Was fängt ein Historiker mit einem Film an, der 131 Minuten lang reine Gegenwart produziert, die Adrenalinreserven auf Null setzt und für den der Krieg, in dem er spielt, zum Hintergrundrauschen wird? Diese Frage wirft der diesjährige sechsfache Oscar-Gewinner The Hurt Locker[1] auf, der gleichermaßen einzigartig und Teil einer Serie von Filmen über den Zweiten Irakkrieg ist: Im Folgejahr 2009 wurde unter der Regie von Grant Heslov The Men Who Stare at Goats produziert, eine Klamotte mit George Clooney, Jeff Bridges und Kevin Spacey; im gleichen Jahr kam auch Rob Botts’ Kriegsdrama A Line in the Sand in die Kinos und im März 2010 folgte mit Green Zone von Peter Greengrass ein Actionfilm, in dem Matt Damon als US-Offizier Roy Miller auf der Suche nach Massenvernichtungswaffen in Irak eine Verschwörung aufdeckt. Als hätten sie die verschiedenen Formen der Kriegsverarbeitung untereinander aufgeteilt, sorgen diese Filme für Spannung pur (The Hurt Locker), Unterhaltung (Green Zone), Betroffenheit (A Line in the Sand) und Gelächter (The Men Who Stare at Goats). Dass ausgerechnet der Spannungsfilm unter ihnen sechs Oscars abräumte, lässt ahnen, dass hier ein Nerv getroffen wurde.
Dies ist umso interessanter als der Film gar keinen eigentlichen Plot hat: Ein Bombenräumkommando in Bagdad verliert bei einem Einsatz seinen Gruppenleiter. Dessen Nachfolger, Sergeant Will James (Jeremy Renner), entpuppt sich als Draufgänger, dem Autonomie wichtiger ist als die Zusammenarbeit im Team, der sich bei der Entschärfung einer Autobombe seines Schutzanzuges entledigt („Wenn ich schon sterben muss, dann will ich es bequem haben“), der aber gleichzeitig auch der einzige ist, der Kontakt zur irakischen Bevölkerung aufnimmt: Er freundet sich mit einem zwölfjährigen Jungen an, der DVDs verkauft, Fußball spielt und sich selbst Beckham nennt. Angst hat James nur vor der Ereignislosigkeit des zivilen Lebens: Als die Kameraden unter seinem Bett eine Kiste mit Metall und Elektroschrott finden, erklärt er, er sammle Überreste von den Dingen (sprich: Bomben), die ihn fast umgebracht hätten (und unter diesen Dingen findet sich sein Ehering).
Abgesehen von der brutalen Spannung, vor allem in den Szenen, in denen Bomben entschärft oder zur Explosion gebracht werden, begleitet der Film über einen Zeitraum von 39 Tagen eine Truppe, deren Angehörige so unterschiedlich sind, wie man es sich nur vorstellen kann. Der farbige Sergeant JT Sanborn (Anthony Mackie) ist ein besonnener und verantwortungsbewusster Soldat, der immer wieder versucht, James, den er anfangs für einen Kriegstreiber hält, von riskanten Einzelgängen abzuhalten: „Ich war sieben Jahre beim Nachrichtendienst, bevor ich zur Kampfmittelräumung kam. Ich weiß also ziemlich genau wie reaktionäre weiße Hinterwäldler wie du ticken.“
Das Verhältnis scheint nun abgesteckt zu sein: Der liberale farbige Untergebene verachtet seinen reaktionären weißen Vorgesetzten, dem dies jedoch gleichgültig ist. Der dritte im Bunde, Spezialist Owen Eldridge (Brian Geraghty), ist vor allem damit beschäftigt, Angst vor dem nächsten Einsatz zu haben und konsultiert deshalb den Militärpsychologen, der versucht, ihm den Einsatz im Irak schmackhaft zu machen: „In den Krieg zu ziehen ist eine einmalige Lebenserfahrung. Es könnte Spaß machen.“ Als der Psychologe sich damit brüstet, er habe selbst Felddienst geleistet, fragt Owen sarkastisch: „Wo war das? In Yale?“ (Der Psychologe tritt später auf eine Mine, als er – auf Eldridges Wunsch - das Bombenräumkommando zu einem Einsatz begleitet).
