsächlich an seine Grenzen. Aber außer dem Entweder-Oder (richtig oder falsch) gibt es noch eine dritte Variante. Werte können trotz Differenzierungen im Detail über den Rahmen der eigenen Gruppe hinaus anschlussfähig sein. Oder sie sind es nicht. Wenn z.B. über die Gemeinsamkeit „europäischer Werte“ diskutiert wird, - eine Gemeinsamkeit, die bislang nicht existiert, sondern im Entstehen ist – kann es sich logischerweise nur um Werte handeln, die über den Rahmen einer einzelnen Nation/Gesellschaft hinaus anschlussfähigsind. Sie müssen nicht identisch sein, aber die Unterschiede müssen kompatibel sein und es muss eine große Schnittmenge geben. Sonst gibt es keine gemeinsamen Werte. Ob wir eine offene oder geschlossene, eine homogene oder heterogene, eine religiöse oder säkularisierte Gesellschaft favorisieren, hängt von unseren Wertvorstellungen ab. Diese bilden das Fundament des Organisationsprinzips (des „frames“), mit dessen Hilfe wir Ereignisse auswählen, ordnen bzw. kategorisieren und interpretieren. Und dies hat auch Konsequenzen für die Geschichtsschreibung. Wer Nation und Staat, Volk und Vaterland als oberste Werte versteht (etwa nach dem Motto „Recht oder Unrecht – mein Vaterland“), schreibt eine andere Geschichte der Nation als derjenige, der die Gesellschaft, die Menschen und die Menschenrechte in den Mittelpunkt rückt und die Nation als eine von vielen, dem historischen Wandel unterworfenen Formen sozialer Organisation versteht. Was für Nationen gut sein mag, muss nicht für die Menschen gut sein. Und was für Menschen gut ist, muss nicht für Nationen gut sein. In weiten Teilen Europas hat sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts das Verständnis der Nation als exklusive ethnische Gemeinschaft durchgesetzt. Millionen und Abermillionen Menschen haben diese Entscheidung mit Flucht, Vertreibung und Tod bezahlt. Und zu Beginn des 21. Jahrhunderts muss die Frage erlaubt sein, ob dies der richtige Weg für Europa und seine Subregionen war. Ein junger Belgrader Kollege, Miloš Ković, hat mir in einem Interview vorgeworfen, dass meine „Geschichte Serbiens“ zu viele Werturteile enthalte.[12] Das mag sein. Zwar sagt Ković es nicht offen, aber er suggeriert mit seiner Kritik, dass seine eigenen Arbeiten weitgehend wertfrei oder wertneutral bzw. objektiv sind. Aber ist das so? Und gibt es das überhaupt? Viele Kognitionswissenschaftler und Soziologen bezweifeln dies, und zwar mit triftigen Argumenten.
Was Werte und Nationen gemeinsam haben, ist ihre starke emotionale Bindekraft. Gefühle bzw. Emotionen waren lange Zeit kein Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Dieses Feld blieb den Schriftstellern und Psychologen vorbehalten. Seit einiger Zeit hat sich dies geändert. Die Repräsentation des Nationalen in Ritualen, Symbolen und Mythen rückte den Zusammenhang von Nation und Emotion ins Blickfeld.[13] Dabei ging es um die Frage, wie in Ritualen, Kulten und Mythen nationale Emotionen erzeugt und ausgelebt, verstärkt, und ausgerichtet werden. Untersucht wurde, wie nationale Emotionen in den einzelnen Ländern kodiert, vorhandene Emotionsregeln sozial und kulturell umdefiniert und auf das politische Werte- und Herrschaftssystem ausgerichtet wurden. Und schließlich ging es darum zu zeigen, wie „Geschichte“ (oder sagen wir korrekter: wie Vergangenheit) in Gestalt von Mythen, Vergangenheitsbildern und Erinnerungen bei der Interpretation, Definition und Steuerung von Emotionen – etwa von Liebe, Schuld und Trauer – mitwirkte oder wie das Nationalgefühl funktioniert, jene komplexe Mischung aus kognitiven und emotionalen, kollektiven und individuellen, formellen und informellen Rollen und Erwartungen. Untersucht wurden Liebe und Hass, die auch im vormodernen und vornationalen Zeitalter kulturell und sozial geregelt waren, im Zuge der Nationsbildung bzw. im Zeitalter des Nationalismus aber eine andere Richtung, Intensität und Einfärbung erhielten. Und schließlich geht es um Emotionen oder emotionale Stile, die den Beteiligten als nationsspezifisch gelten, sich aber schwer oder nur indirekt mit den tatsächlichen oder vermeintlichen „Besonderheiten“ der Nation als politisch verfasster Gesellschaft erklären lassen.
