Yael Hersonskis Film Geheimsache Ghettofilm ist mit Preisen renommierter internationaler Filmfestivals geradezu überhäuft worden: mit dem „World Cinema Documentary Editing Award“ des Sundance Film Festival, dem „Writers Guild of America Documentary Screenplay Award“ des Silverdocs Documentary Festival und dem „Best International Feature Award“ des HotDocs Canadian International Documentary Festival. Der englische Filmtitel ist unspezifisch, geradezu kryptisch: „A Film Unfinished“. Der deutsche Titel wird da schon deutlicher. Die Berichte in Zeitungen und auf Websites machen schließlich klar, worum es geht: „The Warsaw Ghetto As Seen Through Nazi Eyes“ (Huffington Post, 16.8.2010), „Why did the Nazis Film the Dying Jews of Warsaw?“ (The Wrap, 14.8.2010), „Film disputes account of Warsaw Ghetto history“ (Warsaw Business Journal, 17.8.2010).
Im Zentrum des etwa anderthalbstündigen Films stehen 60 Minuten-Filmmaterial, schwarz-weiß und stumm, das die Nazi-Täter im Laufe eines Monats im Mai 1942 im Warschauer Ghetto aufgenommen haben. Eine Neuentdeckung? Kaum, denn das Material ist seit langem bekannt: Die acht Filmrollen wurden 1954 in den Beständen des DDR-Filmarchivs entdeckt, versehen mit dem Titel „Ghetto“, und lagern nunmehr im deutschen Bundesarchiv-Filmarchiv.[1] Ausschnitte aus diesem Material wurden immer wieder benutzt, um die Realität des Ghettolebens zu illustrieren, besonders umfangreich etwa in der BBC-Dokumentation „The Warsaw Ghetto“ unter der Regie von Alexander Bernfes aus dem Jahr 1966.[2] Im Jahr 1998 wurde weiteres, herausgeschnittenes Filmmaterial mit dem Titel „Warschau“ in den Beständen der Library of Congress entdeckt, das noch besser sichtbar werden lässt, wie die Aufnahmen inszeniert worden sind: Es zeigt die Kameraleute bei der Arbeit.[3]
In den Szenen von Zusammenkünften des Judenrats und von der Arbeit des jüdischen Ordnungsdienstes, einer Beschneidung und dem Schächten eines Huhns, vom Hungern und Sterben auf der Straße und der Beisetzung in Massengräbern zeigt der Film verschiedene Aspekte des alltäglichen Lebens in der Zwangsgemeinschaft des von den deutschen Besatzern geschaffenen Ghettos. Überraschend und irritierend sind inmitten des Films die Aufnahmen einer jüdischen Oberschicht, die in Überfluss und Luxus zu leben scheint. Ihre üppigen Mahlzeiten und Feste in Restaurants des Ghettos werden der Armut und Verwahrlosung der breiten Masse auf der Straße gegenübergestellt. Dieser Kontrast wird zugespitzt bis hin zur direkten Gegenüberstellung von jeweils zwei Personen in einem Bild. Besonders deutlich wird dieser Kontrast bei einem Paar – einer jungen gut gekleideten Frau und einer alten Bettlerin in Lumpen – hier wird die Spannung zwischen den unfreiwillig Gefilmten förmlich greifbar.
Die 1976 geborene israelische Filmemacherin Yael Hersonski, deren Großmutter selbst das Warschauer Ghetto überlebt hat, kombiniert das Nazi-Filmmaterial mit zeitgenössischen Berichten und Tagebucheinträgen aus dem Ghetto. Diese werden im Film eingesprochen. So schrieb etwa Adam Czerniakow in seinem Tagebuch wiederholt von den Dreharbeiten, die unter anderem in seinem Büro und seiner Privatwohnung stattfanden. Czerniakow war Vorsitzender des von den Nazis eingerichteten „Judenrats“, der für die Selbstverwaltung des Ghettos und zur Implementierung der deutschen antijüdischen Politik benutzt wurde.[4] Er selbst wurde bei einer Besprechung gefilmt. Zwei Monate später nahm er sich mit einer Zyankalikapsel das Leben. Die Deutschen hatten von ihm täglich eine Liste mit 6.000 Namen zur Deportation „in den Osten“, sprich in das Vernichtungszentrum Treblinka verlangt. Mary Berg, die als Teenager das Warschauer Ghetto erlebte und auf Grund der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft ihrer Mutter im Frühjahr 1944 in die USA gelangte, berichtet in ihrem Tagebuch ebenfalls von der Arbeit des Filmteams im Ghetto.[5] Auch Texte aus dem Untergrundarchiv „Oneg Shabbat“, das von dem Historiker Emanuel Ringelblum geleitet wurde, werden im Film zitiert. Ringelblum und seine zahlreichen Mitarbeiter/innen versuchten, detailliert und differenziert das Leben im Ghetto und die Verbrechen der Besatzer zu dokumentieren.[6] Keine dieser Quellen ist freilich von Hersonski neu entdeckt worden. Auch insofern sie unmittelbar die Dreharbeiten der deutschen Kameraleute im Ghetto ansprechen, wurden sie bereits von verschiedenen Historikerinnen und Filmhistorikern zusammengestellt, um die Filmaufnahmen zu kontextualisieren.[7]
Der Film bietet außerdem Ausschnitte aus einer, der Forschung zum Filmmaterial bisher unbekannten Vernehmung eines der Kameraleute: Willy Wist. Wist wurde in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit den Untersuchungen gegen deutsche Amtsträger in Warschau befragt.[8] Zu einem tieferen Verständnis tragen seine Aussagen jedoch nur wenig bei. Hersonski verlangsamt gelegentlich das Originalmaterial aus dem Ghetto, um den Blick eines Passanten in die Kamera oder die Kameraleute bei ihrer Arbeit, die in den Bildausschnitt ihrer Kollegen geraten, hervorzuheben. Sie zeigt an einigen Stellen das herausgeschnittene Material, so dass nachvollziehbar wird, wie manche Szenen mehrmals gefilmt worden sind, scheinbar um den besten Effekt zu gewährleisten. Vor allem aber konfrontiert sie Überlebende aus dem Warschauer Ghetto mit dem Filmmaterial, nimmt deren Reaktionen und Kommentare auf und unterbricht damit die Bildwelt der Täter.