Während alle Angehörigen des Teams die Tage bis zur Heimkehr rückwärts zählen, genießt James jeden Einsatz. Nach Ablauf seines Dienstes sehen wir ihn in einem US-amerikanischen Supermarkt: hilflos steht er vor einem riesigen Regal mit unzähligen Sorten von Cornflakes, außer Stande, eine sinnvolle Entscheidung für eines dieser Produkte zu treffen. Mit Frau und Kind kann er wenig anfangen und folgerichtig zeigt die letzte Szene seine Rückkehr in den Irak – wo er freudestrahlend aus dem Hubschrauber steigt. An der Front ist er zu Hause, nicht in der zivilen Wohlstandsgesellschaft, die sich hier von ihm „verteidigen“ lässt. Das dem Film vorangestellte Motto „Krieg ist eine Droge“ scheint sich in Sergeant James materialisiert zu haben. Was er tut, ist gleichzeitig eine hochprofessionelle Angelegenheit, bei der er Menschenleben rettet – und ein Spiel: „Gute Nacht. Danke fürs Mitspielen“ sagt James, nachdem Sergeant Sanborn, in einen Hinterhalt geraten, einen aufständischen Iraker erschossen hat.
The Hurt Locker ist ein Spannungsfilm, aber es ist auch ein Film, in dem es keine Guten, keine Bösen und vor allem keinen Kitsch gibt. In solchen Szenen, die im Actiongenre sonst zwanghaft mit Spannungsmusik unterlegt werden, arbeitet Kathryn Bigelow mit Geräuschen, die quasi natürlich das Geschehen rahmen: Zu hören ist der Atem des Bombenentschärfers unter dem schweren Stahlhelm, arabische Musik auf den Straßen von Bagdad (gedreht wurde allerdings in Jordanien), das Quietschen eines trockenen Scheibenwischers auf einem mit Sprengstoff voll geladenen Auto, das Summen einer Fliege, die sich mitten im Gefecht auf James’ Gesicht setzt (wahrlich ein bescheiden eingemogeltes Vanitasmotiv und eine schöne Reminiszenz an Sergio Leones Spiel mir das Lied vom Tod).
Um die Ursachen, die Folgen und die Möglichkeiten der Beendigung des Irakkriegs geht es in diesem Film nicht – wohl aber darum, was passiert, wenn man eine Gesellschaft, die sich als Zivilgesellschaft versteht, in den Krieg führt. Dieses Thema ist alles andere als neu (schließlich wurde es schon im Kontext des Vietnamkriegs ausführlich behandelt), und dennoch kommt hier ein neuer Aspekt ins Spiel: Die Protagonisten von The Hurt Locker kämpfen nicht gegen Menschen, sondern gegen Bomben, sollen also den Irakern mehr Sicherheit geben – und stellen fest, dass sie auch dafür gehasst werden. Als James einmal mit vorgehaltener Waffe einen irakischen Taxifahrer an der Durchfahrt durch seinen Einsatzort hindert, stellt er trocken fest: „Also wenn das kein Aufständischer war – jetzt ist er einer.“ Besondere Nervosität kommt auf, als irakische Anwohner die Entschärfung einer Autobombe mit einer Videokamera filmen: „Der Typ will mich wohl bei YouTube reinstellen, kommt mir verdächtig vor.“ Das vom Westen geforderte Recht auf freie Information wird im Irak unversehens zur Bedrohung, der Widerspruch zwischen humanitär-demokratischem Anspruch und der Wirklichkeit des Kriegs lässt alle Mitglieder des Kommandos, mit Ausnahme von Sergeant James, an ihrem Einsatz verzweifeln. James indes demonstriert, dass ein Mann gleichzeitig Macho, Misfit und Humanist sein kann; in den Worten eines Kritikers: „The talent that another man might have for making bombs, James has for finding and silencing them. It’s not just his job, it’s his vocation. ... It’d be a crime not to apply his expertise to saving lives.“[2]
Von deutschen Kritikern wurde der Film sehr unterschiedlich bewertet. „Wild laut, von kinetischer Energie befeuert und dennoch kontrolliert wie ein prekäres Experiment, haben wir endlich den Irak-Film, den dieser Krieg verdient“ – schrieb Verena Lueken in der FAZ.[3] Etwas verhaltener lobte die ZEIT den Film vor allem für seine ästhetischen Qualitäten, die sich im Wettbewerb mit James Camerons Avatar schließlich auch ohne Special Effects, großes Budget und Starschauspieler durchsetzten konnten.