von Annette Schuhmann, Robert Lučić

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1. Juli 2013

Robert Lučić befragte für Zeitgeschichte-online Marie-Janine Calic (LMU München) und Heike Karge (Universität Regensburg) zu Problemen der juristischen Aufarbeitung und zur Erinnerungskultur und -politik in den postjugoslawischen Ländern. Mit Bosiljka Schedlich (südost Europa Kultur e.V. Berlin) sprach er über die Situation von Kriegsflüchtlingen aus Ex-Jugoslawien in Deutschland.

Die postjugoslawischen Kriege, die mit dem 10-Tage-Krieg in Slowenien im Jahr 1991 begonnen hatten, endeten 1999 im Kosovo.
In dieser Zeit belagerten serbische Verbände knapp vier Jahre lang Sarajewo, dabei wurden mehr als 11.000 Zivilisten getötet, 1.600 von ihnen waren Kinder.

In der Nacht vom 25. auf den 26. August des Jahres 1992 beschoss die serbische Artillerie von den Hügeln rund um Sarajewo die Universität von Bosnien und Herzegowina. Die National- und Universitätsbibliothek wurde dabei fast gänzlich zerstört, und ihr Buchbestand, nahezu zwei Millionen Medien, verbrannte in dieser Nacht. Augenzeugen berichteten, dass die Asche des Bibliotheksbrandes stundenlang auf Sarajewo niederging.

Mit dem Foto des Cellisten Vedran Smajlović, der in den Trümmern der Bibliothek Cello spielt, schuf der russische Fotograf Mikhail Evstafiev die Bildikone zu diesem realen und gleichzeitig hochsymbolischen Akt der Zerstörung. Das Bild des Reuters-Fotografen ging 1992 um die Welt.
Der damals 36-jährige Musiker sollte noch oft in den Trümmerlandschaften Sarajewos musizieren. So spielte er 22 Tage lang an verschiedenen Orten der Stadt zur Erinnerung an 22 Zivilisten, die von Serben erschossen worden waren, wie auch zu Beerdigungen, die Ziel von serbischen Scharfschützen waren. Der „Cellist von Sarajewo“ wurde zum Symbol des Widerstandes für die Belagerten. Seine Geschichte ist inzwischen literarisch verarbeitet worden. Vedran Smajlović lebt heute in Nordirland.

Ganz allmählich beginnt ein Prozess der Aufarbeitung des Kriegsgeschehens in den nunmehr sieben existierenden Staaten des ehemaligen Jugoslawien. Für den westlichen Beobachter gelten indes die Schritte auf diesem Weg als kaum wahrnehmbar. Wobei die Erwartung, so merkt Holm Sundhaussen zu Recht an, dem Kriegsende könne eine zeitnahe kritische Auseinandersetzung mit den Ursachen, dem Verlauf und den Auswirkungen des Krieges folgen, vollständig „wirklichkeitsfremd“ ist. Auch in Deutschland hat das, was mit dem Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“ umschrieben wurde, erst zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begonnen. Und auch damals wurde dieser Prozess begleitet von heftigen Widerständen großer Teile der Gesellschaft.
Und selbst wenn man heute etwa auf Debatten um die wissenschaftliche Aufarbeitung der deutschen Institutionengeschichte im Nationalsozialismus blickt, scheinen weder die öffentlichen Debatten noch jene der Historiker/innen kaum ohne scharfe Tonlagen möglich.
 

Derzeitige Beispiele zivilgesellschaftlichen Engagements in den postjugoslawischen Ländern, in denen sich Menschen kritisch und offen mit der Geschichte der Kriege und deren Folgen auseinandersetzen, geben Grund zur Hoffnung. Beispielhaft seien hier einige der Projekte erwähnt. Das „Zentrum für gewaltfreie Aktion in Sarajewo widmet sich der Sicherung eines dauerhaften Friedens in der Region des ehemaligen Jugoslawiens durch die Vermittlung einer Kultur der Gewaltlosigkeit, des Dialogs und des gegenseitigen Vertrauens. In ähnlicher Weise versucht das „Zentrum für Menschenrechte-Serbien“ seit seiner Gründung 1992 durch die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen in den gewaltvollen Konflikten in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo aktiv zur Aufarbeitung der Kriege im ehemaligen Jugoslawien beizutragen. Aber auch Kulturinstitutionen wie das jährlich stattfindende „Sarajewo-Filmfestival“ oder Einzelaktionen wie die „Rote Linie Sarajewos“, in der die Initiatoren 11.541 rote Stühle auf der Marschall-Tito-Straße in Sarajewo zum Gedenken an die Opfer der Belagerung aufstellten, bilden einen zivilgesellschaftlichen Beitrag zum Gedenken und Aufarbeiten der Kriegsfolgen.
 

Einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur juristischen Aufarbeitung, trotz zum Teil berechtigter Kritik, stellt die Arbeit des Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien dar – eine Art „Versuchslabor für eine bessere Welt“, wie der „Spiegel“ das UN-Tribunal zu Beginn des Prozesses gegen Slobodan Milošević titelte. Das Kriegsverbrechertribunal arbeitet gegen die Kultur der Leugnung an und sorgt letztlich dafür, dass die Leiden der Opfer offiziell anerkannt werden.
Für Historiker/innen bilden die Anklageschriften, die richterlichen Gutachten und die Urteile inzwischen einen wichtigen Quellenbestand zur Erforschung der jugoslawischen Gewaltgeschichte. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass dieses Material weder in Kroatien noch in Serbien wirklich wahrgenommen oder gar anerkannt würde.

Und schließlich waren es auch Historiker/innen, die sich seit Beginn der 1990er Jahre mit der Analyse der Hintergründe des Kriegsgeschehens auseinandersetzten, allen voran Holm Sundhaussen und Marie-Janine Calic. Jüngere Historiker wie die kürzlich verstorbene Natalija Bašić, aber auch Heike Karge und Robert Lučić folgten und folgen diesem Weg mit Forschungen zur jugoslawischen Erinnerungskultur und Gewaltgeschichte.

Zeitgeschichte-online hat sich in den letzten Jahren und mit seinem Themenschwerpunkt Jugoslawien: Zwanzig Jahre nach Kriegsbeginn. Feindbilder – Aufarbeitung – Versöhnung? immer wieder zur Geschichte der jugoslawischen Kriege und zur Situation in den postjugoslawischen Ländern geäußert.

In unserem jüngsten Beitrag zum Thema befragte Robert Lučić die Historikerin Marie-Janine Calic zur Praxis der juristischen Aufarbeitung des Krieges in Den Haag. Calic promovierte 1992 in München mit einer Arbeit zur Sozialgeschichte Serbiens 1815–1941.
Im Jahr 1995 war sie Beraterin des UN-Sondergesandten für das ehemalige Jugoslawien in Zagreb und von 1999 bis 2002 politische Beraterin des Sonderkoordinators des Stabilitätspakts für Südosteuropa in Brüssel. Seit 2004 ist sie Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

 

Die Historikerin Heike Karge studierte Geschichte, Ost-Südosteuropawissenschaften, Soziologie und Russische Sprache an den Universitäten in Leipzig, Zagreb und Kaluga. Im Oktober 2006 promovierte sie am Europäischen Hochschulinstitut Florenz mit einem Thema zum Kriegsgedenken im sozialistischen Jugoslawien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen u.a. in der südosteuropäischen Geschichte und der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Seit Oktober 2008 ist sie Akademische Rätin am Historischen Seminar der Universität Regensburg. Robert Lučić sprach mit ihr über Erinnerungspolitik und Heldengedenken in Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg im Vergleich mit der Erinnerungskultur nach den jugoslawischen Kriegen am Ende des 20. Jahrhunderts.

 

Bosiljka Schedlich leitet das Kreuzberger Südost-Zentrum, das sich um Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien kümmert. Die gebürtige Kroatin lebt seit 1968 in Berlin und ist für ihr soziales Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz, der Louise-Schroeder-Medaille und dem Moses-Mendelssohn-Preis ausgezeichnet worden.
Der Verein sorgt unter anderem dafür, dass Kriegsflüchtlinge aus allen Kriegsregionen des ehemaligen Jugoslawien psychologische und soziale Betreuung erhalten können.