Die Filmkritik reagierte einhellig. Hersonskis Film ist eine der meist gepriesenen Dokumentationen zur Geschichte des Holocaust der letzten Zeit.[9] Sogar das US-amerikanische Satire- und Lifestyle-Magazin „Heeb“, das an ein junges jüdisches Publikum adressiert ist und dafür bekannt ist, systematisch Tabus zu brechen, empfiehlt Hersonskis Film als „perhaps the most understated and intriguing documentary ever made about the Holocaust“.[10] Kritische Anmerkungen zum Film sind nicht zu finden. Liest man allerdings die unterschiedlichen Besprechungen und auch die gelegentlichen Interviews mit Hersonski genauer, fällt auf, dass zunächst einmal gar nicht klar ist, worum es in dem Film geht. Handelt es sich um einen Film über die Tatsache, dass die Nazi-Täter ihre Opfer im Ghetto noch filmten, kurz bevor sie sie in den Gaskammern töteten, oder geht es um einen Auseinandersetzung mit Nazi-Propaganda im weiteren Sinne? Ist es ein Film über das Warschauer Ghetto, das jüdische Leben und Leiden dort, oder über den Holocaust im Allgemeinen? Versteht sich der Film als eine künstlerische Auseinandersetzung mit hochproblematischem Filmmaterial der Täter oder beansprucht er wissenschaftliche Relevanz und einen pädagogischen Auftrag?
Das einstündige Filmmaterial vom Mai 1942 hat fraglos eine besondere Bedeutung – und übt zugleich eine gewisse Faszination aus. Es sind einige der wenigen Filmaufnahmen, die wir vom Leben der Opfer in den Ghettos haben. Sie scheinen damit einen einzigartigen Einblick in die Vernichtungspolitik der Nazis zu versprechen – ein außergewöhnliches Versprechen, wenn man bedenkt dass der Holocaust im Allgemeinen als unvorstellbar und als nicht darstellbar gilt. Sie bergen jedoch zugleich ein entscheidendes Problem: Die Bilder wurden von den Tätern aufgenommen. Zwar ist bis heute nicht vollständig klar, in wessen Auftrag und mit welcher Intention die Aufnahmen gemacht worden sind. Auch der Kameramann Willy Wist konnte dieses Geheimnis nicht lüften. Unbestreitbar ist jedoch, dass sie von den antisemitischen Obsessionen der Täter angetrieben und geformt wurden. Die Kamera fängt nicht nur das Leben und Sterben der Menschen im Ghetto ein, sondern auch den vorurteilsbeladenen Blick der Täter auf ihre Opfer.
Hersonski scheint dies durchaus bewusst zu sein, ist doch eine ihrer Begründungen für den Film die Kritik an der ausschnitthaften, rein illustrierenden Verwendung des Filmmaterials in Dokumentationen, die das Leben der Opfer im Warschauer Ghetto zeigen wollen. Zu Recht weißt sie daraufhin, dass oft vergessen wird, dass es sich um Aufnahmen der Täter handelt, die nicht einfach als ein Abbild der Realität im Ghetto verwendet werden können. Neu ist jedoch auch dieses Argument nicht. Schon die amerikanische Historikerin Lucy Dawidowicz hatte in den 1970er Jahren die genannte BBC-Dokumentation aus dem Jahr 1966 scharf kritisiert.[11] In der Verwendung des Nazi-Filmmaterials sah sie die Gefahr, die antisemitische Bildwelt der Täter wieder aufleben zu lassen und einem Publikum ungefiltert als Realität vorzusetzen. Filmhistorikern und Historiker/innen waren sowohl die außergewöhnliche Bedeutung wie auch die Problematik des Materials seit langem bewusst.
Das Problem von Hersonskis Film ist nun, dass sie die Zirkulation der Täterbilder nicht durchbricht, selbst wenn sie auf deren propagandistischen Charakter beharrt. Die Strategie, die bewegten Bilder durch die Stimmen der Opfer und überlebenden Zeitzeugen zu konterkarieren, geht nicht auf: Die Bilder bleiben dominant. Sie erzeugen die stärksten und bleibendsten Eindrücke. Der Film wird angetrieben von den Filmaufnahmen der Täter und überlässt sich ganz ihrer Struktur und Bildsprache. Auf Grund ihres Entstehungszusammenhangs und ihres Inhalts entfalten sie eine Kraft, die kaum durchbrochen werden kann. Und tatsächlich werden die Bilder am Ende als Abbild des Lebens im Ghetto gelesen – sowohl von Hersonski als auch von den Zuschauern und Filmkritikern. Der Versuch, das Problem zu lösen, indem man die Bilder der „reichen“, wohlgenährten Juden zur Propaganda erklärt und von den Bildern der armen, hungernden Juden als Realität unterscheidet, weist ebenfalls in die Irre: Die Realität im Ghetto war nun einmal komplex und die sozialen Unterschiede erzeugten tatsächlich enorme Spannungen unter den Opfern, die wir der Einfachheit halber uns als homogene Einheit zu betrachten angewöhnt haben.[12] Dies heißt andererseits natürlich nicht, dass ein Teil der Opfer in Wirklichkeit Täter und an den Verhältnissen im Ghetto schuld gewesen wäre, dass es keinerlei Solidarität unter den Ghettoinsassen gab oder das der Filmausschnitt der Nazi-Kameramänner nicht durchgängig manipulativ ist. Die Gesamtsituation des Ghettos einschließlich ihrer Konflikte und Spannungen ist von den Deutschen erzeugt worden. Alle Juden im Ghetto waren Opfer und alle sollten am Ende ermordet werden. Jede propagandistische Inszenierung, wie sie die Kameraleute im Mai 1942 vornahmen, arbeitet bereits mit dieser anderen Form von „Inszenierung“, mit der die Nazis ihre jüdischen Opfer in der Realität an ihre antisemitischen Klischees anzupassen versuchten. Dennoch kam es selbst im Warschauer Ghetto vor, dass die dort zwangsweise Lebenden ein Sonnenbad nahmen, wie es im Film gezeigt wird. Leicht mag dies als inszeniert gelten. Doch auch Privatfotos der Opfer belegen, dass es solche Szenen im Ghetto gab.[13] Sollte uns das verwundern? Müssen wir uns darüber entrüsten, dass die Opfer versuchten, sich ihren erzwungenen Alltag so angenehm wie möglich zu machen, solange sie dazu überhaupt noch in der Lage waren?