Damit bin ich schon bei einem nächsten Punkt, der für das (Nicht)Verstehen von Bedeutung ist: bei der Besonderheit von Nationen. Nationen – wie viele andere Gruppen – neigen dazu, sich mit einer Aura des Besonderen zu umgeben. Diese Aura dient der Abgrenzung nach Außen und der Integration nach Innen. Gruppen brauchen dies, um eine kollektive Identität entwickeln zu können. Dasselbe gilt für Individuen. Auch sie brauchen die Abgrenzung nach Außen, um eine eigene Identität aufbauen zu können. Das ist aber schon deshalb schwierig, weil sich alle Menschen zu 95% oder mehr gleich sind: Überall auf der Welt und zu allen Zeiten. Soweit wir es historisch rekonstruieren können, hat sich der Mensch in den letzten zweitausend Jahren (vermutlich aber sehr viel länger) nicht grundlegend in seinen Verhaltensweisen geändert. Er ist weder besser noch schlechter, weder klüger noch dümmer geworden. Was sich verändert hat, sind die Wissensbestände, d.h. der Korpus an Wissen, der sich heute erheblich vom Korpus des Wissens im 19. oder im 16. Jahrhundert unterscheidet. Wir wissen heute nicht unbedingt mehr, aber wir wissen Anderes. Während Wissen einem sehr dynamischen Wandel unterliegt, verändern sich Mentalitäten vergleichsweise langsam, und auch die während eines Menschenlebens gesammelten Erfahrungen lassen sich nur in begrenztem Umfang von Generation zu Generation weitergegeben. Jede Generation durchläuft ihre eigenen Lernprozesse. Gleichwohl ist der Umgang mit grundlegenden Aktionen und Reaktionen des Menschen (wie Liebe, Hass usw.) kultur- oder zivilisationsabhängig bzw. wird soziokulturell vermittelt. Die anthropologischen Dispositionen werden dadurch nicht aufgehoben, lassen sich aber sozial und kulturell steuern, sofern allseits akzeptierte und fest verankerte Institutionen vorhanden sind, die den Steuerungsprozess lenken.
Wenn die Menschen sich zu 95 oder 98% gleich sind und sich im Laufe der Jahrhunderte nicht wesentlich verändert haben, dann kommt den „kleinen Unterschieden“ eine umso größere Bedeutung zu. Das gilt für Individuen ebenso wie für Gruppen (z.B. Nationen). Alle Menschen wie alle Nationen sind tatsächlich etwas Besonderes. Das Besondere besteht darin, dass sie alle gleich sind – mit geringen Unterschieden. Im Jahr 2001 erschien in Deutschland ein Sammelband, dessen Titel aufschlussreich ist. Er lautet „’Gottes auserwählte Völker’“.[14] Natürlich wurden dort nicht alle Völker behandelt, denn das hätte den Umfang des Bandes gesprengt. Alle Völker sind irgendwie „auserwählt“. Deshalb ist es richtig zu sagen, dass alle Menschen und alle Nationen einzigartig und besonders sind. Aber daraus ergibt sich ein neues Problem. Niemand möchte „exotisiert“ werden, aber etwas Besonderes wollen wir alle sein. Und ein gewisses Maß an Mystifizierung ist dabei auch im Spiel. Das ist zunächst noch kein Problem. Zum Problem wird es erst dann, wenn ein Individuum oder eine Gruppe behauptet, dass nur er bzw. sie einzigartig ist oder dass die anderen zwar vielleicht auch einzigartig sind, aber einzigartig böse, während „wir“ einzigartig gut sind.
Das Einzigartige oder das einzigartig Gute findet seinen Niederschlag in Mythen. Mythen sind holistische Erzählungen, die Sinn stiften sollen und stehen in enger Beziehung zu den Werten, von denen bereits die Rede war. Mythen sind kulturelle Artefakte. Und sie sind wunderbar. Die antiken griechischen Mythen sind ein Kulturgut, auf das niemand verzichten möchte. Allerdings sind sie keine nationalen Mythen. Und darin liegt ihre Bedeutung. Viele andere Mythen waren zunächst ebenfalls nicht national, wurden aber im Zuge der Nationsbildung „nationalisiert“. Ich wähle ein beliebiges Beispiel:
Vor genau 2000 Jahren, im Jahre 9 unserer Zeitrechnung, fand eine berühmte Schlacht statt. Es regnete angeblich, und die Sicht war schlecht. Wir wissen nicht viel über die Einzelheiten der Schlacht und erst recht nicht, ob es regnete oder nicht regnete. Wir wissen nicht einmal genau, wo sie stattfand. Aber wir wissen, dass sie stattfand; wir wissen zumindest näherungsweise, wo sie stattfand, und wir kennen das Ergebnis der Schlacht. Verlierer war der römische Feldherr Varus, Gewinner war Arminius (der später den historisch nicht belegten germanischen Namen „Hermann“ erhielt), „der Mann, der Deutschland erfand“ (wie eine Zeitung dieser Tage aus Anlass der zweitausendsten Wiederkehr des Ereignisses titelte). Der Historiker Theodor Mommsen sprach von einem „Wendepunkt europäischer Geschichte“, und der Leiter des Historischen Museums in Berlin nennt die Schlacht einen „Urknall“. Mit dem Sieg von Arminius bzw. „Hermann des Cheruskers“ kam die römische Expansion westlich des Rheins zum Erliegen, und die dort lebenden Germanenstämme kamen nicht unter römische „Fremdherrschaft“. War das gut oder schlecht? War die „Schlacht im Teutoburger Wald“ ein „germanischer“ (oder gar ein „deutscher“) „Volksaufstand“, ein „Befreiungskrieg“? Mitnichten. Der Sieg des Arminius war Resultat eines Zweckbündnisses zwischen den stets zerstrittenen germanischen Stämmen. „Hermann“ selber wurde später von seinen Verwandten ermordet. Vielleicht war sein militärischer Erfolg aber der Grund dafür, warum die Deutschen heute keine romanische, sondern eine germanische Sprache sprechen. Doch das ist reine Spekulation. Denn es gab auch Germanen unter römischer Herrschaft: in Köln, Mainz, Regensburg oder im heutigen Österreich, die dennoch keine Lateiner wurden. Andererseits war Latein auch im deutschsprachigen Raum weit über das Mittelalter hinaus die Sprache der Gelehrten, obwohl sich schließlich Deutsch als Volkssprache durchsetzte. Und last but not least: sind die heutigen Deutschen tatsächlich die Nachfahren Hermann des Cheruskers und seiner Gefolgsleute? Wir wissen es nicht. Und angesichts einer bewegten Migrationsgeschichte sind erhebliche Zweifel angemeldet. Aber ist das überhaupt wichtig? Für die Nationsbildner war es wichtig. Daher machten sie aus der „Schlacht im Teutoburger Wald“ einen nationalen Mythos. „Hermann“ war übrigens zunächst ein Gefolgsmann seines späteren Gegners Varus gewesen, dessen Kopf er abtrennen ließ, nachdem dieser sich in der Schlacht selbst getötet hatte. Arminius war verheiratet mit der sprichwörtlichen Thusnelda, die ihn gegen den Willen ihres römerfreundlichen Vaters geheiratet hatte. Thusnelda wurde später von ihrem Vater an die Römer verraten und als Geisel ausgeliefert. Das ist der tragische Stoff, aus dem Mythen gemacht sind.
