von Anne Kwaschik

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1. Februar 2013

Der Elysée-Vertrag ist am 22. Januar 2013 fünfzig Jahre alt geworden – und in Berlin wurde die deutsch-französische Annäherung als ein beispielhafter Erfolg der Nachkriegsgeschichte gefeiert, der aus Erbfeinden „Erbfreunde“ werden ließ. Mehr als das: Deutschland und Frankreich sind nicht nur ziemlich beste Freunde geworden, sondern ein gern und selbstverständlich herbeizitiertes Ehepaar, dessen Krisen und nachfolgende Versöhnungen Anlass zu beredten Spekulationen in europäischen Dimensionen geben.

Die Anfänge des couple franco-allemand waren alles andere als erfolgversprechend. Sie waren von Missverständnissen geprägt und es sollte sich in den ersten zwanzig Jahren zeigen, dass nicht nur auf dem Gebiet einer gemeinsamen Militärpolitik Realitäten und Wahrnehmungen weit auseinanderklafften. Der Vertrag vom 22. Januar 1963 war mit der heißen Nadel gestrickt, um nicht zu sagen improvisiert. Er verpflichtete beide Regierungen zu Konsultationen in allen wichtigen Fragen der Außen-, Verteidigungs-, Jugend- und Bildungspolitik. Ebenso wurden Treffen auf Regierungsebene in regelmäßigen Abständen beschlossen. Seine Folgen waren kaum abzusehen – würde ein solcher Freundschaftsvertrag, in dem der Bereich der Kultur auf französischen Wunsch zum Beispiel nicht vorkam, überhaupt eine Wirkung haben? Führte eine organisierte Zusammenarbeit auch zur Zusammenarbeit? Und wichtiger noch: Würde der Vertrag ein Katalysator oder eine Hypothek für Europa sein? Was bedeutete ein solches bilaterales Engagement für die anderen und insbesondere den transatlantischen Bündnispartner?

Die Konflikte schienen vorprogrammiert. In der dem Vertrag von deutscher Seite vor der Ratifizierung hinzugefügten Präambel wird der Wille zur Aufnahme Großbritanniens in die EWG erklärt – und schwerer noch für den französischen Partner zu verdauen, die enge Bindung der Deutschen an die USA. Kein Wunder, dass der General sich nach dieser Absage an den deutsch-französischen Bilateralismus – in seinen eigenen Worten – dann auch nach der Hochzeitsnacht noch immer „jungfräulich“ fühlte. Charmant war der Hinweis auf die Bedeutung der anderen nicht, am Tag der Hochzeit gab es dennoch zumindest metaphorisch Rosen für den deutschen Partner, genauer gesagt einen ganzen „Rosenhang“. Mit dem Bild vom „Rosenhang, in dem jeden Morgen eine neue Blüte aufgehen solle“, wollte Charles de Gaulle dem Kanzler und Hobbygärtner eine Freude machen. Die politischen Ziele de Gaulles, der sich anschickte, die transatlantische Führungsrolle der USA zu konterkarieren und bekanntlich drei Jahre später aus der NATO austrat, waren andere.

Die Widersprüche des Anfangs haben die Wirkung nicht verhindert. Inzwischen besteht kein Zweifel mehr an der politischen Bedeutung des Vertrags für die europäische Integration, an den mit ihm in Gang gesetzten deutsch-französischen Kooperationen und seiner zivilgesellschaftlichen Relevanz. Letztere wohl vor allem aufgrund des „liebsten Kindes des Elysée-Vertrags“: des Deutsch-Französischen Jugendwerks, an dessen über 30.000 Austauschprogrammen seit seiner Gründung im Jahr 1963 über acht Millionen Jugendliche teilnahmen.

Dennoch ist nicht die Geschichte des Vertrags an sich (und schon gar nicht seit 1963) eine „Erfolgsgeschichte“. Die Geschichte der Mystifikation des deutsch-französischen Paares aber ist es. Dass letztere seit den 1980er Jahren auf erstere zurückwirkt, steht außer Frage. Dass die Lebendigkeit des Bildes sich aus dem Fortwirken traditioneller und verblichener Stereotype speist, ist nicht unwahrscheinlich. In jedem Fall hat die Dominanz einer exklusiven Zweiersymbolik das Nachdenken über die Rolle der DDR verhindert, durch deren Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes 1990 erst aus der bundesdeutsch-französischen Annäherung die viel beschworene deutsch-französische wurde.

Nach vierzig Jahren war das inzwischen erweiterte Paar in einem ausbalancierten und stabilen Zustand angekommen: einer „Ehe mit Herz und Vernunft“. „Das Paar ist wieder auferstanden“ – konkludierte die Presse zufrieden angesichts von Irakkrieg und Krise der EU-Reform, als Gerhard Schröder und Jacques Chirac sich zur 40-Jahr-Feier des Elysée-Vertrags in Versailles trafen. (Der Spiegel, 22. Januar 2003)

Nach fünfzig Jahren sind die Bestandteile schon etwas anders gewichtet. „Im Moment befinden sich unsere Länder eher in einer Phase der leidenschaftlichen Vernunft als in einer der romantischen Verliebtheit.“, erklärte Bundestagspräsident Norbert Lammert in seiner Rede zur Eröffnung der gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Assemblée Nationale am 22. Januar 2013. Er erläuterte: So wie in jeder längeren Beziehung gebe es auch zwischen Deutschland und Frankreich Phasen der Leidenschaft und der Vernunft. Und fügte hinzu: Dies müsse kein Nachteil sein.

So einleuchtend diese Beziehungskalkulation, so naheliegend wäre auch eine andere Interpretation. Vielleicht haben sich Deutschland und Frankreich nach Jahren des kulturellen Austauschs und der gegenseitigen Bereicherung auch einfach voneinander entfernt? Oder wie der französische Historiker Pierre Nora in einem skeptischen Interview ausführte, sie haben sich jenseits ihrer ökonomischen Beziehungen nichts mehr zu sagen. (FAZ 16.2.2012) Nora meinte das im Übrigen auch ganz wörtlich, da die jeweiligen Sprach- und Kulturkompetenzen selbst in den gebildeten Kreisen nicht mehr vorhanden und auch nicht mehr relevant seien.

Ist der Zustand der „leidenschaftlichen Vernunft“ nicht nur einer der Normalisierung, sondern auch einer des Überdrusses, gekennzeichnet durch den Willen zur gegenseitigen Abgrenzung? Nach den nächsten fünfzig Jahren werden wir es wissen. Vielleicht brauchen wir aber bis dahin nun auch eine neue politische Symbolik, die dichter an den Realitäten ist.