Der Propagandacharakter des Filmmaterials kann kaum dadurch bewiesen werden, dass die mehrmaligen Aufnahmen einiger Szenen belegt sind. Das ist wenig überraschend, schließlich inszeniert eine Kamera immer. Das Ghetto selbst diente aber bereits als Touristenattraktion, als eine Art Zoo, in dem für deutsche Soldaten jüdisches Leben als fremd und andersartig in Szene gesetzt wurde und bestaunt werden konnte.[14] Das Filmmaterial ist so komplex wie die Geschichte des Holocaust selbst. Hersonski hat bedauerlicherweise keinen Weg gefunden, mit dieser Komplexität angemessen umzugehen, die Ambivalenzen deutlich werden zu lassen und ihre eigene Position zu reflektieren. Ihr Umgang mit dem Material kann im besten Falle als banal oder aber als geradezu fahrlässig bezeichnet werden. Der Zusammenschnitt unterschiedlicher Materialien ist suggestiv und manipulativ. Während Hersonski die Inszenierungen der Nazis durchbrechen will, inszeniert sie ihren eigenen Film um das Material herum selbst dermaßen, dass Zuschauer und Filmkritiker immer wieder der Täuschung erliegen, dass der leibhaftige Willy Wist von Hersonski selbst interviewt worden wäre. Tatsächlich werden jedoch von einem deutschen Schauspieler Auszüge aus Vernehmungsprotokollen aus den 1970er Jahren gelesen. Der Voyeurismus der Täterkamera, die nackte Männer und Frauen bei einem rituellen Bad und schließlich nackte, ausgezehrte Leichen zeigt, wird noch überboten von den Bildern des Schmerzes der Überlebenden. Beim Anblick der Trauernden, wie Hersonski sie den Zuschauern quasi ausliefert, wird der Zuschauer ebenfalls zum Voyeur. Problematisch ist nicht zuletzt die Tonspur, die über die stummen Originalaufnahmen gelegt wird. Hersonskis Eingriffe werden durch nichts sichtbar gemacht oder gar problematisiert. Der Mangel an Reflexion wirkt hier geradezu fahrlässig.
Stattdessen imprägniert Hersonski ihren Film gegen jegliche Form von Kritik, indem sie das authentische Filmmaterial der Täter mit den Kommentaren von Opfern und überlebenden Zeitzeugen kombiniert. Im Ergebnis entsteht ein Film, gegen den kein Einspruch mehr möglich scheint: Ein Film, der ausschließlich aus „authentischem“ Material entstanden zu sein scheint, in dem die Filmemacherin als Inszenierende und Manipulierende nicht mehr sichtbar wird.
Die allgemeine Begeisterung über den Film wurde bisher lediglich getrübt durch die Entscheidung der Motion Picture Association of America, den Film unter Hinweis auf „disturbing images of Holocaust atrocities, including graphic nudity“ als Restricted (R) einzustufen.[15] Diese zweithöchste Kategorie im US-amerikanischen Jugendschutzsystem bei Filmen sieht vor, dass Jugendliche unter 17 Jahren den Film ausschließlich in Begleitung eines Erziehungsberechtigten sehen dürfen. Die Verwendung des Films in Schulen wird damit unmöglich. Was angesichts der Tatsache, dass Bildungsinstitutionen einen nicht zu vernachlässigenden Markt für Filmproduktionen dieser Art darstellen, einen großen Nachteil für den Vertrieb bedeuten dürfte. Adam Yauch, früherer „Beastie Boy“ und mittlerweile politischer engagierter Filmverleiher, der den Film in den USA vertreibt, hat unter Hinweis auf den angeblich pädagogischen Charakter des Films und seinen Wert als historisches Dokument diese Entscheidung scharf kritisiert. Für Europäer bietet die Diskussion wieder eine Möglichkeit, ihr Stereotyp von amerikanischer Prüderie bestätigt zu sehen. Die Nacktheit ist in diesem Fall freilich das wenigste, immerhin geht es um die systematische Ermordung von Menschen. Eine solche Entscheidung war aber wohl zu erwarten: Der Film ist hochgradig verstörend, was angesichts seines Gegenstands wenig überrascht und im Ergebnis ja auch positiv zu bewerten wäre. Die Irritationen, die der Film beim Zuschauer hervorruft, resultieren jedoch lediglich aus der Schockwirkung der Bilder, nicht aus einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Komplexität und Ambivalenz des Materials.
