von Rebecca Wegmann

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16. Februar 2024

Moritz Bleibtreu, Till Schweiger, Heinz Rühmann oder Fritz Lang: Im Vergleich zu männlichen Filmschaffenden gibt es weniger Artikel in der deutschsprachigen Wikipedia zu weiblichen auch queeren Personen in der Kinobranche. Damit ist dieser Personenkreis digital auch weniger sichtbar. Am Eröffnungswochenende der 74. Berlinale rufen deswegen engagierte Aktive des Wikipedia-Projekts WomenEdit gemeinsam mit Wikimedia Deutschland Interessierte dazu auf, sich an einem Edit-a-thon, einer Schreibwerkstatt, zu beteiligen. Ihr Ziel: Artikel über Filme und Biografien weiblicher Filmschaffender für die Wikipedia zu verfassen. Im Gespräch mit zeitgeschichte|online erklärt die Wikipedianerin Grizma[1]wie sie Filmfrauen in die Wikipedia bringen will.

 

zeitgeschichte|online: Was macht Ihr genau?

Grizma: Wir veranstalten einen Edit-a-thon. Der Titel setzt sich zusammen aus den Begriffen „Editieren“ und „Marathon“ zusammen, hier nicht wie im deutschsprachigen Raum mit der herausgebenden Tätigkeit zu verstehen, sondern im Sinne des englischen Begriffs „edit“, was so viel heißt wie „Texte bearbeiten“. Ein „Edit“ ist der Fachbegriff für eine gespeicherte Bearbeitung in Wikipedia. Ein Edit-a-thon ist also ein Marathon, in der Regel ein langes Wochenende oder ein langer Tag, an dem wir genau das tun, nämlich Artikel für Wikipedia neu schreiben oder in Wikipedia überarbeiten. Ein Edit-a-thon im Rahmen der Berlinale existiert seit 2016. Nachdem jedoch die damalige Organisatorin ihre Arbeit beendete, haben wie die Aktion 2020 neu initiiert, weil die Berlinale einfach die Berliner*innen so stark bewegt.

zeitgeschichte|online: Warum macht Ihr das?

Grizma: Hintergrund für meine gesamte Tätigkeit in Wikipedia ist es, Frauen in der Wikipedia und über die Wikipedia sichtbarer zu machen. Ich als Wikipedia-Autorin habe einen Schwerpunkt darin, Frauen-Biografien zu schreiben und Benutzer*innen mit weniger Erfahrung in der Wikipedia dabei zu unterstützen, Frauen-Biografien zu schreiben, damit diese in der Wikipedia präsent sind. Im deutschsprachigen Raum sprechen die Prozentzahlen der aktiven Wikipedianer*innen für sich: Es sind nur rund 12 bis 17 Prozent der Wikipedianer*innen weiblich. Eine genaue Statistik zu erstellen ist nicht möglich, diese Zahlen basieren auf einer Schätzung. Der Rest sind User, die in ihrer Selbstauskunft behaupten, männlich zu sein.

Dieses Defizit bei den Personen, die für Wikipedia schreiben, spiegelt sich natürlich auch in den Themen. Die Forschung bemüht sich seit einigen Jahrzehnten, mehr Frauen zu untersuchen. Lange war es ein Ausnahme, über Frauen zu schreiben. Dadurch sind historische Frauenfiguren sehr viel weniger stark in der Wikipedia vertreten als Zeitgenössische. Und da Wikipedia keine Themen setzt, sondern etabliertes Wissen abbildet. Wenn es keine Forschung zu den Frauen gibt, kommen sie auch nicht vor. Wikipedia ist eine stark aufgerufene Seite und hat damit eine sehr hohe Webpräsenz, was Wissen über Personen, über Namen, über Dinge angeht. Und wenn Wikipedia ein Thema oder eine Person nicht abbildet, heißt das nicht, dass die Person oder das Thema nicht relevant ist. Diese Lücken gilt es zu schließen.

Wikipedia FilmFrauen Berlinale-Edit-a-thon, 18. Februar 2023. Quelle: Wikimedia Commons, Elena Ternovaja. Lizenz: CC BY-SA 3.0

zeitgeschichte|online: Und das macht Ihr nur für den deutschsprachigen Raum?

