Wenn hunderttausende Rumänen tagelang protestieren, gar von den größten Demonstrationen seit 1989 die Rede ist, horchen Beobachter auf. Zwar sind seit Ceaușescus Sturz die bleiernen Zeiten des Schweigens und Erduldens vorbei, doch war es in der Vergangenheit alles andere als einfach, landesweit Massen zu mobilisieren. „Maisbrei explodiert nicht“ – diese herablassende Phrase, die von Ceaușescus Vorgänger Gheorghiu-Dej mit Blick auf die Leidensfähigkeit des eigenen Volkes in die Welt gesetzt wurde, kursierte nach 1989 weiter. Umso erstaunter registrierte die Weltöffentlichkeit, was seit Ende Januar 2017 in Rumänien geschah. Tag für Tag sammelten sich bei klirrender Kälte tausende Menschen auf den Straßen, um lautstark und beharrlich ihren Unmut zu artikulieren – am Sonntag, den 5. Februar, sollen es eine halbe Million in Bukarest gewesen sein.
Worum es geht, ist eindeutig. Es geht um das Ende von Filz und Amtsmissbrauch, um die Einhaltung des Rechtsstaates und um die uneingeschränkte strafrechtliche Verfolgung aller Korruptionsfälle. Anlass der Proteste war der Versuch der Regierung, im Eilverfahren die bestehenden Antikorruptionsgesetze per Ministerdekret zu lockern. Das hätte sowohl die Begnadigung beschuldigter Politiker als auch die Straffreiheit für Fälle von Vorteilsnahme und Amtsmissbrauch unter 45.000 Euro zur Folge gehabt. Doch die Menschen im zweitärmsten Land der EU hatten es plötzlich satt. Der unlautere Versuch, gestartet von Justizminister Florian Iordache, schlug zurück wie ein Bumerang: Nicht mehr nur der 56-jährige Sozialdemokrat Iordache, so der Wille der Demonstranten, sondern die ganze Regierung solle zurücktreten. Letztere wehrte zwar Maximalforderungen ab, kassierte jedoch das geplante Dekret ein. Außerdem musste der Justizminister seinen Hut nehmen, und es wird ein Referendum geben. Nun soll das Volk entscheiden, wie es im Kampf gegen Korruption weitergeht. Zweifellos ein Aufsehen erregender Erfolg der Massenprotestbewegung wie auch von Präsident Klaus Johannis, der die Verabschiedung der Eilverordnung als „einen Trauertag für den Rechtsstaat“ bezeichnet und sich offen auf die Seite der Demonstranten gestellt hatte.
Der Sieg wurde stürmisch gefeiert und die Macht der Straße eifrig beschworen. Doch schaut man genauer hin, ist es alles andere als einfach, die „Temperatur“ und Nachhaltigkeit des Ereignisses zu bestimmen. Gewiss: Das Thema und moderne Protestformen bewegten die Menschen überraschend lange. Via soziale Netzwerke mobilisierten sie sich als Bewegung abseits des Politikestablishments. Die Gefühlslage ist dennoch gemischt. Wut und Entschlossenheit paaren sich mit Frustration, Resignation und Depression. Von Hoffnung oder Zukunftsglaube ist sowohl unter den aktiven Demonstranten als auch den beobachtenden Korrespondenten nur wenig zu spüren. Der Grund ist gleichermaßen offensichtlich wie niederschmetternd: Politik und politische Eliten in Rumänien gelten seit 1990 nahezu durchgängig als krisengeschüttelt beziehungsweise werden als Dauerkrisenerscheinung wahrgenommen. Unter der Hand wissen alle: Rücktrittsforderungen – auch sie ein Dauerphänomen in Rumäniens Öffentlichkeit – lösen das Problem nur vordergründig, denn wer soll es richten?