Vergleicht man die Mythen der heutigen Nationen miteinander, so sind sie sich – bei allen Unterschieden im „dress up“ – verblüffend ähnlich. Auch die in den Mythen enthaltenen Botschaften von Ehre, Freiheit, Heldentum, Verrat usw. – ähneln sich oft bis aufs Haar. 1998 wurde im Deutschen Historischen Museum in Berlin eine Ausstellung gezeigt unter dem Titel: „Mythen der Nationen: Ein europäisches Panorama“.[15] Darin wurde wohl zum ersten Mal der Versuch unternommen, 18 Nationen gemeinsam zu betrachten. Es waren also nicht alle europäischen Nationen vertreten (auch die serbischen fehlte), aber doch eine beträchtliche Auswahl. Und beinahe alle Nationen legten sich im 19. Jahrhundert Begründungen für ihre Existenz zurecht, die überall und immer wieder mit großem Pathos zitiert werden, wie Freiheit, Glaube, Ursprung. Im Mittelpunkt der nationalen „Erinnerungen“ des 19. Jahrhunderts stehen ohne Zweifel Kriege. Die Beschreibung von glorreichen Siegen oder blutigen Niederlagen kennt kaum Grenzen. Die meisten Erzählungen, die oft über Generationen hinweg mündlich weitergegeben worden waren, bevor sie zu nationalen Mythen avancierten, haben einen historischen Kern, d.h. sie beziehen sich auf Ereignisse, die tatsächlich stattgefunden haben. Aber die Art und Weise, wie diese erzählt werden, hat mit Geschichte wenig zu tun. Wie gesagt; Mythen sind ein wertvolles Kulturgut. Sie sind aber kein Ersatz für Geschichtswissenschaft. Und schließlich können Mythen politisch instrumentalisiert werden, was immer und immer wieder geschehen ist. An sich ist das kein Problem, denn Mythen können sowohl konstruktiv wie destruktiv gebraucht werden. Ihre Aussagen sind variabel und vielseitig einsetzbar. Deshalb sind nicht die Mythen per se problematisch – und das gilt auch für den serbischen Kosovo-Mythos -, sondern die Art und Weise, in der sie in bestimmten Situationen benutzt werden.
Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Frage der Einzigartigkeit, denn diese Frage ist für die Geschichtswissenschaft und für das Verstehen zentral. Geschichte ist lange Zeit begriffen worden als eine Kette von einzigartigen Ereignissen. Das bedeutet, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Jedes Ereignis ist neu und kehrt in dieser Form nie wieder. Umstritten war und ist, ob diese Kette von Ereignissen zielgerichtet ist oder nicht. Karl Marx und viele seiner Gegner gingen bekanntlich davon aus, dass die Geschichte ein Ziel hat. Andere bezweifeln das. Wiederum handelt es sich um eine Frage, die mit wissenschaftlichen Methoden nicht beantwortet werden kann. Es ist jedem freigestellt, an ein Ziel zu glauben oder nicht. Aber es geht nicht nur um eine Glaubensfrage, sondern es geht auch um die Frage, ob man aus der Geschichte lernen kann. Wenn Geschichte eine Abfolge von Einzigartigkeiten ist, kann man daraus nichts lernen, jedenfalls nichts für Gegenwart oder Zukunft. Aber besteht die Geschichte tatsächlich nur aus Unwiederholbarem? Darüber ist lange gestritten worden. Und der Streit flammt immer wieder von neuem auf. Mir erscheint es realistisch zu unterscheiden zwischen einem konkreten Ereignis, das in der Tat einzigartig oder fast immer einzigartig ist, und den Gründen, Motiven, Handlungsweisen und Strukturen, die zu dem Ereignis geführt haben. Und wenn sich alle Menschen annähernd gleich sind und sich in den letzten Jahrtausenden nicht wesentlich verändert haben, dann sind die Hintergründe einzigartiger Ereignisse alles andere als einzigartig. Mit anderen Worten: Jedes Ereignis hat spezifische Aspekte, die aus der unterschiedlichen Mischung oder Kombination allgemeiner und/oder kontingenter Elemente bestehen und die in ihrer jeweiligen Mischung in der Regel einzigartig sind und sich nicht wiederholen. Was sich dagegen oft wiederholt, sind die menschlichen Aktions- und Reaktionsweisen, sofern sie nicht „zivilisiert“ wurden, und die daraus resultierenden Kräftekonstellationen und Allianzen. Und wenn dies richtig ist, dann kann man aus der Geschichte auch lernen. Aufgabe der Historiker ist es – sofern sie eine gesellschaftlich sinnvolle Aufgabe wahrnehmen wollen -, diesen Lernprozess zu fördern.