[4] Thomas Kniebe von der Süddeutschen Zeitung allerdings bezeichnete die Regisseurin Kathryn Bigelow als den „letzte[n] verbliebene[n] Kerl in Hollywood“ und die Hauptfigur Will James abfällig als Vertreter eines „Tod-und-Teufel-Machismo“ – überleben wolle er „auf jeden Fall nicht“. (Dabei übersieht Kniebe, dass James – ein Genie auf seinem Gebiet – tatsächlich nicht sterben will: Auf die Frage eines Kollegen, wie man am besten eine Bombe entschärfe, antwortet er: „So, dass man nicht stirbt“.) Auch Kniebe räumt ein, dass es sich um einen guten Film handele, weiß aber besser als der Drehbuchautor Mark Boal, der zuvor als Journalist ein Bombenräumkommando im Irak begleitet hatte, wie es im Irak „wirklich“ zugeht: Die Annahme, dass die US-Armee einen Desperado wie Will James in ihren Reihen tolerieren würde, sei „dann doch eher was für Regieamazonen in der Menopause“.[5]
Im Unterschied zu Kniebe, der den Film offenbar für einen Dokumentarfilm und die machistischen Sprüche der Soldaten für Bigelows Wunschkonzert hielt, sind die US-amerikanischen Kritiken fast ausnahmslos des Lobes voll: Der Film sei unpolemisch, weder politisch noch moralisch überladen, sowohl „realistisch“ als auch perfekt inszeniert.[6] Die Chicago Tribune lobte: „Bigelow and screenwriter Mark Boal ... have made the first fictional feature about American soldiers in Iraq that doesn't fall apart, or preach to a choir, or turn into a position paper.“[7] Scott Foundas von der Village Voice erkannte, dass Will James zwar an der Oberfläche ein „gonzo alpha male“ ist, darunter jedoch „the movie’s most intricately wired explosive device“ (sprich: James ist der Sprengstoff, der die amerikanische Gesellschaft von innen bedroht). Den Film bezeichnete er als „full-throttle body shock of a movie. It gets inside you like a virus“.[8]
Mick LaSalle erklärte den Film im San Francisco Gate zum Klassiker, lange bevor er für den Oscar nominiert wurde: "’The Hurt Locker’ is the first Iraq war film with a postwar feeling. It's not about politics anymore, but about a war that happened and what it was like. ... On the day of its release, this one enters the pantheon of great American war films - and puts Kathryn Bigelow into the top tier of American directors.“[9] Und der Kritiker der New York Times ließ sich gar zu der Einschätzung hinreißen: “If ‘The Hurt Locker’ is not the best action movie of the summer, I’ll blow up my car. … Ms. Bigelow … has an almost uncanny understanding of the circuitry that connects eyes, ears, nerves and brain. … You may emerge from ‘The Hurt Locker’ shaken, exhilarated and drained, but you will also be thinking.”[10] Statt die Regisseurin abfällig als ‘letzten Kerl’ von Hollywood zu betiteln, lobt dieser Kritiker sie für ihre tiefe Einsicht in die Psyche der Männer, für die sie sich wirklich interessiert.
Strittig ist in den amerikanischen Kommentaren allein die eingangs gestellte Frage, ob es sich bei The Hurt Locker um ein politisches oder ein unpolitisches, gar antipolitisches Werk handelt (und damit wären wir wieder bei der Frage, was ein Historiker mit einem radikalen Gegenwartsfilm anfangen kann). Kenneth Turan von der Los Angeles Times hält den Film für so unpolitisch, dass er ihn nicht einmal recht als „Irakfilm“ bezeichnen mag: „It’s more of a classic study of men in combat and under stress that could have taken place almost anytime, anywhere. There's no sense of winning or losing a war here, no notion of making a difference or achieving lofty geopolitical aims.“[11] David Denby dagegen schreibt im New Yorker, der Film sei zwar weder ein Kriegsfilm noch im engeren Sinne politisch, enthalte jedoch subkutan durchaus ein politisches Statement: „Bigelow stages one prolonged and sinister shoot-out in the desert, but the movie couldn’t be called a combat film, nor is it political, except by implication—a mutual distrust between American occupiers and Iraqi citizens is there in every scene.“[12]
Vielleicht liegt darin der Sinn, den der Historiker – im Futur II – einmal darin wird gesehen haben: Es ist dies ein Dokument über den Irakkrieg, das keine Bilanz zieht, das aber in Zukunft als Quelle der politischen Kulturgeschichte des anbrechenden dritten Jahrtausends wird gelesen werden können.