Grizma: Nicht ausschließlich deutschsprachige Artikel werden im Rahmen dieses Berlinale Edit-a-thons bearbeitet. Mit Holder haben wir einen sehr engagierten Nutzer, der die alemannische Wikipedia jedes Jahr zum Berlinale Edit-a-thon um mindestens 20 bis 30 Frauen-Biografien erweitert. Vielleicht ist auch ein englischsprachiger Artikel dabei.

zeitgeschichte|online: Inwiefern gibt es ähnliche Initiativen zu anderen Veranstaltungen?

Grizma: Im Rahmen des XPOSED Queer Film Festivals Berlin werden seit einigen Jahren Edit-a-thons auf Deutsch und Englisch veranstaltet. Darüber hinaus arbeiten Wikimedia Deutschland, Wikimedia Austria und Wikimedia Schweiz mit Kultur- und Kunstinstitutionen, Archiven oder Museen zusammen. Das sind sogenannte GLAM-Touren. Dabei werden ehrenamtliche Wikipedianer*innen an einem Wochenende in Kulturinstitution eingeladen, um deren Archivbestände zu sichten und vor Ort über Themen zu schreiben, die diese Kulturinstitution im weitesten Sinne betreffen. Letztes Jahr im Herbst gab es eine Zusammenarbeit mit dem Museum Barberini in Potsdam. Ich habe zudem an GLAM-Touren in die Stiftsbibliothek St. Gallen, die Schweizerische Nationalphonothek in Lugano und in Montreux teilgenommen, bei der wir über das Jazzfestival geschrieben haben. Aber wir haben auch feste Gruppen und Ansprechpartner*innen für Frauen und natürlich für alle anderen Menschen, die zur Wikipedia beitragen wollen. Wir brauchen dringend neue Autor*innen, weil unsere Autor*innenschaft schrumpft. Deswegen machen wir solche Aktionen, um neue Menschen für die Mitarbeit am Lexikon zu begeistern. Es gibt Women Edit in Berlin und Erlangen. Women Edit Berlin bietet Online-Meetings an, sodass Frauen aus anderen Städten teilnehmen können. Und dann gibt es auch ein Mentoring-Projekt nur für Frauen, das heißt FemSupport. Dort findest du ausschließlich Frauen, die anderen Frauen Fragen rund um Wikipedia beantworten und diese bei der Artikelarbeit unterstützen. Und das ist für manche Frau einfacher, um die Angst vor technischen Hürden zu überwinden, wenn sie von einer anderen Frau unterstützt wird. Für die Arbeit in Wikipedia braucht es aber keine Programmierkenntnisse.

zeitgeschichte|online: Wikipedia hat in der deutschen Wissenschaft einen ambivalenten Ruf. Viele nutzen die Enzyklopädie zwar zu Recherchezwecken, aber Wikipedia in wissenschaftlichen Arbeiten zu nutzen, ist nicht unbedingt Common Sense. Dass alle Menschen Einträge schreiben können, ist also Fluch und Segen zugleich. Auf der einen Seite schafft es natürlich ein großes Maß an Partizipationsmöglichkeiten, birgt aber auch gleichzeitig die Gefahr, dass Unwahrheiten und Fake News verbreitet werden – Wie seht Ihr das?

Grizma: Wikipedia ist ein Stück weit auch Spiegel der Gesellschaft und des Alltags. Wikipedia setzt ja keine Themen, sondern fasst etabliertes Wissen zusammen. Damit ist sie eine gute Anlaufstelle für die erste Recherche. Es ist nicht auszuschließen, dass dort Fehler oder subjektive Meinungen zu finden sind. Es gibt Artikel, die sind hervorragend ausgearbeitet und es gibt andere, die Fehler enthalten. Ich kann nur gutheißen, dass die Wissenschaft Wikipedia nicht zitiert. Denn es besteht ein grundlegender Unterschied: Die Forschung soll etwas Neues herausfinden, in Archiven Originaldokumente und Quellen entdecken und interpretieren sowie überholte Forschungsergebnisse überdenken und daraus neue Erkenntnisse ziehen. Wikipedia macht im Grunde das Gegenteil: Die Enzyklopädie nimmt das, was bereits vorhanden ist und fasst es auf Basis der vorliegenden Forschung allgemeinverständlich zusammen.