Viele Menschen fühlen sich einem ruhelosen Politikbetrieb ausgeliefert, der trotz ständiger Bewegung vor allem mit sich selbst beschäftigt ist. Rumäniens politischer Klasse ist es noch immer nicht gelungen, die Auswüchse und Negativerscheinungen aus der Anfangszeit der postrevolutionären Transformationsphase hinter sich zu lassen. Die nunmehr 27-jährige Übergangszeit – das sind drei Jahre länger als die Ceaușescu-Diktatur anhielt – hat sich zu einem geschichtsmächtigen Dauerzustand etabliert. Sie ist ein historischer Zeitabschnitt mit eigener Prägekraft geworden. Für die rumänische Gesellschaft eine fatale Diagnose – wenn auch keine ungewöhnliche im osteuropäischen Transitionsraum. Stillstand als Epochenerfahrung auch für das 21. Jahrhundert erschien vielen Aufbegehrenden unerträglich. Das Verlangen, aus dem Hamsterrad einer unablässigen Geschichtsschleife auszutreten, wurde zum Fundament einer überraschenden Hartnäckigkeit. Und so verbirgt sich hinter dem ausdauernden Massenprotest auch die Auflehnung gegen das scheinbar historisch Unabänderliche, gegen das ewige Fortleben einer unterentwickelten politischen Kultur.
Rudimentäre Parteiendemokratie und starke Postkommunisten
Ein kurzer Rückblick auf die Anfänge unterstreicht die zeitgeschichtliche Dimension der Gegenwartskrise: Die neue Parteiendemokratie war nach 1989 gekennzeichnet von einem unübersichtlichen Vielparteiensystem und zugleich einer de facto hegemonialen Übermacht der Postkommunisten, von ideologisch-programmatischer Profillosigkeit und Leere sowie von „Führungsmanien“ Einzelner und risikoreichem Machtpoker. Es dominierten ideologische „Desintoxination“ und ein politisch determinierter Merkantilismus der Parteien. Auf der einen Seite gab es die erklärte Intention, regieren zu wollen, auf der anderen Seite wurde auf Profilgebung und Abgrenzung weitgehend verzichtet. Die Parteiprogramme waren ein Konglomerat aus Populismus, konfuser Theorie, heterogenen und sogar widersprüchlichen Werten und Prinzipien, angereichert mit gegensätzlichen Aussagen über zentrale und sektorale Politik. Maßgebend waren nicht Parteileitlinien, sondern die jeweils aktuellen Wünsche der Wählerinnen und Wähler, so dass sie in der Folge vielfach identisch waren. Durch eine postulierte Angst vor Extremen entstand ein ideologisch-programmatischer Stau im Zentrum - fast alle Parteien definierten sich als Repräsentanten der politischen Mitte. Führt man sich vor Augen, dass an den ersten freien Wahlen 1990: 80, 1992: 144 und 1996 noch immer 48 Parteien teilnahmen, wird das Ausmaß der Unschärfe und Verwirrung deutlich. Zwar hat inzwischen die Anzahl der Parteien abgenommen, doch die Schwierigkeiten der politischen Zuordnung sind geblieben. Zuschreibungen wie rechts oder links beziehungsweise liberal, konservativ oder sozialdemokratisch, die oftmals die Parteinamen schmücken, haben mit den politischen Sinnhorizonten und Profilen, wie wir sie verstehen, meist nur wenig zu tun. Die Struktur des politischen Systems ergibt sich weniger aus der inhaltlichen Ausrichtung, sondern vielmehr aus den jeweiligen Beziehungen der Akteure zu Regierung oder Opposition. Daran hat sich bislang kaum etwas geändert. Allein zwischen 2012 und 2015 bildete Ex-Premier Victor Ponta vier Regierungskabinette, um seine Macht zu halten.