Differenzierung und Genauigkeit sind in nicht Hersonskis Stärke. Selbst wenn man die Filmemacherin nicht für die oft unsinnigen Kommentare in den Zeitungen verantwortlichen machen kann, spiegeln die Feuilletons Ungenauigkeiten und offensichtliche Fehler des Films wieder. Dies wird noch bekräftigt durch die zahlreichen veröffentlichten Interviews mit Hersonski, die die Behauptung, dass er archivalisch, historisch und pädagogisch seriös angelegt sei, unglaubwürdig erscheinen lassen. Ein Verwischen der Genregrenzen ist in unserer Erinnerungskultur inzwischen allerdings so alltäglich geworden, dass es kaum noch aufzufallen scheint.[16] Die Zahl der Filmrollen ist ein Problem, das nebensächlich wäre, wenn Hersonski es nicht selbst in den Mittelpunkt rücken würde. Auch der genaue Fundort des Materials im Jahr 1998 wird wiederholt falsch angegeben. So behauptet Hersonski, dass das Filmmaterial auf einer US Air Force-Basis aufgetaucht ist, obwohl es sich um das Motion Picture Conservation Center der Library of Congress handelt, das sich – vor allem aus Sicherheitsgründen, weil Nitratfilme leicht entzündlich sind – auf dem Gelände einer Air Force-Basis befindet, was überlieferungstechnisch einen entscheidenden Unterschied darstellen dürfte. Besonders bedenklich ist, dass sie die Vielzahl das Filmmaterial begleitenden und kommentieren Quellen, einschließlich der überlebenden Zeitzeugen, mit wenigen Ausnahmen praktisch nicht verortet und beschreibt. So erfahren wir weder Namen, Hintergründe oder Lebensgeschichten jenseits der Kommentare zum Filmmaterial. Das ist nicht nur für ein breites Publikum unbefriedigend und für eine pädagogische Nutzung bedenklich, es degradiert jegliches Material und sämtliche Zeitzeugenberichte zu bloßen Kommentatoren eines Nazi-Films. So taucht auch etwa in der Mitte des Films ein Farbfilm auf, der anscheinend von einem der Kameraleute privat gemacht worden ist, dessen Provenienz ebenfalls nicht erklärt wird. Er wurde – wie das Material in der Library of Congress – von dem britischen Filmforscher und Autor Adrian Wood entdeckt, allerdings in diesem Fall in Russland, im Privatbesitz des Sohnes eines ehemaligen sowjetischen Soldaten, der nach dem Krieg in Berlin als Filmkontrolloffizier eingesetzt war.[17]
Vielleicht handelt es sich bei dieser Kritik nur um Spitzfindigkeiten eines Historikers? Schließlich kann auch die Tatsache, dass rechtsextreme Websites den Film für ihre Zwecke entdeckt haben, Hersonski nicht vorgeworfen werden. So berichtet etwa das rechtsradikale Störtebeker-Netz: „Wir empfehlen unseren Lesern, sollte der Film auch in deutschen Kinos laufen, sich diesen Film anzusehen und einfach die Bilder für sich sprechen zu lassen. Kommentar überflüssig.“[18] Allerdings macht die Deutung des Films durch rechtsextreme Medien deutlich, wie vorsichtig mit solchem Material umgegangen werden sollte. Doch setzt schon die – zumindest in den USA – äußerst sensationalistische PR-Strategie auf einen dem brisanten Material vollkommen unangemessenen Ton.[19] Was in Hersonskis Film gezeigt werden soll, das wir noch nicht wissen, bleibt währenddessen unklar. Hersonski nimmt für sich in Anspruch, darüber nachzudenken, was vom Holocaust bleibt, wenn die Zeitzeugen nicht mehr unter uns sind.[20] Wenn es lediglich ungefiltert die Bilder sind, die die Täter angefertigt haben, um nach dem vollzogenen Genozid ihre Opfer repräsentieren zu können, dann erscheint dies wie deren später Sieg.
Der in der Werbekampagne in Fraktur gesetzte Filmtitel bedient eine weit verbreitete Faszination für alles, was mit Faschismus, Zweitem Weltkrieg und vor allem mit dem Holocaust zu tun hat. Diese Faszination mag gelegentlich hilfreich sein, um Menschen mit diesen Themen zu konfrontieren, sie kann aber ebenso gut differenzierte Einsichten verhindern. Im konkreten Fall geht sie aus dem Kontrast zwischen dem systematischen Massenmord und den gleichzeitigen Filmaktivitäten der Täter hervor. Dies steht ganz offensichtlich im Widerspruch zu der verbreiteten Annahme, dass das Verwischen der Spuren ein Teil des Genozids war, dass weder eine Spur von den Juden selbst noch von den an ihnen verübten Verbrechen bleiben, dass sie aus „Geschichte und Gedächtnis“ ausgelöscht werden sollten. Tatsächlich deutet jedoch einiges darauf hin, dass im Falle eines „Endsiegs“ und einer vollständigen „Endlösung“ die Täter und ihre Nachkommen den Massenmord als heroische Tat erzählt hätten. Das wiederum erforderte notwendigerweise ein Bild von ihren Opfern, das ein solches Narrativ glaubwürdig und ihre Aktionen zwingend erscheinen ließ. Auch die antijüdischen Maßnahmen wurden bis an die Türen der Gaskammern dokumentiert – von offizieller Seite, aber auch privat von „ganz normalen Männer“. Das Bedürfnis, alle Spuren zu verwischen, entstand erst angesichts der drohenden Niederlage. Wie dieses Narrativ der siegreichen Täter schließlich genau ausgesehen hätte, wissen wir nicht. Vermutlich wussten es die Täter noch nicht einmal selbst. Die Nazi-Pläne sind unfertig – wie der Film aus dem Warschauer Ghetto. Und sie sind keineswegs so konsistent und koordiniert, wie die politische Realität im „Dritten Reich“ oft dargestellt wird.[21]
Als Spekulation kann allerdings gelten, dass es sich bei der einstündigen, offensichtlich bereits bearbeiteten Version des Warschauer Materials um einen fertigen Film handelt, dessen Auftraggeber lediglich unbekannt ist. Anzunehmen ist vielmehr, dass sich die Filmaufnahmen einem allgemeinen Dokumentationsbedürfnis der Nazis im Kontext des Holocaust verdanken: Sie dokumentierten, was sie auslöschten, einschließlich ihrer Verbrechen – für späteren Gebrauch, nicht nur in Warschau, sondern auch an anderen Orten; nicht nur mit der Filmkamera, sondern auch mit Fotoapparaten, in den Sammlungen und Ausstellungen von Museen und schließlich in einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und Kultur aus antisemitischer Perspektive. Wie Goebbels am 27.4.1942 in seinem Tagebuch berichtet, hat er veranlasst, dass nach der Deportation der deutschen Juden „in großen Umfang Filmaufnahmen“ in den Ghettos in Osteuropa gemacht werden: „Das Material werden wir für die spätere Erziehung unseres Volkes dringend gebrauchen.“[22] Es ist wahrscheinlich, dass die Warschauer Filmaufnahmen in diesem Zusammenhang entstanden sind, nicht zuletzt deuten die Aussagen Willy Wists daraufhin. Zumindest soll das Material per Kurier an das Propagandaministerium nach Berlin geschickt worden sein. Es wurde dann wohl bearbeitet, um das Produkt vier Monate später dem Propagandaminister selbst vorzuführen, wie er am 23.8.1942 wiederum in seinem Tagebuch vermerkte: „Einige grauenhafte Filmstreifen werden mir aus dem Ghetto in Warschau gezeigt. Dort herrschen Zustände, die überhaupt nicht beschrieben werden können. Das Judentum zeigt sich hier in aller Deutlichkeit als eine Pestbeule am Körper der Menschheit. Diese Pestbeule muß beseitigt werden, gleichgültig, mit welchen Mitteln, wenn die Menschheit nicht daran zugrunde gehen will.“[23] Das heißt jedoch nicht, dass die bearbeiteten 60 Minuten bereits einen fertigen oder halbfertigen Film darstellen.