MOR für Wikimedia Deutschland, CC BY-SA 4.0. Collage aus Bildern von: Martin Kraft, Harald Krichel, Elena Ternovaja, Diana Ringo, Maurice Seymour via Wikimedia Commons.

zeitgeschichte|online: Wie funktioniert dann eine Art Qualitätssicherung in der Wikipedia?

Grizma: In den Anfangsjahren hatte Wikipedia tatsächlich noch einen schlechteren Ruf als heute. Damals war das Lexikon weniger zuverlässig. Laut einer Studie des E-Learning-Unternehmens Epic und der Universität Oxford, die die Wikimedia Foundation im Jahr 2011 selbst in Auftrag gegeben hat, ist (die englischsprachige) Wikipedia zuverlässiger als die Encyclopedia Britannica. Da ist sicher viel Wahres dran. Ein gedrucktes Buch lässt sich nicht ad hoc kontinuierlich verbessern. Wir können aktueller auf neue Erkenntnisse eingehen als ein Buch. Für die Qualitätssicherung haben wir in der deutschsprachigen Wikipedia zahlreiche Instrumente, die beispielsweise Vandalismus verhindern. Bots spüren unbelegte Fakten, Fäkalwörter, Löschungen oder Urheberrechtsbrüche auf und listen sie auf. Administratoren arbeiten diese Verstöße ab: Es läuft am Ende immer auf die menschliche Überprüfung zurück. Artikel neu angemeldeter Autor*innen müssen von erfahrenen Wikipedianer*innen freigegeben werden, sogenannten Sichter*innen. Erst nach 300 Bearbeitungen in der deutschsprachigen Wikipedia fällt diese Überprüfung weg. Wenn jemand gezielt, fachgerecht und mit großem Hintergrundwissen jedoch Falschinformationen in die Wikipedia schreibt, ist das nicht ohne Weiteres so schnell zu entlarven. Es kommt vor, dass Unternehmen ihre Beteiligung an Zwangsarbeit aus den Wikipedia-Artikeln rausnehmen. Da brauchen wir wache Journalist*innen und Wissenschaftler*innen, die kritisch auf die Artikel schauen. Da sich alle beteiligen können, können auch alle Menschen die Wikipedia (belegt) korrigieren.

zeitgeschichte|online: Welche Quellen nutzt Ihr für Einträge und wie „zitiert“ Ihr diese?

Grizma: Es gibt eine Richtlinie, die findet man in der Wikipedia-Suchmaske, wenn man Wikipedia:Quellen oder Wikipedia:Belege eingibt. Diese Richtlinien beschreiben, wie Wikipedianer*innen ordentlich mit Quellen und Belegen umzugehen haben und welche wir wie nutzen dürfen. Hier gibt es wieder einen Unterschied zum wissenschaftlichen Arbeiten: Wikipedianer*innen sollen nicht mit Archivquellen oder Originalquellen arbeiten. Wir sollen aus dem zitieren, was die Wissenschaftler*innen herausgefunden haben. Das heißt, wir wägen Sekundärliteratur gegeneinander ab und fassen sie dann zusammen. Nur im Einzelfall kann auf eine Archivquelle verwiesen werden, etwa wenn ein Geburts- oder Sterbedatum nicht anders zu belegen ist. Bei einem Eintrag zu Ines Wetzel, einer deutschen Malerin und Grafikerin des Expressionismus, musste ich für Belege auf Archivquellen zurückgreifen, da keine biografische Forschung zu ihr existiert. Museen wie die Berlinische Galerie oder das Museum of Modern Art, die Werke von Wetzel in ihrer Sammlung führen, tappten genauso im Dunkeln wie ich. Ich habe Institutionen und Archive zu ihr angefragt und Listen durchwühlt: ergebnislos. Erst eine Anfrage einer Benutzerin auf X hat dazu geführt, dass ich auf die Geburts- und Sterbeurkunde und unzählige andere biografische Daten zu ihr gestoßen bin – das ist ein wirklich schräger Zufall. Ich konnte sowohl die originale Geburtsurkunde im Geburtsregister der Stadt Frankfurt verlinken. Das ist jetzt für die Allgemeinheit nachprüfbar. Aber eine nicht digitalisierte Archivquelle, nehmen wir beispielsweise eine mittelalterliche Handschrift aus dem Staatsarchiv in Marburg, die kann ich eigentlich nicht als Quelle oder als Beleg verwenden. Ich muss mich auf eine Forschung verlassen, die das bereits aufbereitet und vielleicht auch eingeordnet hat. Denn eine mittelalterliche Handschrift ist in einer Sprache verfasst, die nicht jeder versteht. Auch kulturelle Bezüge sind heute für viele Menschen nicht mehr so ohne Weiteres nachvollziehbar. Deswegen ist es für uns wichtig, eine Publikation zu haben, auf die wir verweisen können. Die Idee von Wikipedia ist es, Fachwissen allgemeinverständlich und für alle nachvollziehbar aufzubereiten.

