von Annette Schuhmann

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1. Juni 2013

Vor gut vierzig Jahren drehte Winfried Junge in der Zentralschule Golzow im Oderbruch den ersten Teil seiner Langzeitdokumentation „Die Kinder von Golzow“.
Winfried Junge, Schüler von Karl Gass im DEFA-Studio für Wochenschau und Dokumentarfilm, erzählte Jahre später, dass ihm damals geraten wurde, sich filmisch zunächst auf Kinder oder Tiere zu konzentrieren, das würde nur selten aufs ideologische Glatteis führen. Er nahm diesen Rat offenbar geflissentlich an und änderte für Jahrzehnte sein Sujet kaum.
Der Langzeitdokumentation Junges verdanken wir viele berührende Bilder der Kinder von Golzow, die unter anderem deshalb so authentisch wirken, weil sie, zumindest teilweise, mit versteckter Kamera gefilmt wurden. Zunehmend enervierend, manchmal geradezu ein Fremdschämen verursachend, ist dagegen die oft distanzlose, nicht selten ruppige und seine Protagonisten bedrängende Fragetechnik des Regisseurs.

Die frühen Filme der Golzow-Reihe zeigen aber auch jenseits von politischem Konformismus, dass Kinder ein dankbares Sujet sind. Sie sind schließlich professionell im Kind-sein, das heißt, sie halten ein wie auch immer motiviertes posing kaum lange durch, sie knicken ein und gehen über zu der ihnen eigenen Berufung: dem Kindsein. Der Rest liegt in der Hand der Produzenten, sie entscheiden, ob wir die Chance bekommen, den Kindern zuzusehen, oder ob wir Dinge über den Regisseur erfahren, die wir nicht wissen wollen.

Seit Junges erstem Teil seiner damals noch nicht geplanten Golzow-Reihe sind viele gelungene Dokumentationen über Kinder und Jugendliche in Ost und West entstanden. Selten sind sie so beeindruckend wie Juris Podnieks’ Dokumentation über Jugendliche in der Zeit der beginnenden Perestroika („Ist es leicht, jung zu sein?“, UdSSR 1986) oder Nicolas Philiberts preisgekrönter Film über eine Einklassenschule in der Auvergne („Sein und haben“, Frankreich 2002).

Ein aktueller Versuch, Kinder sprechen zu lassen, ist die Dokumentation „MansFeld“ von Mario Schneider.
Im Fokus des Regisseurs stehen drei Jungen im Alter zwischen acht und zehn Jahren, aus einem kleinen Dorf in Sachsen-Anhalt. Es ist zudem ein Film über eine Region in Deutschland, die seit dem Beginn der neunziger Jahre zu jenen gehört, die von wirtschaftlichem Niedergang, Bevölkerungsschwund, Rechtsextremismus, Kinderarmut und Arbeitslosigkeit geprägt sind. Eine Region, in der das bedeutendste industrielle Ballungszentrum der ehemaligen DDR lag: Chemieindustrie, Maschinenbau und Tagebau, Kupferschieferbergbau. Die Verhüttung des Kupfers und anderer Metalle wurde hier unter dem Dach des gigantischen Mansfeld-Kombinates „Wilhelm Pieck“ betrieben. Die Kupferproduktion war einer der größten Wirtschaftszweige der Region, wurde jedoch nach 1990 endgültig eingestellt – Kupfer aus Afrika und Kuba war längst billiger.
Produziert wurde zu DDR-Zeiten im Wesentlichen auf dem Ausrüstungsstand der Vorkriegszeit und ohne Rücksicht auf Umweltbelastungen. Viele Betriebe waren am Ende der achtziger Jahre heruntergewirtschaftet oder arbeiteten unrentabel. Entsprechend hart traf es die Region nach 1990. Noch heute hat Sachsen-Anhalt mit den Folgen seiner wirtschaftlichen Ausgangslage zu kämpfen.
Besonders prekär war und ist die soziale Lage der Menschen im Landkreis Mansfeld-Südharz. Hier lag die Arbeitslosenquote noch 2007 bei über 20 %.
In dieser Region leben die Kinder und deren Familien, die Mario Schneider in seiner Dokumentation beobachtet. So unterschiedlich die soziale Lage der drei Familien ist, geprägt sind sie alle vom Niedergang des Industriereviers.
Sebastian, Paul und Tom leben im Mansfeldischen Hergisfeld, einem Dorf klaustrophobisch eingeschlossen von schwarzen Abraumhalden. Eine Gegend mit größtmöglichem Abstand zur nächsten Bio-Company, zu Kinderläden mit Englischunterricht und musikalischer Früherziehung. Hier trinkt niemand Latte auf dem Spielplatz und erklärt den anderen Eltern aus demselben Milieu das nächste Projekt in irgendwas mit Medien.