Wählen wir auch hier ein beliebiges Beispiel. Die Geschichte der Menschheit ist voller Kriege und Gewalt. Das ist ein gewaltiges Thema für sich, das ich hier nur andeuten kann. Jede Form von Massengewalt – wie z.B. Völkermord – ist einzigartig. Aber die Täter oder Exekuteure von Massengewalt sind keineswegs einzigartig. Andersherum formuliert: Jeder Massenmord wie jedes andere von Menschen herbeigeführte Ereignis hat sowohl allgemeine wie spezifische Aspekte oder Elemente. Der nationalsozialistische Massenmord an den Juden im Zweiten Weltkrieg zum Beispiel, der Holocaust, ist ereignisgeschichtlich ebenso einmalig wie er sozialpsychologisch und strukturell vergleichbar und wiederholbar ist. Akteure, Opfer, Zeit und Ort können sich ändern, auffallend aber ist, dass an allen Massenmorden in Vergangenheit und Gegenwart neben Fanatikern, pathologischen Persönlichkeiten und Kriminellen auch ganz „normale“ Menschen in großer Zahl beteiligt waren, - Menschen, die unauffällig sind und keine (zumindest keine erkennbaren) psychischen Defekte aufweisen, Menschen, die – wie ein Psychologe einmal formuliert hat – geradezu „abnormal normal“ sind.
Im Sommer 1993 erschien in einer großen deutschen Wochenzeitschrift ein Interview mit einem Massenmörder. „Ich hatte eine schöne Kindheit“, erzählt er. „Meine Freunde waren Muslime oder Christen, aber das war mir nicht bewusst, denn Religion spielte damals keine Rolle.“ Dann kam der Krieg. „Ich fühlte nur, dass meine Welt zu Bruch ging, dass etwas verloren war, was ich noch nicht genau benennen konnte. (…) Meine Welt war plötzlich eine andere, mit neuen Gesetzen, die mir Angst machten.“ Die erste Tötung eines Menschen war wie „ein böser Traum“, aber sie stellte sich bald als reine „Notwehr“ heraus: „…du hast ihn umgebracht, weil er dich umbringen wollte. Und das ist völlig okay. So fing es an.“ Doch „irgendwann wurde der Krieg zur Routine“, wurden Massaker und Vergewaltigungen zum Alltag. „Ich denke nicht mehr an die Toten“, erzählt der Ex-Krieger. „Nicht heute und nicht morgen und nicht übermorgen…Warum soll ich an die Toten denken? Die Toten sind tot…Die Toten kommen nicht zurück… Warum soll ich an jemand denken, der mich töten wollte… Heute denke ich daran, wie ich für die Mädchen attraktiv aussehe oder wie ich einen Job finde. Ich habe nichts Falsches gemacht. Ich habe alles richtig gemacht. Ich habe nichts falsch gemacht. Nur der Krieg war ein schlechter Witz.“[16]
Viele der hier Anwesenden ahnen, wo der Ex-Krieger zuhause war. Wir kennen zahlreiche ähnliche Berichte. Aber Sie irren sich. Es geht nicht um Bosnien, Sarajevo oder Banja Luka, sondern um den Libanon und Beirut. Es handelt sich um die Erzählung eines Teilnehmers am Bürgerkrieg im Libanon, der im Mai 1991 offiziell beendet worden war. Und es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Ex-Krieger vor Beginn des Krieges mit Hassgefühlen aufgewachsen oder psychisch defekt gewesen wäre. Aus einer Vielzahl von psychologischen und sozialpsychologischen Untersuchungen wissen wir mittlerweile, dass das Gros der Täter scheinbar unscheinbare Menschen sind, Menschen wie Sie und ich. Außerordentliche Verbrechen (wie Massenmord und Genozid) sind nicht (jedenfalls nicht allein) das Werk außerordentlicher (Übel)Täter. Außergewöhnlich sind ihre Taten, nicht die Täter selbst. Das ist das Beunruhigende. Denn es wäre relativ angenehm und bequem, wenn wir sagen könnten, große Verbrechen sind das Werk großer Psychopathen. Das ist nicht der Fall. Massenmörder, sofern es sich dabei um ganz „normale“ Menschen handelt, sind das Produkt ihrer sozialen und kulturellen Umgebung. Für die Verwandlung „normaler“ Menschen in Exekuteure von Massengewalt gibt es mittlerweile Erklärungsmodelle. Sie sind komplex und setzen sich aus anthropologischen, psychologischen, insbesondere sozialpsychologischen, aus historischen, soziologischen und politikwissenschaftlichen Forschungsergebnissen zusammen. Erst ein derart interdisziplinärer Zugriff macht Verstehen möglich (Verstehen nicht im Sinn von Identifikation, sondern im Sinn von Erklärung). Eine Bemerkung will ich noch hinzufügen. Massengewalt wie im ehemaligen Jugoslawien, in Ruanda, im Libanon oder im nationalsozialistischen Deutschland bricht nicht einfach aus, sie „ereignet sich“ nicht. Ebenso wenig wie sich das „Volk ereignet“. Massengewalt fällt nicht vom Himmel. Sie wird vorbereitet (nicht nur organisatorisch, sondern auch und vor allem diskursiv), und sie wird inszeniert. Ist sie einmal in Gang gesetzt, gewinnt sie dank ihrer polarisierenden Wirkung eine enorme Eigendynamik und reißt viele Menschen mit, die zu Tätern, Opfern oder zu beidem werden. Dass sich alle nur „verteidigen“, dass sie nur tun, was angesichts der Bedrohung getan werden muss, versteht sich von selbst. Entscheidend ist daher immer, wer die Gewaltspirale in Gang gesetzt und wer das kulturelle Umfeld dafür geschaffen hat. Auch dieses kulturelle Umfeld entsteht nie von allein und spontan, sondern wird gemacht. Herauszufinden, wer das macht, gehört zu den Aufgaben der Wissenschaftler. Die Kritiker meines Buches sehen in einem derartigen Forschungsansatz nur „Vorurteile und Stereotypen“ am Werk. Für sie sind der Zerfall Jugoslawiens und die Gewalt der 1990er Jahre in erster Linie „externen Faktoren“ (nicht zuletzt der diplomatischen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durch Deutschland), gelegentlich auch der Machtgier Miloševićs und/oder dem Erbe des sozialistischen Regimes geschuldet („Tito ist zu spät gestorben“[17]). Die Rolle der Intellektuellen und die Art und Weise, wie Vergangenheit, Mythen und „Erinnerungen“ zur Aufhetzung der Massen missbraucht wurden, übergehen sie mit Stillschweigen.
