Mit der Entscheidung des Obersten Russischen Gerichts vom 21. April 2010, die bislang unter Verschluss gehaltenen sowjetischen Akten über den vom NKWD verübten Massenmord an 22 000 polnischen Offizieren und Intellektuellen freizugeben, ist erneut Bewegung in die historische Aufarbeitung der Ereignisse gekommen. Die von der Menschenrechtsorganisation Memorial erwirkte Revision einer Entscheidung des Russischen Militärgerichts von 2009, mit der die Akten abermals zum russischen Staatsgeheimnis erklärt worden waren, könnte einen längst überfälligen Schlussakt in dem jahrzehntelangen geschichtspolitischen Tauziehen zwischen Russland und Polen einleiten: die vollständige Offenlegung aller das Massaker betreffenden Unterlagen in russischen Archiven.
Längst ging es in der Debatte nicht mehr um die Frage, wer das Massaker verübt hat. Dies ist inzwischen hinlänglich bekannt und wird von niemandem mehr ernsthaft in Frage gestellt. Für anhaltende Verstimmung im russisch-polnischen Verhältnis sorgte vielmehr die schleppende Aufarbeitung der Verbrechen auf Seiten Russlands unter der Ägide von Präsident Putin. Michail Gorbatschow hatte im Jahre 1990 offiziell die Verantwortung der sowjetischen Seite für das Verbrechen eingeräumt und Präsident Jelzin übergab 1992 Kopien der Befehlsdokumente an die polnische Regierung. Danach versandete die Auseinandersetzung mit Katyn erneut in den Mühlen der restriktiven russischen Geschichtspolitik.
Umso überraschender wirkte daher die Initiative von Putin zu einem gemeinsamen Treffen mit dem polnischen Präsidenten Donald Tusk am 7. April 2010 auf einer offiziellen Gedenkfeier in Katyn anlässlich des 70. Jahrestages des Massakers. Der mit diesem ersten gemeinsamen russischen-polnischen Gedenken verbundene Durchbruch geriet bereits wenige Tage später in den Schatten des tragischen Flugzeugunglücks auf dem Flughafen von Smolensk. Die russische Seite lies durch ihre Anteilnahme und Mitwirkung an der Aufklärung der Unglücksursachen erkennen, dass sie weiterhin daran interessiert ist, das Verhältnis zu Polen zu verbessern. Zeitgeschichte-online wird den Fortgang der öffentlichen Debatte über Katyn in beiden Ländern fortlaufend dokumentieren.
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