Selbstbildnis Ines Wetzel (1930). Quelle: Wikimedia Commons. Gemeinfrei

zeitgeschichte|online: Ihr strebt eine gendersensible Sprache an, die auch feministisch, antirassistisch und inklusiv sein soll. Wie macht Ihr das?

Grizma: Zuallererst trifft das auf uns und unsere Zusammenarbeit beim Edit-a-thon zu. Also wie wir in unserer Arbeit mit Personen sprechen und welchen Personenkreis wir auswählen. Auch die Berlinale-Leitung hat sich auf die Fahnen geschrieben, gendersensibel zu arbeiten und eine Berlinale Genderevaluation vorgenommen. Das bedeutet einerseits weibliche Filmschaffende stark in den Fokus zu rücken und paritätisch in der Auswahl zu berücksichtigen. Andererseits versuchen sie Personen verschiedener Genderzuschreibungen wie non-binär oder trans in ihrer Filmauswahl abzubilden. Auch für uns ist es wichtig, nach Möglichkeit diverse Geschlechter, verschiedene Nationen und verschiedene Hautfarben bei unserer Artikelauswahl zu berücksichtigen. Eine gendersensible Sprache in der Artikelarbeit ist nicht ganz einfach umzusetzen, da Wikipedia klare Vorgaben hat. Richtwert ist das generische Maskulinum. Auch eine Beidnennung im Rahmen einer binären Auffassung der Geschlechter ist möglich. Wir haben jedoch nicht die Möglichkeit mit einem Sternchen, Schrägstrich oder Unterstrich zu gendern. Das schränkt uns ein, aber wir versuchen gendersensible Sprache trotzdem auch umzusetzen.

zeitgeschichte|online: Nehmen auch Cis-Männer an dem Edit-a-thon teil?

Grizma: Das Treffen ist offen für Teilnehmende aller Geschlechter, sofern ein respektvoller und sensibler Umgang mit feministischen und diversen Themen gewahrt wird. Beim Berlinale Edit-a-thon haben wir ein paar, die uns unterstützen. Vier Männer haben sich angemeldet. Insgesamt 25 Personen haben sich angemeldet, um neu in Wikipedia einzusteigen und den Einführungskurs mitzumachen. Für diese Schulung brauchen wir viele Betreuer*innen, weil Wikipedia ein komplexes Feld ist. Da es für Anfänger*innen viele Fragen zu klären gibt, haben wir dafür auch uns gewogene Männer gezielt angesprochen.

 zeitgeschichte|online: Nutzer*innen können einsehen, wer die Autor*innen eines Eintrags sind. Bei vielen Ihrer Einträge sind Sie mit über 90 Prozent Hauptautorin. Können Sie auch von anderen überschrieben werden?

