Am späten Abend des 25. März 2020 erschien in den Potsdamer Neuesten Nachrichten die Meldung, dass der Landkreis Ostprignitz-Ruppin „die Kreisgrenze dicht“ mache. Ralf Reinhardt, Landrat mit SPD-Parteibuch, habe an diesem Tag in Ergänzung zu den verschärften Vorschriften des Landes Brandenburg eine „Allgemeinverfügung zum Schutz der Bevölkerung im Landkreis“ erlassen, die ab dem 28. März allen Personen den Aufenthalt versagt, die nicht mit erstem Wohnsitz dort gemeldet sind. Würde das umgesetzt, müssten vor allem diejenigen den Kreis verlassen, die dort nur einen Zweitwohnsitz haben oder sich bei Freunden und Verwandten aufhalten, um Corona aus dem Weg zu gehen.
Der Wunsch des Landrats, seine Bürger*innen zu schützen, ist nur zu verständlich, aber er macht einen Fehler von großer Tragweite. Der Denkfehler besteht darin, dass eine solche Verordnung nicht zur Begrenzung der Corona-Welle beiträgt. Im Gegenteil: Wenn sich jetzt hunderte Berliner*innen auf den Weg zurück in die Hauptstadt machen und dafür zumindest teilweise die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, setzen sie sich selbst einem erhöhten Ansteckungsrisiko aus. Umgekehrt sollte man jedem/r Berliner*in, der/die die Krise auf dem Land aussitzt, dankbar sein, denn dadurch verringert sich tendenziell die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus: Die Zahl der Sozialkontakte nimmt ab, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel auch. Damit ist langfristig allen geholfen, auch den Menschen in OPR.
Die hinter dem Erlass lauernde Angst, Menschen könnten von Berlin in die Prignitz oder sonst wohin fahren, um dort in den Datschen Corona- oder auch nur Grillpartys feiern, entbehrt jeder sachlichen Grundlage.
Das Recht auf Freizügigkeit ist ein Grundrecht, das nur vom Parlament eingeschränkt werden kann. Die Bundesregierung hat darauf verzichtet und stattdessen auf die Vernunft der Bürger*innen in der Krise gesetzt. Das war eine weise Entscheidung, und sie scheint bisher den gewünschten Effekt zu haben. Aber es geht hier auch nicht nur um das Recht auf Freizügigkeit. Hinter der Entscheidung des Landrats verbirgt sich ein antimodernistischer Subtext, der die Großstadt und ihre Bewohner unter Generalverdacht stellt: Sie bringen Schmutz und Krankheiten, sie nisten sich ein, um hier wie die Maden im Speck die Krise zu überdauern. Sie schleichen sich ein in Hausboote und Wohnmobile, um sich dann mutwillig in die Kliniken in der sauberen Ostprignitz zu betten. Den Begriff des Volksfeindes kann man schwerlich bemühen, aber vielleicht hören wir demnächst von „Kreisfeinden“? Interessanterweise rutschen selbst Kritiker*innen der Entscheidung von Ralf Reinhardt in merkwürdige Argumentationen ab. Auf der Seite des Tagesspiegels ist zu lesen, man solle den Ferienhaus- und Datschenhaltern „ein Bleiberecht in ihrem Zweitwohnsitz“ einräumen – als seien sie Asylbewerber*innen aus einem Bürgerkriegsgebiet. Steht hier demnächst Frontex auf den Landstraßen?
Die Amerikanische Revolution von 1776, mit der sich die Vereinigten Staaten von Amerika von Großbritannien loslösten, prägte den Satz: „No taxation without representation“. Er besagt, dass man niemandem, dem das politische Mitspracherecht versagt wird, noch Steuern abknöpfen sollte. Die Städte und Gemeinden in Brandenburg profitieren erheblich von den Zweitwohnsitzsteuern der Berliner*innen – in Neuruppin sind es laut Märkischer Allgemeiner Zeitung etwa 280.000 Euro im Jahr. Wenn ihnen nun der Zutritt zu ihren Zweitwohnsitzen verwehrt wird, kann man ihnen nur empfehlen, einen Steuerstreik auszurufen – in Nordamerika hatte das vor knapp 250 Jahren eine erstaunliche Wirkung.
Es steht zu erwarten, dass sich sehr schnell jemand beim Bundesverfassungsgericht über den OPR-Beschluss beschwert und damit hoffentlich Erfolg hat. Andernfalls gilt der Satz, der das Plakat für die Hannah Arendt-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum ziert (die am 26. März hätte eröffnet werden sollen): „Niemand hat das Recht zu gehorchen“.