The Hurt Locker (Tödliches Kommando)
USA 2008, Regie: Kathryn Bigelow; Drehbuch: Mark Boal; Darsteller: Jeremy Renner, Anthony Mackie, Brian Geraghty; Concorde, 131 Min.
[1] Der Titel The Hurt Locker ist nur schwer zu übersetzen. Manche verstehen darunter einen Schrank oder Spind (‚Locker’), in den der Schmerz (‚Hurt’) eingesperrt wird, andere einen Ort der Schmerzen (in diesem Fall in übertragenem Sinn den Irak). Vgl. Urban Dictionary (http://www.urbandictionary.com/define.php?term=hurt+locker&defid=1197759, 10.5.2010); hier wird hurt locker u. a. als „period of immense, inescapable physical or emotional pain“ und als „figurative place where someone is said to be or will be, if they are getting or expect to be getting hurt or beaten“ umschrieben. Zudem wird der Drehbuchautor (ohne Quellenangabe) mit folgender Äußerung zitiert: „EOD soldiers use [the term] as a form of poetic understatement: If an improvised explosive device, or IED, goes off while you're trying to disarm it, the ‘hurt locker’ is likely to mean a white box draped in a flag and shipped home with full military honors.” Tatsächlich wird zu Beginn des Films eine solche „white box“ gezeigt, die allerdings nicht die Leiche, sondern nur den persönlichen Besitz des im Einsatz gestorbenen Sergeant Thompson enthält. Die offizielle Webseite zum Film erklärt, es sei „soldier vernacular to speak of explosions as sending you to ‚the hurt locker’ (http://thehurtlocker-movie.com/, 10.5.2010).
[2] Richard Corliss, The Hurt Locker: A Near-Perfect War Film, in: Time, 4.9.2008, http://www.time.com/time/printout/0,8816,1838615,00.html (9.5.2010; Time besprach den Film bereits nach der Premiere beim Filmfestival in Venedig, nicht – wie die meisten anderen Zeitungen – erst beim Kinostart in den USA).
[3] Verena Lueken, „Tödliches Kommando”. Im Kriegstheater von Bagdad, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.8.2009, Feuilleton.
[4] Annette Brauerhoch, Die Aussage im großen Wumm, in: Die Zeit, 9.3.2010, http://www.zeit.de/kultur/film/2010-03/hurt-locker-oscar (10.5.2010).
[5] Tobias Kniebe, Nicht ohne meine Bombe, in: Süddeutsche Zeitung, 13.8.2009, http://www.sueddeutsche.de/kultur/599/484040/text/ (10.5.2010)
[6] Vgl. Richard Corliss, The Hurt Locker: A Near-Perfect War Film (wie Anm. 1).
[7] 'The Hurt Locker' Stars Jeremy Renner, Anthony Mackie, Brian Geraghty, in: The Chicago Tribune, 10.7.2009, http://articles.chicagotribune.com/2009-07-10/entertainment/0907090410_1_hurt-locker-jeremy-renner-anthony-mackie (9.5.2010)
[8] Scott Foundas, The Hurt Locker. Ticking Time Bomb of a Movie, in: The Village Voice, 24.9.2009, http://www.villagevoice.com/2009-06-24/film/the-hurt-locker-ticking-time-bomb-of-a-movie/ (10.5.2010).
[9] Mick LaSalle, 'The Hurt Locker' shows Bigelow's skill, San Francisco Gate, 10,07.2009, http://sfgate.com/cgi-bin/article.cgi?f=/c/a/2009/07/10/MV6N18L4N4.DTL (9.5.2010)
[10] A. O. Scott, Soldiers on a Live Wire Between Peril and Protocol, New York Times, 26.6.2009, http://movies.nytimes.com/2009/06/26/movies/26hurt.html?ref=movies (9.5.2010).
[11] Kenneth Turan, ‚The Hurt Locker’, in: Los Angeles Times, 26.6.2009, http://articles.latimes.com/2009/jun/26/entertainment/et-hurtlocker26 (9.5.2010).
[12] David Denby, Anxiety Tests. “The Hurt Locker” and “Food, Inc.”, in: The New Yorker, 29.6.2009, http://www.newyorker.com/arts/critics/cinema/2009/06/29/090629crci_cinema_denby (9.5.2010).