Goebbels war keineswegs der einzige, der sich mit diesem Problem – der Konservierung der Opfer über ihre Ermordung hinaus – beschäftigte. Wie auf anderen Gebieten, war das NS-Regime auch hier von Konkurrenzen geprägt, die freilich alle eine eindeutig antisemitische Intention teilten und somit letztlich auf ein gemeinsames Ziel hinführten. Insofern bleibt der genaue Kontext der Filmaktivitäten im Warschauer Ghetto im Mai 1942 bis zum Auftauchen weiterer Quellen unklar.
Ein speziell zusammengestellter „Filmeinsatztrupp“ scheint die Aufnahmen gedreht zu haben, wobei sie sich deutlich von zwei anderen bekannten Filmen unterscheiden. Der 1940 uraufgeführte Film „Der ewige Jude“ – zur Beglaubigung seines antisemitischen Inhalts als „dokumentarischer Film“ bezeichnet – wurde mit seiner aggressiven Hetzpropaganda und seinen suggestiven Bildern zur Einstimmung der Bevölkerungen in Deutschland, aber auch in den besetzen und verbündeten Ländern auf radikale Maßnahmen zur „Lösung der Judenfrage“ eingesetzt.[24] Darüber hinaus wurde er Polizei- und Wehrmachtseinheiten sowie Einsatzgruppen vorgeführt. Nicht zuletzt durch die Schlussszene, in der Hitlers Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 gezeigt wird, ist „Der ewige Jude“ ungewöhnlich deutlich in seiner Botschaft. Hier hatte Hitler die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ im Falle eines Weltkriegs prophezeit. Bereits kurz nach dem deutschen Einmarsch in Polen hatte Goebbels Aufnahmen in Warschau und Lodz in Auftrag gegeben, die für den Film verwendet wurden.
Im August und September 1944 wurde der später berüchtigte Film „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ über das Ghetto Theresienstadt gedreht. Der Film entstand keineswegs auf Anweisung von Goebbels, sondern ging aus einer Initiative des Prager „Zentralamts zur Regelung der Judenfrage in Böhmen und Mähren“ hervor, der Außenstelle von Eichmanns Abteilung im Reichssicherheitshauptamt.[25] Er wurde kurz nach einer Reihe von Stadtverschönerungsmaßnahmen und dem Besuch einer Delegation des Roten Kreuzes in Theresienstadt gedreht. Ebenso wie diese sollte er der Beruhigung des Auslands dienen und wurde im April 1945 tatsächlich insgesamt dreimal Repräsentanten ausländischer Organisationen vorgeführt, die mit den Nazis über die Rettung von KZ-Häftlingen verhandelten. Der zynische Titel des Films ist allerdings eine Prägung der Ghettoinsassen und Überlebenden, die die Absichten der Nazis entlarven sollte. Der offizielle Titel der Produktion war wesentlich nüchterner „Theresienstadt – Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“. So erklärt sich vermutlich auch der für die Warschauer Aufnahmen in Umlauf befindliche Titel „Asien in Mitteleuropa“. Hierbei handelt es sich wohl eher um eine Namensgebung durch die Ghettoinsassen, die für sich einen Sinn aus den Filmaufnahmen zu machen versuchten, zumal der Titel ausschließlich in den Erinnerungen eines Überlebenden überliefert ist.[26] Die Opfer werden jedoch kaum über die wirklichen Hintergründe, die zur Produktion des Films geführt haben, informiert gewesen sein. Vielleicht war es noch nicht einmal das Filmteam.
Trotz offensichtlicher Parallelen – alle drei Filme beinhalten Aufnahmen aus Ghettos und entstanden im unmittelbaren Zusammenhang mit der antijüdischen Vernichtungspolitik – handelt es sich doch um drei sehr unterschiedliche Projekte: Während „Der ewige Jude“ als Propaganda zur Vorbereitung der eigenen Bevölkerung auf bevorstehende antijüdische Maßnahmen diente, war der Theresienstadt-Film gegen Kriegsende an das Ausland adressiert. Die Warschauer Aufnahmen wurden aller Wahrscheinlichkeit nach für das „Archiv“, für die Zeit „danach“ aufgenommen. Sie hätten nach dem vollendeten systematischen Massenmord im Sinne der Täter eine weitere Repräsentation der Juden ermöglichen sollen. Wie und in welcher Form ist dabei weitgehend unklar. Die Bilder hätten aber nicht mehr den üblichen Regeln der Propaganda zur Vorbereitung des Genozids folgen müssen, sondern verdanken sich einem registrierenden und aufzeichnenden, fast ethnologischen Blick und einem gewissermaßen anthropologischen Interesse – was allerdings nicht heißt, dass sie nicht von antisemitischen Obsessionen und Stereotypen angeleitet und geprägt sind oder dass einzelne Szenen nicht mehrmals gefilmt wurden, um ein „gutes“ Bild herzustellen.[27] Die bipolar strukturierte Nazi-Ideologie benötigte „den Juden“ als Feindbild, auch über seine Vernichtung hinaus. Die Form der Darstellung hätte sich dabei aber ändern können. Eine aggressive Hetzpropaganda wäre nicht mehr notwendig gewesen.