Damit komme ich zu meinem letzten Punkt: Was kann und/oder soll eine moderne Geschichtsschreibung leisten? Auch hier muss ich mich auf Stichpunkte beschränken. Vorwegschicken möchte ich mein persönliches Verständnis von Geschichte. Geschichte als methodische, systematische und intersubjektiv nachvollziehbare Beschäftigung mit Vergangenheit ist für mich kein Selbstzweck. Ausgangspunkt sind die Menschen in ihren jeweiligen sich verändernden sozialen und kulturellen Kontexten. Nationen sind eine von vielen sozialen Organisationsformen des Menschen. Sie sind weder der Anfangspunkt noch der Endpunkt der Geschichte. Was mich interessiert, ist die Frage, warum eine Gesellschaft oder eine historische Persönlichkeit so ist bzw. war, wie sie ist, und nicht anders. Um diese Frage beantworten zu können, muss man die Prozesse der Vergangenheit untersuchen. Jede Gesellschaft ist das Produkt von Erbschaften und Veränderungen bzw. Neuerungen. Das Mischungsverhältnis von Erbschaften und Neuerungen ist von Fall zu Fall und von Zeit zu Zeit unterschiedlich. Mal erlangen die Erbschaften die Oberhand, mal die Neuerungen. Es gibt kein vorgeformtes Schema und es gibt keinen historischen Determinismus. Und immer bestehen auch Alternativen zu dem, was tatsächlich geschieht oder geschehen ist. Deshalb ist es faszinierend zu fragen, warum diese oder jene Entscheidung getroffen wurde und nicht eine andere? Welche Personen und Gruppen haben die Entscheidung gefällt? Welche Konsequenzen hatte ihre Entscheidung für die Gesellschaft? Und wie geht die Gesellschaft heute und künftig mit den Entscheidungen aus der Vergangenheit um? Im Unterschied zu Psychologen können Historiker keine Experimente anstellen. Und das ist vielleicht gut so. Unser Labor ist die Vergangenheit, in der bestimmte Optionen ausprobiert wurden. Aus der Rückschau können wir dann fragen, ob die mit den gewählten Optionen verbundenen Ziele und Erwartungen erfüllt, ob sie partiell erfüllt oder gar nicht erfüllt wurden. Ich bewerte also nicht a priori die Ziele selbst (zumindest bemühe ich mich darum, was nicht immer gelingt), sondern den Zielerreichungsgrad sowie die Konsequenzen von Zielsetzungen. Erst von daher – also post factum - kann man die Ziele selbst hinterfragen und man kann - bis zu einem gewissen Grad - aus Erfolgen und Misserfolgen lernen. Das ist der eine Aspekt. Der zweite Aspekt, der mit dem ersten zusammenhängt, ist das, was im Deutschen als „Vergangenheitsbewältigung“ bezeichnet wird. Vergangenheitsbewältigung ist – ganz kurz gesagt – die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen, mit unserer Vergangenheit, - nicht die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der „Anderen“. Diese ist auch wichtig und kann aus der eigenen Vergangenheit nicht ausgeblendet werden. Was Vergangenheitsbewältigung aber von den meisten anderen Formen des Umgangs mit Vergangenheit unterscheidet, ist der Ausgangspunkt: die Bereitschaft, sich mit unserer eigenen Verantwortung und Schuld auseinanderzusetzen und daraus zu lernen, was nicht bedeutet, dass es nicht auch die Verantwortung der „Anderen“ gibt. Aber wer ausschließlich oder primär die Untaten eines Gegners „aufarbeitet“, betreibt das Gegenteil dessen, was hier gemeint ist. Die Geschichtsschreibung ist ein wichtiger Teil dieses komplizierten und in der Regel langwierigen Prozesses, – eine Geschichtsschreibung, die dem im antiken römischen Recht praktizierten und bis heute gültigen Prinzip verpflichtet ist: „audiatur et altera pars“ (man soll auch den anderen Teil hören).