Grizma: Ja, das ist möglich. Es kommt immer darauf an, wie populär die Person oder das Thema ist. Bei Artikeln, die schon sehr lange zum Wikipedia-Bestand gehören, vielleicht in den ersten Jahr, so um 2004, da gibt es manchmal die Autor*innen gar nicht mehr. Da kann es passieren, das andere diesen Artikel sehr viel stärker ausgebaut haben. Die argentinische Regisseurin Agustina San Martín ist noch nicht so bekannt. Über sie habe ich einen Artikel geschrieben. Aber hätte ich den Artikel zu Greta Gerwig oder ihrem Barbie-Film angelegt, dann wäre ich vermutlich nicht mehr die alleinige Hauptautorin. Wenn ein Thema oder eine Person sehr viele Aufrufe bekommt, also sehr populär ist, dann ist es gar nicht mehr möglich, diesen Hauptautor*innen-Status zu bewahren. Das ist ja auch großartig, dass viele Autor*innen an einem Artikel arbeiten können. Wenn eine Person zu 99 Prozent Hauptautorin ist, ist das leider auch ein Indiz dafür, dass der Artikel gar nicht so oft aufgerufen wird.

zeitgeschichte|online: Und wie kann man jetzt einen Wikipedia-Eintrag schreiben beziehungsweise editieren?

Grizma: Idealerweise denkst du dir einen anonymen Benutzer*innennamen aus. Weil man möglicherweise auch einmal kritische Themen bearbeitet, sollte es am besten ein anonymer Name sein, wie bei mir Grizma. Zum Schutz, damit nicht irgendwann irgendwelche Extremisten eine Hasskampagne in den sozialen Medien gegen dich initiieren. Alles schon passiert. Mit dem anonymen Namen meldest du dich an. Und dann kannst du direkt loslegen. Du bekommst ein Menü zur Verfügung gestellt, wo Bearbeiten steht und kannst entweder Artikel bearbeiten, Formulierungen oder Rechtschreibfehler verbessern und aktualisieren oder auch Artikel neu anlegen. Es empfiehlt sich immer erstmal einen Entwurf anzulegen, indem du in Ruhe den Artikel ausarbeiten kannst. Es gibt den Benutzungsnamensraum, das ist wie so eine Art Profilseite, zu der du Unterseiten anlegen kannst. Dort kannst du in Ruhe deine Entwürfe ausarbeiten. Und dann, wenn alles fertig ist, kannst du deinen angelegten Artikelentwurf in den Artikelnamensraum verschieben. Danach kann ihn auch die Öffentlichkeit sehen. In der Wikipedia gibt es in der Seitenleiste – je nach Ansichtsversion links oder rechts – in der Rubrik den Unterpunkt Autorenportal. Dort gibt es verschiedene Tutorials, die Neulingen bei Einstiegsfragen helfen können. 

zeitgeschichte|online: Und wie kommen Sie auf neue Einträge?

Grizma: Wenn ich durch Ausstellungen gehe, habe ich eigentlich immer auf meinem Handy die Wikipedia-App offen, um zu schauen, ob es die Menschen, über die die Ausstellung erzählt, schon in der Wikipedia gibt. Bei der Ausstellung „To be seen. Queer Lives 1900-1950“ im NS-Dokumentationszentrum in München ist mir unter anderem Marie Vaders, eine niederländische Widerstandskämpferin aufgefallen. Beim Edith-a-thon während des XPOSED Queer Film Festivals Berlin bin ich auf die bereits erwähnte Biografie gestoßen: Die argentinische Filmregisseurin und Drehbuchautorin Agustina San Martin. Ihren Eintrag habe ich dann im Rahmen des Edit-a-thons geschrieben.

zeitgeschichte|online: Was haben Sie bis jetzt erreicht?