Dokumentation und Propaganda können hier nicht leicht unterschieden werden. Auch die Ghetto-Aufnahmen für „Der ewige Jude“ wurden zunächst offenbar aus einem rein dokumentarischen Interesse heraus aufgenommen. Unter der Überschrift „Judenaufnahmen ‚fürs Archiv‘“beschreibt Fritz Hippler, Reichsfilmintendant und Leiter der Film-Abteilung des Reichspropagandaministeriums, diesen Auftrag in seinem Erinnerungsbuch: „, Überzeugen Sie sich mal selbst, wie diese Juden da leben, wo sie zu Hause sind. Lassen Sie Filmaufnahmen vom Leben in den polnischen Ghettos machen’, sagte Goebbels zu mir, als ich ihm am Sonntag, dem 8. Oktober den Rohschnitt der neuesten Wochenschau vorführte. ‚Fahren Sie noch morgen mit ein paar Kameramännern nach Litzmannstadt (Lodz) und lassen Sie alles filmen, was Ihnen vor die Flinte kommt. Das Leben und Treiben auf den Straßen, das Handeln und Schachern, das Ritual in der Synagoge, das Schächten nicht zu vergessen. Wir müssen das alles an diesen Ursprungsstätten aufnehmen, denn bald werden hier keine Juden mehr sein. Der Führer will sie alle aussiedeln, nach Madagaskar oder in andere Gebiete. Deshalb brauchen wir diese Filmdokumente für unsere Archive‘.“[28]
Die Idee zum aggressivsten antijüdischen Film, der im „Dritten Reich“ produziert wurde, entstand scheinbar erst, als Goebbels die für das Archiv bestimmten Aufnahmen vorgeführt wurden: „Bei der gemeinsamen Vorführung tat er dann so, als wolle er mir zeigen, wie jemand mit richtigem Instinkt zur Judenfrage reagiert. Fast jede Großaufnahme begleitete er mit Ausrufen des Abscheus und Ekels; einige Gestalten beschimpfte er so lebhaft, als könne er damit auf der Leinwand Reaktionen hervorrufen; bei den Schächtbildern nahm er stöhnend die Hände vors Gesicht... Am Ende dekretierte er, diese Aufnahmen gehörten nicht ins Archiv, daraus müsse ein abendfüllender Film gemacht werden. Kameramänner zurück ins Ghetto, er wolle sie vorher selbst sprechen.“[29] Wie auch bei dem Warschauer Filmmaterial einige Jahre später, das von Goebbels in Auftrag gegeben und ihm schließlich vorgeführt wurde, wiederholte sich der immer gleiche Zirkel: In einem ersten Schritt erzwingen die Täter eine Realität, so etwa die des Ghettos. Die auf dieser „Realität“ basierenden Filmaufnahmen dienen ihnen zur Bestätigung und Verstärkung ihrer antisemitischen Vorurteile. Und schließlich werden sie zur Legitimierung der immer brutaler werdenden antijüdischen Maßnahmen genutzt.
Was bleibt, ist die Frage nach dem angemessenen Umgang mit dieser Art Filmmaterial. Dies betrifft allerdings nicht nur die Warschauer Aufnahmen aus dem Jahr 1942, sondern eine Vielzahl von Filmdokumenten und eine noch weitaus größere Zahl von Fotografien aus dem Blickwinkel der Täter. Viele ihrer Aufnahmen sind zu Ikonen des Holocaust geworden, so etwa einzelne Aufnahmen aus dem sogenannten Auschwitz-Album oder dem Stroop-Bericht. Jeder kennt den kleinen Jungen mit den erhobenen Armen im Warschauer Ghetto oder die alte Frau mit den kleinen Kindern auf dem Weg in eine der Gaskammern von Auschwitz. Wie selbstverständlich werden sie in unserer Erinnerungskultur als Instrumente des Gedenkens an die Opfer verwendet, obwohl sie von den Tätern gemacht worden sind, um den Erfolg und die Effizienz der Vernichtungspolitik zu dokumentieren und sie zugleich zu rechtfertigen. Es kann angenommen werden, dass das heute nur wenigen Betrachtern bewusst ist, zumal es bei der Verwendung der Bilder meistens kaum deutlich gemacht und problematisiert wird. Ebenso selbstverständlich werden manipulative Propagandabilder wie etwa jene Leni Riefenstahls in Dokumentationen gebraucht und unendlich oft wiederholt – nicht nur, um über Propaganda zu sprechen und die Faszination des schönen Scheins zu brechen; nicht nur, um die Problematik dieser Bilder zu thematisieren; sondern um das „Dritte Reich“ zu illustrieren. Was dabei alles – vielleicht ungewollt – mittransportiert wird (auch durch Ausblendungen, die für alle hier genannten Varianten von Propaganda ebenso konstitutiv sind wie die sichtbaren Inhalte selbst), bleibt im Allgemeinen unbedacht. Die Lesarten von Bildern können schließlich nicht ohne weiteres kontrolliert und eingeschränkt werden. Unsere Bilder vom Nazismus und seinen Verbrechen – in der Populärkultur, in der Vermittlung durch die unterschiedlichsten Medien und auch in der Wissenschaft und Forschung – werden überraschenderweise, trotz ihrer Niederlage, immer noch weitgehend von den Tätern bestimmt.