Bevor ich mich damit weiter beschäftige, will ich kurz auf die Frage eingehen, ob man Vergangenheitsbewältigung überhaupt braucht. Denn Vergangenheitsbewältigung kann verdammt lästig sein. In allen Gesellschaften mit einer „problematischen“ Geschichte (und es gibt nur wenige Gesellschaften, die nicht in der einen oder anderen Form eine „problematische“, „unverständliche“ Vergangenheit haben) wird daher von Zeit zu Zeit die Forderung laut, man solle einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Das mag gut gemeint sein. Zum Einen mit Blick auf die vielen Mitläufer, die es in jeder (sowohl demokratisch wie diktatorisch verfassten) Gesellschaft gibt. Zum Anderen ist die Auseinandersetzung mit geschehenem Unrecht oft mit dem Bedürfnis nach Rache verknüpft, was zwar verständlich, aber alles andere als zukunftsweisend ist. Bei der Schlussstrich-Debatte geht es in der Regel um die jüngere Vergangenheit, die im „kommunikativen Gedächtnis“ der Erlebnisgeneration und ihrer unmittelbaren Nachkommen gespeichert ist. Sehr viel seltener geht es um die weiter zurückliegende Vergangenheit, die Eingang in das „kulturelle Gedächtnis“ - in den Langzeitspeicher - der Gesellschaft gefunden hat und die weitgehend dem entspricht, was Friedrich Nietzsche als „monumentalistische Historie“ bezeichnet hat. Hierzu gehören auch die historischen Mythen. Die Ungleichbehandlung der jüngeren und der älteren Vergangenheit ist mit Blick auf die Erlebnisgeneration psychologisch nachvollziehbar, obwohl sie von der Sache her nicht begründbar ist. Wer von „Rückkehr zur Normalität“ oder von „Schlussstrich“ spricht, meint in der Regel nicht das Ende eines Prozesses reflektierter Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit (und noch weniger mit der älteren Vergangenheit), sondern verwahrt sich gegen den Beginn eines derartigen Prozesses. Die Schlussstrich-Befürworter setzen sich vornehmlich aus vier unterschiedlichen Gruppen zusammen, die sich partiell überschneiden. Zur ersten Gruppe gehören diejenigen, die als Täter in Verbrechen der jüngeren Vergangenheit involviert waren und eine strafrechtliche Verfolgung befürchten. Zur zweiten Gruppe gehören große Teile der schweigenden Bevölkerung, die sich mit den Tätern solidarisieren. Die dritte Gruppe setzt sich aus Pragmatikern zusammen, die die Debatten über Vergangenheit als Hindernis bei der Bewältigung der Probleme in Gegenwart und Zukunft empfinden und davon überzeugt sind, dass die Beschäftigung ( die „Obsession“) mit Vergangenheit die bestehenden Gräben weiter vertieft oder kaum vernarbte Wunden wieder aufreißt. Und die Vertreter des vierten Lagers wollen mit einem Schlussstrich die Versöhnung zwischen vormals verfeindeten Bevölkerungsgruppen innerhalb der eigenen Gesellschaft (z.B. zwischen Widerstandskämpfern auf der einen und „Verrätern“ oder „Kollaborateuren“ auf der anderen Seite) ermöglichen bzw. fördern.
Kurzfristig mag eine solche Versöhnung erfolgreich sein, längerfristig ist sie es in der Regel nicht. Fast immer erweist sich der Schlussstrich als Illusion. Er ist illusorisch, weil Menschen ohne Vergangenheit nicht leben können, weil der Drang zu erfahren, woher man kommt und was einem passiert ist, unausrottbar ist. Ein Mensch ohne Vergangenheit und Erinnerungen ist wie ein Mensch ohne Schatten. Man kann eine spezifische Vergangenheit oder Teile einer ungeliebten, beunruhigenden Vergangenheit verdrängen, vergessen, verschweigen oder so deuten, dass man mit ihr leben kann. Menschen haben zu allen Zeiten und überall auf der Welt vieles vergessen. Vergessen ist überlebenswichtig und konstruktiv. Und die bislang wenig erforschte Geschichte des Vergessens ist ebenso spannend wie die Geschichte des Erinnerns. Aber Vergessen ist kein Willensakt. Man kann nicht etwas vergessen wollen, sondern man vergisst es, weil es nicht (mehr) kommuniziert wird, weil man einer erneuten Konfrontation mit dem Geschehenen aus dem Weg gehen will, weil man mit dem Vergessenen im Reinen ist, weil es Dinge gibt, die als wichtiger empfunden oder als wichtiger deklariert werden oder weil das Vergessene durch andere Erfahrungen oder Erinnerungen überschrieben wurde. Im Unterschied zum Vergessen kann man Schweigen (zumindest öffentliches Schweigen) verordnen. Und ein lang durchgehaltenes kollektives Schweigen mag zu einem geordneten/verordneten Vergessen führen. Doch sofern es sich um traumatische Erlebnisse handelt, die in den neuronalen Netzwerken tiefer verankert sind als weniger dramatische Erfahrungen, ist dies ziemlich unwahrscheinlich, - zumindest für die Betroffenen und zumindest in pluralistischen Gesellschaften, wo sich die Betroffenen öffentlich artikulieren können. Eher ist es möglich, dass etwas, was zeitweilig vergessen oder zumindest verschwiegen worden war, aus dem Vergessen zurückkehrt oder zurückgeholt wird. Und es ist möglich, dass eine Vergangenheit gar nicht vergangen ist. Eine nicht vergangene Vergangenheit beschweigen zu wollen, ist gleichbedeutend mit einem Schlussstrich unter die Gegenwart und die Zukunft. Denn irgendwann holt die verdrängte, „vergessene“ Vergangenheit die Gegenwart in höchst gefährlicher Weise wieder ein. Mitunter erst nach langer Zeit und unerwartet. Das ehemalige Jugoslawien und sein Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg liefern dafür überaus beeindruckendes und bedrückendes Anschauungsmaterial. Die meisten derjenigen, die vom Schlussstrich sprechen, meinen im Übrigen auch gar nicht den Schlussstrich unter die Vergangenheit, der sie nach wie vor herzlich verbunden bleiben, sondern den Schlussstrich unter die Geschichte, die sie – völlig zu Recht – als Bedrohung empfinden. Die Vergangenheit samt ihrer Bilder von Helden, Märtyrern und Opfern ist heilig; die Geschichte als Wissenschaft ist profan. Deshalb lehnen die Schlussstrich-Apologeten die Geschichte ab. Das klingt paradox, ist aber kein Widerspruch, denn Geschichte und Vergangenheit schließen einander aus, obwohl sie sich teilweise überlappen. Kurzum: Geschichte ist elementar für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft, für die Entwicklung einer Konfliktkultur, in der Konflikte nicht als „unnormal“ unterdrückt und/oder tabuisiert, sondern sozial ausgehandelt werden. Ohne Geschichte gibt es keine Zukunft, die diesen Namen verdient.
