Jürgen Kaube empört sich in seinem Artikel vom 24. April in der FAZ über Hedwig Richter und beschimpft die Historikerin als „Gouvernante, die im selbstgewissen Meinungskampf die Tugenden ihrer Profession“ vergessen habe. Unter anderem ärgert er sich darüber, dass sie im Feuilleton der Zeitung, deren Mitherausgeber er ist, politische und gesellschaftliche Probleme nicht analysiert, sondern sich vielmehr darauf beschränkt habe, die vermeintlich Unvernünftigen zu beschimpfen. Diese Replik wirft mehrere Fragen auf: Wenn Richters Polemik tatsächlich so unterirdisch war, wie Kaube schreibt, warum ist sie dann überhaupt in der FAZ erschienen? Damit der Herausgeber ein einfaches Opfer hat, auf das er einschlagen kann? Ist das die Art und Weise, wie im Feuilleton der FAZ „Debatten“ erzeugt werden? Man könnte diesen Eindruck gewinnen. Verblüffend ist auch die Erwartung an Hedwig Richter, sich in einem Artikel in der FAZ den „Tugenden ihrer Profession“ gemäß zu verhalten. Ist Wissenschaftlichkeit der Anspruch des Feuilletons? Ich erinnere mich, dass ebendort die recht einhellig negative fachwissenschaftliche Kritik von Historiker*innen an Richters historischen Arbeiten zur Geschichte der Demokratie in Deutschland beiseite gewischt wurde als der Versuch alter männlicher Platzhirsche, die junge Kollegin zum Schweigen zu bringen.[1] Diese wissenschaftliche Kritik ignorierend, wurde Richter in der FAZ und anderswo breiter Raum gegeben, sich als Intellektuelle zu betätigen, die sich von der Coolness des Rauchens bis zur Notwendigkeit von Waffenlieferungen an die Ukraine äußert. Und jetzt reibt sich der Herausgeber die Augen und entdeckt, dass sie die Tugenden ihrer Profession entweder nicht besonders gut beherrscht oder hintanstellt, um mehr öffentliche Wirkung zu erzeugen?
Wenn man nun aber der Historikerin „eine merkwürdig ausschweifende Phantasie“ attestiert und dann erklärt, wie es eigentlich gewesen, sollte man zumindest selbst basale Fakten richtig referieren. Es wäre eine sehr innovative These, wenn Kaube zeigen könnte, dass die autofreien Sonntage 1973 eingeführt wurden, um den Ölverbrauch aufgrund stark gestiegener Preise zu drosseln. Internationaler Forschungsstand ist, dass Verbrauchbeschränkungen hier und anderswo eine direkte Reaktion auf die Produktions- und Lieferbeschränkungen der arabischen Förderländer waren. Im November 1973 erwartete die Bundesregierung dramatische Engpässe im Winter und befürchtete, Libyen könnte ebenfalls die Lieferungen an die Bundesrepublik drosseln. Vorsorglich wurden die Fahrverbote beschlossen und erst im Dezember, als die Förderländer die weitere Drosselung aussetzten, stellte sich heraus, dass die Engpässe nicht gravierend, die Preissteigerungen aber ein bleibendes Problem werden würden. Anders als Kaube schreibt, waren es auch nicht die OPEC-Staaten, die „damals den Westen für seine Unterstützung Israels im Jom-Kippur-Krieg bestrafen“ wollten. Es waren die in der Organization of Arab Petroleum Exporting Countries organisierten arabischen Förderländer. So zentrale OPEC-Länder wie Iran oder Venezuela beteiligten sich nicht daran, sondern erhöhten im Gegenteil ihre Förderung. Schließlich wurde auch nicht „dem Westen“ im Oktober 1973 „der Ölhahn zugedreht“. Ein Vollembargo verhängten die arabischen Förderländer gegen die USA und die Niederlande und beschlossen ansonsten ein kompliziertes System sich schrittweise steigernder Produktionsdrosselungen, von denen als „befreundet“ geltende Staaten wie Frankreich und Großbritannien aber ausgenommen sein sollten.[2]
Wenn man einer Historikerin im Feuilleton immer wieder breiten Raum gibt, sich zu tagespolitischen Fragen zu äußern, sollte man nicht von ihr erwarten, dass sie dabei historiographischen Standards entspricht. Wenn man das erwartet, aber meint, dass sie es nicht tut, sollte man ihre Texte vielleicht gar nicht erst veröffentlichen. Wenn man ihre Texte veröffentlicht und sie dann dafür kritisiert, dass sie historisch unhaltbare Thesen vertritt, sollte man sich aber selbst informieren, was historiographisch vertretbar ist.
[1] Vergl. Dazu die Rezensionen zu Hedwig Richter, Aufbruch in die Moderne, Suhrkamp 2020: Ute Daniel in: Sehepunkte (Ausgabe 21) 2021, Nr. 6; bzw. Hedwig Richter, Demokratie. Eine deutsche Affäre, C.H. Beck 2020: Christian Jansen, in H-Soz-Kult vom 9.2.2021; Andreas Wirsching, in Sehepunkte (Ausgabe 21) 2021, Nr. 3.
[2] Dazu u.a. Henning Türk, Der Ukraine-Krieg, die Energieknappheit und die Ölkrise 1973, in: Zeitgeschichte-online, Januar 2023.