Von der allseits empfunden Orientierungslosigkeit profitierten über Jahre die Postkommunisten der KP-Nachfolgepartei Demokratische Front der Nationalen Rettung (FDSN), die sich nach Fusionen mit kleineren Parteien 1993 in Partei der Sozialen Demokratie Rumäniens (PDSR) und 2001 in Sozialdemokratische Partei (PSD) umbenannte. Auf das Führungsprinzip des „starken Mannes“ bauend und mit großen Mehrheiten ausgestattet, kontrollierte sie nach der Ära Ceaușescu die Politik des Landes. Die PSD gilt heute als links-nationalistisches Sammelbecken ehemaliger Nomenklatura-Angehöriger, Verwaltungsbeamter und Leiter staatlicher Wirtschaftsunternehmen. Auch hier: Obwohl offiziell eine „Schwesterpartei“ von SPD oder SPÖ lässt sich die PSD nur bedingt mit deutschen Maßstäben sozialdemokratischer Realpolitik und gelebter Politikkultur vergleichen. Ein Missverständnis, dem nicht nur Sigmar Gabriel erlag, als er 2014 offen den von Korruptions- und Plagiatsvorwürfen betroffenen Kandidaten Ponta bei den Präsidentschaftswahlen unterstützte, sondern auch andere europäische Parteien, die sich im Europaparlament um gemeinsame Bündnisse bemühen.
Personifizierte Enttäuschungen und Erwartungen
Die jahrzehntelange Misere wurde vielfach in Verbindung gebracht mit einem Geflecht von politischen Eliten, das vornehmlich von Männern dominiert wurde, die ihren Karriereweg bereits vor 1989 begonnen hatten und sich dann im neuen System in höchste Funktionen platzierten. Umso dramatischer und frustrierender wird aktuell die Rolle einiger Spitzenpolitiker in den Mittvierzigern eingeschätzt, mit denen sich einst die vage Hoffnung auf einen generationellen Wandel verband. Seit 2012 stehen auffallend junge Politiker an der Regierungsspitze: Victor Ponta (geb. 1972), Dacian Cioloș (geb. 1969) sowie momentan Sorin Grindeanu (geb. 1973). Während sie nach außen hin mit ihren teilweise westeuropäischen Studienabschlüssen den Eindruck erwecken, einer neuen rumänischen Politikergeneration anzugehören, agieren sie in ihren Ämtern zum Teil noch immer mit den zweifelhaften Methoden und Politikauffassungen ihrer Ziehväter. Insbesondere der PSD-Vorsitzende Liviu Dragnea (geb. 1962) ist als Strippenzieher und graue Eminenz hinter den Kulissen zur Hassfigur der jüngsten Proteste geworden. Unbeeindruckt von Anklagen wegen Dokumentenfälschung und gerichtlichen Verurteilungen wegen versuchten Wahlbetrugs hält dieser an der Macht fest.
Dabei ist es nicht so, dass seit dem EU-Beitritt 2007 keinerlei Anstrengungen erfolgt wären, das Land wirtschaftlich und politisch zu stabilisieren und langsam in Richtung Westen umzuorientieren. Noch vor zwei Jahren galt Rumänien unter Investoren als vergleichsweise attraktiver Standort. Doch die Situation war immer höchst fragil. Im Jahr 2012 war das Land in eine veritable Staatskrise gerutscht – die schwerste seit dem EU-Beitritt. Die Gründe dafür lagen nicht nur im Inneren, sondern vor allem in den globalen ökonomischen Kollateralschäden, die die weltweite Finanzkrise verursacht hatte.
Als personifizierter Hoffnungsträger gilt dem aufgeklärten In- und sympathisierenden Ausland der ehemalige Hermannstädter Bürgermeister Klaus Johannis (geb. 1959), seit 2014 rumänischer Staatspräsident. Die Wahl des als unbestechlich geltenden Rumäniendeutschen war eine Sensation und produzierte enorme Erwartungen, die bis in die Gegenwart anhalten. Doch Zurückhaltung ist angebracht, wenn in Analogie zu Gorbatschow prognostisch von einem Johannis-Faktor die Rede ist. Seine Wahl war nicht der erste politische Paradigmenwechsel, den das Land erlebte. Bereits 1996 glaubten viele, mit dem Wahlsieg der Demokratischen Konvention Rumäniens (CDR) - einem Bündnis aus sechs Parteien – sowie ihres Präsidentschaftskandidaten Emil Constantinescu, einem Bukarester Universitätsprofessor, die eigentliche postkommunistische Wende vollzogen zu haben. Damals wurde die seit dem Ersten Weltkrieg anhaltende Tradition gebrochen, wonach bei den Wahlen quasi immer die Regierungspartei als Sieger hervorging. Doch sowohl die Regierungskoalition aus CDR, Sozialdemokratischer Union (USD) und Ungarnverband (UDMR) als auch Constantinescu selbst scheiterten am Ende auf ganzer Linie mit ihrer Reformpolitik. Ein kolossaler Fehlschlag, der maßgeblich auch in den eigenen Reihen zu verantworten war und dazu führte, dass im Jahre 2000 Alt-Präsident Iliescu erneut für vier Jahre an die Macht kam – für die Reformwilligen und meisten Intellektuellen ein Desaster.