Geschichte bzw. Geschichtswissenschaft ist heute nicht mehr das, was sie im 19. und großen Teilen des 20. Jahrhunderts – im Zeitalter der Nationen – war. Geschichte ist nicht die Dienerin der Nation. Sie ist eine Wissenschaft, und Wissenschaft ist nicht statisch. Es haben sich nicht nur die Fragestellungen, Methoden und Theorien der Geschichtswissenschaft verändert. Verändert haben sich auch die Nachbardisziplinen, selbst wenn deren Ergebnisse oft erst mit großer Verzögerung von den Historikerinnen und Historikern rezipiert werden. Unter den Veränderungen zu erwähnen sind u.a. der „cultural turn“ in der Geschichtswissenschaft, die Beschäftigung mit Symbolen, Ritualen usw., die „gender history“, die Erinnerungsforschung, Migrationsforschung oder die Komparatistik und Transferforschung. Wir wissen heute sehr viel mehr als früher über „Erinnerungen“, ihre soziale Gebundenheit und ihre stetigen Veränderungen. Wir wissen, dass „Erinnerungen“ zu dem Unsichersten gehören, was es gibt. Die moderne Hirnforschung hilft, Dinge zu verstehen, die wir vorher nicht verstanden haben. Wir wissen heute – dank der Fortschritte, die in der Psychologie, Sozialpsychologie und Kognitionswissenschaft während der letzten drei Jahrzehnte erzielt worden sind - auch sehr viel mehr als früher über Wahrnehmungsbarrieren, d.h. darüber, warum Menschen bestimmte Informationen, obwohl sie vorhanden und empirisch bewiesen sind, nicht weiter verarbeiten. Das ist keine Frage der Intelligenz, sondern der soziokulturellen Wahrnehmungsmuster. Wir wissen sehr viel mehr über kollektive Identitäten oder über die Entstehung von Gewalt und die Entstehung von Tätern. Das Verständnis und der Umgang mit Traumata, die lange in der Gesellschaft ignoriert und tabuisiert wurden, haben deutlich zugenommen. Kurzum: Die Geschichtswissenschaft befindet sich mitten in einem gewaltigen Umbruch. Sie ist nicht mehr Mittel zum Zweck der Nationsbildung oder zur Glorifizierung der Nation. Sie ist Mittel zum besseren Verständnis der Menschen und ihrer sozialen wie kulturellen Kontexte.
Die Geschichtswissenschaft ist somit ein unverzichtbarer Teil der „Zukunfts- werkstatt“ geworden.[18] Lassen Sie mich schließen mit der Hoffnung und dem Wunsch, dass mit dem Projekt der „Zukunftswerkstatt“ auch im ehem. Jugoslawien die Zukunft begonnen hat, - ein Zukunft, die nach Jahren der Katastrophen und Isolation nicht einfach ist, aber die den Menschen mehr zu bieten hat als die Vergangenheit. Die wichtigste Voraussetzung ist: man muss die Zukunft wollen. Gewiss kann man sich ihr entgegenstemmen, kann ihren Beginn verzögern, kann die Vergangenheit verherrlichen. Aber man kann die Zukunft auch gestalten, ihr eine Richtung geben. Nur aufhalten kann man sie nicht. Das ist die wichtigste Lehre aus der Geschichte.
[*] Das Zitat stammt aus einem Kommentar von Miloslav Samardžić: Kad Nemac piše srpsku istoriju…, in: Internet Svedok (o.D.). Der nachfolgende Text ist eine modifizierte und stellenweise erweiterte Fassung des Vortrags, den ich am 3. April 2009 im Goethe-Institut in Belgrad und am 4. April in der Belgrader Kolarac-Universität gehalten habe. Die serbische Fassung des Vortrags ist nachlesbar unter: http://www.pescanik.net/content/view/3009/1107/. Entsprechend dem Vortragscharakter habe ich im Folgenden auf Anmerkungen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – verzichtet, da diese den Umfang des Textes gesprengt hätten. Alle zitierten Internetseiten wurden zuletzt im April 2009 abgerufen.
Der Vortrag wurde erstmals am 14.7.2009 auf der Forschungsplattform Südosteuropa veröffentlicht.
[1] Charles Simic: Odrod, in: "Der andere nebenan". Eine Anthologie aus dem Südosten Europas. Hg. Richard Swartz. Frankfurt/M. 2007, S. 200.
[2] Stellvertretend erwähnt seien die öffentliche Erregung in Bulgarien über das von Ulf Brunnbauer und Martina Baleva vorbereitete Ausstellungsprojekt „Batak als bulgarischer Erinnerungsort“ von 2007 oder die maßlosen Reaktionen auf die albanische Übersetzung von Oliver Schmitts Skenderbeg-Biographie während der letzten Monate. Die Liste von Beispielen ließe sich fast endlos fortsetzen.
[3] Josip Jurčević: Die Entstehung des Mythos Jasenovac. Probleme bei der Forschungsarbeit zu den Opfern des II. Weltkrieges auf dem Gebiet von Kroatien. Zagreb 2007.
[4] Es handelt sich um einen Artikel von Radoš Ljušić: Nova srpska istorija u očima nemačkog istoričara: Polemično i kontroverzno, - in: NIN vom 19.2.2009, S. 48-49.