Grizma: Es ist schwer in konkrete Werte zu fassen, was wir für die gesamte Wikipedia erreicht haben. Es gibt viele verschiedene Schreibaktionen wie den Berlinale Edit-a-thon. Zum Beispiel die vom lokalen Wikipedia-Raum in Köln federführend initiierten 100 Women Days, die noch bis zum 8. März laufen. Seit Ende November sind hier schon mehr als 1200 Frauen-Biografien entstanden. Für diese Aktion lassen sich jedes Jahr auch zahlreiche Männer begeistern. Seit 2020 sind allein aufgrund dieser Aktion über 5000 Frauen-Biografien neu in die Wikipedia gekommen. Das sind konkrete Werte. Vor und während des letztjährigen Berlinale Edit-a-thon haben wir mehr als 50 Filme und 89 Biografien zur Berlinale neu geschrieben, in diesem Jahr sind wir vor Start des Edit-a-thons schon bei über 40 Filmen und mehr als 20 Biografien. Wir haben gerade eine Statistik frisch aktualisiert, an der sich andere interessante Werte ablesen lassen: Bei Biografien von Schauspielerinnen etwa haben wir einen Anteil von knapp 45 Prozent, das ist beinahe ein Gleichstand mit der Zahl von Biografien männlicher Darsteller. Filmkomponistinnen sind hingegen nur mit 4,6 Prozent und Tontechnikerinnen mit 4,7 Prozent vertreten. Das bildet ein Stück weit die Realität ab. Es gibt in diesen Branchen generell nicht sehr viele Frauen, sie sind nach wie vor männerdominiert. Und es spiegelt natürlich auch die Wertigkeit, die die Allgemeinheit diesen Berufen entgegenbringt. Schauspielerinnen sind auf der Leinwand sichtbarer. Aber alle, die hinter der Kamera stehen, sind entsprechend weniger stark sichtbar, das trifft auch auf Wikipedia zu. Wir versuchen bewusst, auch Artikel zu einer Szenografin oder einer Kamerafrau zu schreiben. Zudem fordern wir die Teilnehmer*innen auch dazu auf, in diese Berufsfelder für neue Artikel zu berücksichtigen.

Screenshot der Tabelle "Kategorien und Frauenanteile". Quelle: Wikipedia.

zeitgeschichte|online: Was wollt Ihr in diesem Jahr erreichen?

Grizma: Ich werde beim Edit-a-thon vermutlich keine Zeit haben, selbst etwas zu schreiben, weil ich stark in die Betreuung eingebunden bin. Aber ich bin akkreditiert. Das ist zum Beispiel etwas, indem mich auch die Wikimedia Deutschland unterstützt hat, weil sie mir eine Akkreditierung bezahlt haben. Auch von Seiten der Berlinale erhalten wir Unterstützung: Wir können uns mit der Autor*innenschaft für Wikipedia mit sechs Personen akkreditieren – das ist nicht selbstverständlich. Weil ich akkreditiert bin, kann ich vorab in die Pressevorführungen und vorab Einträge zu Filmen und Filmfrauen schreiben. Ich persönlich habe mir die tschechische Fotografin Libuše Jarcovjáková herausgeguckt. Ich habe das Biopic „Ještě nejsem, kým chci být“ über sie gesehen. Diese Frau ist unglaublich beeindruckend. Sie lebt noch, stellt aus und ist relevant für die Wikipedia. Über sie als Fotografin würde ich gerne einen Artikel schreiben – ich muss nur schauen, dass mir niemand zuvorkommt.

 

Der Edit-a-thon findet vom 16. bis 18. Februar in der Geschäftsstelle von Wikimedia Deutschland in Berlin statt. Aufgrund sehr hoher Nachfrage ist die Aktion dieses Jahr ausgebucht. Alle sind dazu eingeladen, Änderungen und Ergänzungen an Artikeln zu Filmen und Filmschaffenden der diesjährigen Berlinale vorzunehmen.

 

[1] Grizma ist seit 2008 in Wikipedia angemeldet und seit 2016 aktiv beim regelmäßigen Wikipedia-Schreibtreff WomenEdit in Berlin. Sie ist im Orgateam des Lokalen Wikipedia-Raums WikiBär in der Köpenicker Straße in Berlin, Mitbegründerin des überregionalen Netzwerks für feministische Anliegen in Wikipedia, FemNetz, und seit 2020 Co-Organisatorin des jährlich stattfindenden FilmFrauen Berlinale-Edit-a-thons. Darüber hinaus ist sie als Protagonistin im Film „Wikipedia – Die Schwarmoffensive“ (2021) von Maria Teresa Curzio zu sehen.