Gespaltenes Land
Der historische Verlauf macht auf eine bestimmte, wenn auch banale, Tatsache aufmerksam: Politische Kräfteverhältnisse hängen nicht nur von der „Performance“ der Politiker und Parteien ab, sondern auch vom Votum der Wähler. Im Fall Rumäniens muss zur Kenntnis genommen werden, dass die Zahl derjenigen, die für die PSD und ihre Vorgängerparteien gestimmt haben, auch in den letzten Jahren unvermindert viele Millionen Menschen umfasste. Im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen 2014 erhielt PSD-Kandidat Ponta 40 Prozent der Stimmen, Johannis hingegen nur 30 Prozent. Bei den letzten Parlamentswahlen im Dezember 2016, also nur wenige Wochen vor Beginn der Massenproteste, konnte die PSD mehr als 45 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen. Ihre Wahlhochburgen liegen vor allem in den Dörfern und Kleinstädten in den sogenannten altrumänischen Regionen Walachei und Moldau, weniger dagegen in Siebenbürgen. In Umfragen und Wahlentscheidungen lebt seit Jahrzehnten die nahezu klassische Stadt-Land-Dichotomie eines Agrarstaates fort, dessen Modernisierung und Industrialisierung seit 100 Jahren quasi mit der Brechstange erzwungen wird.
Dem Beobachter offenbart sich dabei ein anhaltendes Gefälle von politischer Bildung und „Mündigkeit“, dessen Wurzeln auch in den extremen ökonomischen und sozio-kulturellen Deprivationserfahrungen aus Diktaturzeiten zu suchen sind. So konnten mit falschen Versprechungen und absurdesten Desinformations- und Lügenkampagnen in den 1990er Jahren unfassbar leicht Wählerstimmen unter der Landbevölkerung gewonnen werden. Unerschütterlich wurde immer wieder denjenigen gefolgt, die suggerierten, lang ersehnter Wohlstand ließe sich – bei gleichzeitigem Erhalt bisheriger sozialer Sicherheitsstandards – mit einem Schlag aus dem Nichts generieren; Schuldzuweisungen an die „Mächtigen“ oder fremde Kräfte „von außen“ fanden (und finden) Dauerresonanz. Frühzeitig gelang es den Postkommunisten um Ion Iliescu, sich als Stimme der Menschen in den ländlichen und kleinstädtischen Gebieten zu inszenieren. Den diffusen Wunsch nach paternalistischer Ordnung und Kontinuität sowie nach Bewahrung des „Ur-Rumänischen“ griffen sie propagandistisch auf und verstärkten ihn noch. Parteigegner wurden zu Anwälten eines „Turbokapitalismus ohne Maß und Anstand“ sowie zu Marionetten im „parlamentarischen Hin und Her“ abgestempelt, während die PSD und ihre Vorgängerparteien mit dem Label von Stabilität und Sicherheit warben. Das wirkt nach. Insofern gibt es aktuell neben den hunderttausenden Demonstranten auch große Teile der Bevölkerung, die die städtischen Proteste der vergangenen Wochen als irritierend und bedrohlich wahrnehmen. Wie die Wähler aus diesem Spektrum beim Referendum abstimmen werden, ist nicht vorhersehbar – und damit ebenso wenig, ob die Zeit des Wartens wirklich vorbei ist.