[6] Istorija Srbije od 19. do 21. veka. Beograd 2009. Die Originalausgabe „Geschichte Serbiens. 19.-21. Jh.“ erschien 2007 in Wien.
[7] Miloslav Samardžić: Kad Nemac piše srpsku istoriju… (siehe Anm. 1). Samardžić beruft sich auf eine Äußerung, die anlässlich des Rundtischgesprächs über die serbische Geschichte und Historiografie aus Anlass meines Buches am 20. Februar 2009 in Belgrad stattfand. Vgl. dazu u.a. Andjelka Cvijić: Krupni plan. Kritičko sagledavanje, in: Politika vom 23.2.2009.
[8] So wurde z.B. in einem Interview bemängelt, dass ich Stefan Dušan als „Nachfolger“ König Milutins bezeichnet habe. Zwar war Dušan in der Tat ein Nachfolger Milutins, aber nicht unmittelbar. Zwischen dem Tod Milutins und dem Beginn der Alleinherrschaft Dušans lagen zehn Jahre, in denen Dušans Vater, Stefan Uroš III. (Dečanski) regierte. Dušan trug in dieser Zeit den Titel eines „iunior rex“. Für die Argumentation, in der es um die Anziehungskraft des byzantinischen Kaiserideals ging, hat dies jedoch keinerlei Bedeutung. In einem anderen Interview wurde mir vorgehalten, dass ich den Geburtsort von Vuk Karadžić falsch angegeben hätte. Tatsächlich habe ich den Geburtsort aber gar nicht erwähnt (was man kritisieren kann), sondern nur von der Herkunft seiner Familie gesprochen.
[9] Miloš Ković von der historischen Abteilung der Belgrader Universität behauptet in einem Interview z.B., dass ich u.a. Vuk Karadžić für das verantwortlich gemacht hätte, was im Bürgerkrieg 1991 bis 1999 geschehen ist. Interview mit Miloš Ković in Politika vom 18.2.2009. Tatsächlich habe ich genau das Gegenteil gesagt und eine Kontinuität von Vuk Karadžić zu Radovan Karadžić ausdrücklich zurückgewiesen. Čedomir Antić, Mitarbeiter des Balkanologischen Instituts der Serbischen Akademie und Autor einer „Kratka istorija Srbije 1804-2004“ (Beograd 2004, 219 S.) – bei der es sich im Übrigen nicht um eine Gesamtdarstellung der Geschichte Serbiens, sondern um eine Sammlung von Essays handelt -, kritisiert, dass ich bei der Darstellung bestimmter Phänomene in Serbien (wie Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus etc.) nicht auf die mitteleuropäischen u.a. externe Einflüsse hingewiesen hätte. Das bezeugt, dass er – gleich Ković u.a. - große Teile des Buches nicht gelesen hat. An anderer Stelle kritisiert er, dass meine Vergleiche zwischen Deutschland und Serbien im 20. Jahrhundert ein „sehr großer Mangel des Buches“ seien! Dass ich im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg nicht auf die Rolle des „ausländischen Faktors“ eingegangen sei, ist schlicht falsch. Unwahr ist ferner, dass ich die Studentenunruhen von 1968 überhaupt nicht erwähnt hätte. Usw. Für Antić steht fest, dass das Buch einseitig ist und im Dienst der Politik steht. Interview mit Antić in Internet svedok (o.D.). Miloslav Samardžić, ein von wissenschaftlicher Methodik „unverdorbener“ Apologet des Tschetnikführers Draža Mihailović, behauptet in seinem bereits erwähnten Kommentar (siehe Anm. 1), dass ich zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Jugoslawien keinerlei Archivstudien betrieben und weder das Militärhistorische Archiv in Freiburg noch das Archiv des Militärhistorischen Instituts in Belgrad aufgesucht hätte. Bei etwas mehr Sorgfalt hätte er sich leicht vom Gegenteil überzeugen können. „Alles in allem“, fasst Samardžić zusammen, „wenn es um den Zweiten Weltkrieg geht, hat es Sundhaussen nicht geschafft, wenigstens zwei korrekte Sätze zu schreiben.“
[10] In: Critique of Anthropology 19 (1999) 1, S. 14.
[11] Ebda., S. 17.
[12] Vgl. Anm. 9.
[13] Zum Folgenden vgl. die Einführung zum Sammelband Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im vergleich: 19. und 20. Jahrhundert. Hg. Etienne François, Hannes Siegrist und Jakob Vogel. Göttingen 1995.
[14] „Gottes auserwählte Völker“. Erwählungsvorstellungen und kollektive Selbstfindung in der Geschichte. Hg. Alois Mosser. Frankfurt/M. [u.a.] 2001.
[15] Mythen der Nationen: Ein europäisches Panorama. Hg. Monika Flacke. Berlin 1998. Im Jahr 2004/05 schloss sich eine Folgeausstellung an: Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Hg. Monika Flacke. 2 Bde. Berlin 2004.
[16] ZEIT vom 6.8.1993: Töten musst du. Bereits am 18.6.1993 war in der ZEIT ein ähnlicher Bericht erschienen. Nur die Orte und Namen der Akteure unterschieden sich.
[18] Die internationale „Zukunftswerkstatt 2008-2010“ ist ein Gemeinschaftsprojekt des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin, der Abteilung für Geschichte der Philosophischen Fakultät der Universität Zagreb sowie der Goethe-Institute in Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina. Die „Zukunftswerkstatt“ bietet jungen Forschenden aus dem früheren Jugoslawien und Deutschland ein Forum zur Präsentation und Diskussion ihrer Forschungsvorhaben. Der vorliegende Vortrag bildete den Auftakt der zweiten Konferenz, die vom 3.–5.4.2009 in Belgrad stattfand.