Aber auch die Kinder in Hergisfeld machen das, was Kinder in der Regel tun: Sie spiegeln die Erwachsenenwelt. Sie entziehen sich ihr, sie schmiegen sich dieser Welt an und manchmal kämpfen sie dagegen an mit den Mitteln, die sie haben. Mehr bleibt ihnen zunächst nicht übrig.
Sie beobachten etwa, wie das, was sie auf dem Teller haben, zunächst geschlachtet und später gekocht wird. Sie werden nicht ins Haus geschickt, wenn dem toten Karnickel das Fell über die Ohren gezogen wird oder das geschlachtete Schwein ausblutet. Da ist es naheliegend, als Berufswunsch „Fleischer“ anzugeben, wie Paul es zumindest auf der elterlichen Couch in Gegenwart seines Vaters tut.
Und längst ist das um sein Leben quiekende Schwein nicht die größte Herausforderung für Paul. Auch der Vater blutet. Nach zwei komplizierten Operationen am verletzten Bein besucht Paul ihn mit seiner Mutter im Krankenhaus. Und schnell wird klar, dass es sich nicht um eine anthroposophische Klinik handelt. Die blutverschmierten Zehen des Vaters ebenso wie die detaillierte Geschichte des OP-Verlaufs gehören hier offenbar auch ins Blickfeld des zehnjährigen Sohnes. Was zählt, ist lediglich die Frage, ob der Vater wieder arbeiten kann und als Lastwagenfahrer den Unterhalt für die Familie nach Hause bringen wird.

Sebastian quält sich indes mit den Hausaufgaben. Die Mühsal des Jungen bei den Matheaufgaben ist körperlich spürbar. Eine unendliche Müdigkeit überkommt das Kind angesichts der Umrechnungsformeln. Der Füller gleitet aus den schwitzenden Händen. Einzig der Wunsch, weit weg zu sein, beherrscht es – weit weg vom Küchentisch und der Mutter, die auf die vollständige Erledigung der Aufgaben besteht. Das ist so dicht beobachtet, so ruhig gefilmt, dass man nicht nur sehr nah am Kind ist, sondern auch an der Erinnerung an die eigenen Qualen an wachstuchgedeckten Tischen und karierten Heften.

Überhaupt die Nähe. Wenn Sebastian mit seinem kleinen Bruder tobt oder sie sich gegenseitig am Einschlafen hindern, wenn Tom von der dunklen Ecke in seinem Bett erzählt, in der er nie schläft – oder wenn Paul alleingelassen im Hof des Hauses sitzt, ist man den Jungen nah, spürt ihre Wärme und Lebendigkeit, ihre Angst und ihre Einsamkeit. Jene Sequenzen, die die Kamera in der Grundschule der drei einfängt, gehören zu den berührendsten des Filmes. Hier spürt man, wie fern der Unterricht vom Alltag der Kinder ist, wie ermüdend, wie anstrengend er ist und wie spannend dagegen die Frage, wer in wen verliebt ist und was draußen vor dem Fenster passiert.

Den roten Faden des Filmes bilden die Vorbereitungen auf das 800 Jahre alte Ritual des Wintervertreibens am Pfingstmontag jeden Jahres. Die Jungen lernen die Handhabung der Peitschen. Mit denen werden sie am Pfingstmontag Männer, die den Winter darstellen und sich im Schlamm wälzen, aus- und wegpeitschen. Ein Ritual, das zur Gegend passt. Da ist nichts Liebliches, keine tanzenden Blumenmädchen, keine romantischen Feuer, sondern Männer, die wie ferngesteuert alte Autos zu Schrott fahren, sich im Schlamm wälzen, auf dem Boden kriechen und von den Jüngeren vertrieben werden. Und es scheint, als würde sich selbst in diesem jahrhundertealten Ritual neben dem Überdruss angesichts des langen Winters ein noch relativ neuer Zorn Bahn brechen.

Der Film denunziert seine Protagonisten an keiner Stelle: Nicht in den barocken Wohnzimmern, nicht beim Schulversagen und auch nicht im Verlauf der orgiastischen Schlammszenen bei der Austreibung des Winters. Es gibt eine große Nähe des Teams zu den Kindern und fast bis zum Schluss eine ausschließlich sensible und leise Arbeitsweise.
Der Regisseur Mario Schneider ist in dieser Gegend aufgewachsen und lebt auch heute wieder in Halle. Die Region lässt ihn offensichtlich nicht los. „MansFeld“ ist Schneiders dritter Film, der sich mit der kargen Landschaft und ihren Bewohnern auseinandersetzt. Schneider hat an der Musikhochschule Leipzig studiert und verdient seinen Lebensunterhalt vor allem mit der Produktion von Filmmusik. Dass er die Gegend liebt, vermeint man in den vielen ruhigen und melancholischen Landschaftsaufnahmen dieser gebeutelten Region zu spüren. Dass wir davon etwas verstehen, liegt an der Musik, die er für den Film komponiert hat.

Nur ganz am Schluss weht der Geist Winfried Junges durch den Film. Plötzlich vermeint man den typischen Golzow-Jargon aus dem Off zu hören.
Schneider, der ansonsten im Film nicht zu vernehmen ist, bekommt eine Stimme und stellt ganz typische Junge-Fragen:

„Warum spielst Du?“, fragt er den klugen neunjährigen Tom. Und es krampft sich einem der Magen zusammen, angesichts einer solch blöden Frage.
Das Kind wirft eine Erklärung hin, damit es Ruhe hat, die wird nicht gewährt – da ist selbst das kluge Kind ratlos, angesichts dieses hilflos suchenden Erwachsenen.