In einigen Fällen konnten Bilder der Täter tatsächlich, entgegen ihrer ursprünglichen Intention, erfolgreich in Belege für ihre Verbrechen gewendet werden und einen Erkenntnisgewinn erzeugen. So gelang es etwa, eine breitere Öffentlichkeit mit der Tatsache einer Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust zu konfrontieren. Allerdings war auch dies nur möglich um den bis heute kaum diskutierten Preis einer fortgesetzten beziehungsweise erneuten Erniedrigung der Opfer im Bild, denn die ursprüngliche Funktion der Bilder war die Erniedrigung der Aufgenommenen. Systematische Erniedrigung war Teil des Vernichtungsprozesses. Einfache Antworten kann es auf diese weitreichende Frage daher auch nicht geben. Die beiden Extrempositionen erscheinen wenig hilfreich, weil sie diese Komplexität nicht benennen: Weder der Ausschluss aller Bilder aus der Nazizeit, wie er etwa von Claude Lanzmann gefordert wird, noch ein Bilderfetischismus, der den Bildern eine fast metaphysisch-erlösende Funktion zuschreibt, prominent vertreten von Jean-Luc Godard, wird dem Problem gerecht.[30] Es macht wenig Sinn, die Bilder der Opfer, die als Widerstandsaktionen aufgenommen wurden (etwa die Fotos des Sonderkommandos in Auschwitz), ebenso zu sanktionieren wie die Aufnahmen der Täter.[31] Sie haben einen anderen Status, einen anderen Blick und vor allem eine andere Intention. Auch wenn sie die gleiche Realität zeigen, sie zeigen sie anders. Doch auch die Täterbilder müssen nicht notwendigerweise auf ewig unzugänglich in Giftschränken aufbewahrt oder gar vernichtet werden, als ob es sie nicht gegeben hätte. Natürlich sind sie wichtige Quellen und können dazu verwendet werden, Einsichten über die Vergangenheit zu vermitteln.[32]
Es sollte jedoch in jedem Einzelfall sehr genau gefragt und reflektiert werden, was Bilder zeigen. Deutlich gemacht werden muss außerdem, warum die Bilder es zeigen, unter welchen Umständen und mit welcher Absicht sie aufgenommen wurden und schließlich, was sie nicht zeigen. Alle diese Elemente bestimmen und formatieren ein Bild, nicht ausschließlich der Inhalt im engeren Sinne. Daran anschließend wäre jeweils zu überlegen, inwieweit und wofür sie sinnvoll verwendet werden können. Vor allem im Falle der Täterbilder ist stets zu fragen, was ihre weitere Verwendung rechtfertigt: Was können wir aus ihnen lernen, was wir sonst nicht lernen könnten? Wie müssen wir sie kontextualisieren, um nicht ungewollt die Botschaft der Täter zu transportieren?
In Yael Hersonskis „A Film Unfinished“ gibt es weder neue Bilder noch neue Erkenntnisse oder Einsichten. Vertieft das Filmmaterial aus dem Warschauer Ghetto unser Verständnis des Holocaust? Vielleicht, wenn es sensibel thematisiert und kontextualisiert werden würde. Um von Hunger und Massengräbern zu erfahren, brauchen wir es allerdings nicht. Und wohl auch kaum, um zu realisieren, dass die Nazis antijüdische Propaganda produziert haben.
Leichenbergpädagogik ist mittlerweile aus der Mode gekommen. Das heißt nicht, dass wir uns den Blick auf die Verbrechen zu leicht machen sollten. Aber wir sollten doch genau überlegen, wie wir mit dieser Art von Bildern umgehen, wofür wir sie einsetzen, ob wir sie wirklich benötigen und was wir mit ihnen ungewollt mittransportieren. Bilder stellen letztlich keine wesentlich anderen Anforderungen an die Rezipienten als es Texte tun. Sie werden nur anders wahrgenommen: Nicht selten als direkter Blick auf die Wirklichkeit, die vermeintlich ohne weiteres erfasst werden kann. Auch Historikerinnen und Historiker sind immer noch nicht geschult im Umgang mit Bildern als Quelle. Einfache Rezepte und abschließende Antworten auf diese komplexen Anforderungen gibt es ohnehin nicht. Fahrlässig ist es aber, diese Fragen und Probleme noch nicht einmal aufzuwerfen und zu diskutieren – und weder ein Unbehagen noch ein Ungenügen sichtbar zu machen. Eine solche Debatte wäre weiterhin notwendig, wird aber bedauerlicherweise in unserer Erinnerungskultur nicht geführt. Vielmehr zeigt sich immer wieder eine schwer erträgliche Mischung aus Sensationalismus und Voyeurismus, Faszination und Obsession, gepaart mit Missverständnissen und Ungenauigkeiten – insofern sind „A Film Unfinished“ und seine Rezeption ein Lehrstück über den öffentlichen Umgang mit dem Holocaust in unserer Zeit.
Der Text entstand im August/September 2010 während eines Charles H. Revson Foundation Fellowships am Center for Advanced Holocaust Studies des United States Holocaust Memorial Museums in Washington, DC. Ich danke Raye Farr, Leslie Swift und Lindsay Zarwell vom Steven Spielberg Film and Video Archive am USHMM für zahlreiche Hilfestellungen und die Überlassung von Material. Ihnen wie auch einer Reihe anderer Kolleg/innen und Gastwissenschaftler/innen sei außerdem für intensive Diskussionen über den Film und die hier aufgeworfenen Fragen gedankt. Für alle hier vertretenen Einschätzungen wie auch für jegliche Art von Fehlern ist naturgemäß der Autor allein verantwortlich
[1] Vgl. Bundesarchiv-Filmarchiv, Sign. BSL 11780 (Ghetto). Zum Film vgl. den Eintrag „Asien in Mitteleuropa“, Cinematographie des Holocaust; Anja Horstmann, „Judenaufnahmen fürs Archiv“ – Das dokumentarische Filmmaterial „Asien in Mitteleuropa“, 1942, in: Medaon 4/2009.
[2] Zur BBC-Dokumentation vgl. den Eintrag „Warsaw Ghetto“, in: Cinematographie des Holocaust; zur Verwendung in fiktionalen Filmen, als Authentizitätseffekt, vgl. Ingo Loose, Die Ambivalenz des Authenthischen. Juden, Holocaust und Antisemitismus im deutschen Film nach 1945, in: Medaon 4/2009.
[3] Vgl. Bundesarchiv-Filmarchiv, Sign. M 19675 (Ghetto – Restmaterial).
[4] Vgl. Raul Hilberg/Stanislaw Staron/Josef Kermisz (Hg.), The Warsaw Diary of Adam Czerniakow. Prelude to Doom, Chicago 1999 (EA 1979), 348-362 (Eintragungen vom 30.4.-2.6.1942).
[5] Vgl. L. Shneiderman (Hg.), The Diary of Mary Berg. Growing up in the Warsaw Ghetto, Oxford 2006 (EA 1945), 143f. (Chapter XI: The Germans Take Pictures).
[6] Vgl. Emanuel Ringelblum, Notes from the Warsaw Ghetto, hrsg. v. Jacob Sloan, New York 1958, 265f., 268 („They are still filming the Ghetto. Every scene is directed.“), 277f., 294; Joseph Kermish (Hg.), To Live with Honor and Die with Honor! Selected Documents from the Warsaw Ghetto Underground Archives “O. S.” (Oneg Shabbat), Jerusalem 1986; Samuel D. Kassow, Who Will Write Our History? Emanuel Ringelblum, the Warsaw Ghetto, and the Oyneg Shabbes Archive, Bloomington – Indianapolis 2007.
[7] Vgl. etwa auch Abraham I. Katsh (Hg.), Scroll of Agony. The Warsaw Diary of Chaim A. Kaplan, Bloomington – Indianapolis 1999 (EA 1965), 331f., 334 (Eintragungen vom 14.5. und 19.5.1942).
[8] Willy Wist wurde zweimal vernommen. Ein Detail, welches Hersonski an keiner Stelle des Films erwähnt. So wurde Wist erstmals 1970 im Zuge einer Voruntersuchung gegen Heinz Auerswald, den „Kommissar für den jüdischen Wohnbezirk in Warschau“, und dann nochmals 1972 für die Voruntersuchung gegen Ludwig Hahn, den Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Warschau. Das Material befindet sich im Bundesarchiv-Außenstelle Ludwigsburg (Unterlagen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen): B 162/832, Bl. 444-451; B 162/19319, Bl. 1278-1285.
[9] Vgl. z.B. „An Israeli Finds New Meanings in a Nazi Film“, The New York Times, 17.8.2010; „A Film Unfinished: How German it is“, Huffington Post, 16.8.2010; „Yael Hersonski’s ‘A Film Unfinished’ incorporates Nazi footage“, Los Angeles Times, 15.8.2010; „A Film Unifnished’ Focusses on Nazi Documentary“, Miller-McCune, 15.8.2010; „An Unfinished Story“, The Wall Street Journal, 13.8.2010; ‘A Film Unfinished’, indieWIRE, 13.8.2010; „Drastische Nacktheit“, Süddeutsche Zeitung, 6.8.2010; „Das Massengrab als Kulisse. Wie eine Israelin den NS-Propagandafilm ‚Asien in Mitteleuropa‘ vollendete, Welt-Online, 19.2.2010.
[10] Vgl. „Chosen Film: A Film Unifinished – Now Playing”, 1.9.2010.
[11] Vgl. Lucy S. Dawidowicz, Visualizing the Warsaw Ghetto: Nazi Images of the Jews Refiltered by the BBC. A Critical Review of the BBC Film “The Warsaw Ghetto”, unveröffentlichtes Typoskript, Yeshiva University 1978.
[12] Vgl. Barbara Engelking/Jacek Leociak, The Warsaw Ghetto. A Guide to the Perished City, New Haven – London 2009, 580-584.
[13] United States Holocaust Memorial Museum/Fotoarchiv #23282. Ich danke Judith Cohen von der Photographic Reference Collection am USHMM für den Hinweis auf dieses Foto.
[14] Vgl. Engelking/Leociak, The Warsaw Ghetto, 582f.; Jeremy Noakes/Geoffrey Pridham (Hg.), Nazism 1919-1945. Vol. 3: Foreign Policy, War and Racial Extermination. A Documentary Reader, Exeter 2001, 462f. (Dok. 786 und 787). Vgl. dazu auch die im YIVO überlieferten Filmaufnahmen aus dem Warschauer Ghetto (USHMM/Spielberg Film and Video Archive, Story RG-60.0577, Tape 237): Sie schienen von deutschen Soldaten (Luftwaffe?), die auf einer Besichtigungstour durch das Ghetto unterwegs waren, privat aufgenommen wurden zu sein, wohl 1941 oder 1942. Nach dem Maßstab des Hersonski-Films würden sie wohl nicht als inszeniert gelten. Sie zeigen durchaus ähnliche Straßenszenen und Kontraste wie die Aufnahmen aus dem Mai 1942, aber keinerlei Eingriffe – abgesehen natürlich von der Anwesenheit deutscher Soldaten mit einer Filmkamera. Das gleiche gilt für die Fotografen Willy Georgs, eines deutschen Soldaten und Fotografen, aus dem Sommer 1941, vg. United States Holocaust Memorial Museum, Washington DC/Fotoarchiv, z.B. #08149, #08150, #08152, #08156, #20579, #20601,#20614, #20615. Auch diese Bilder vermitteln einen Eindruck vom unmittelbaren Nebeneinander von Alltag und Hunger, Leben und Sterben im Ghetto. Georg übergab die Aufnahmen in den späten 1980er oder frühen 1990er Jahren an Rafael Schafr, der sie teilweise in dem Band „ In the Warsaw Ghetto. Summer 1941“ (New York 1993) verwendete.
[15] Vgl. „Holocaust film rating appealed“, jweekly, 12.8.2010; „Bildung mit den Beastie Boys“, Süddeutsche Zeitung, 7.8.2010; „Holocaust Doc Loses Appeal on ‘R’ Rating“, The Wrap, 5.8.2010.
[16] Vgl. Dirk Rupnow, Jenseits der Grenzen. Zeitgeschichte, Holocaust und Literatur, in: Marcel Atze/Thomas Degener/Michael Hansel/Volker Kaukoreit (Hg.), akten-kundig? Literatur, Zeitgeschichte und Archiv (= Sichtungen. Archiv – Bibliothek – Literaturwissenschaft, 10./11. Jahrgang 2007/08), Wien 2009, 67-97.
[17] Bundesarchiv-Filmarchiv, Sign. M 20814. Die Ähnlichkeit einzelner Motive und ein identes Sujet (der Trauerzug für einen verstorbenen Mitarbeiter des „Judenrats“, Herman Czerwinski) machen deutlich, dass es sich um den gleichen Filmtrupp und den gleichen Zeitpunkt wie bei dem „Ghetto“-Material handelt.
[18] „Das ‚schöne Leben‘ im Warschauer Ghetto 1942 – neue NS-Filmrolle aufgetaucht“, Altermedia Deutschland/Störtebeker-Netz, 20.8.2010.
[19] Vgl. [Anm. der Red.: Website existiert nicht mehr].
[20] Vgl. „Whitewash in Wartime“, The New York Times, 13.8.2010.
[21] Vgl. Dirk Rupnow, Vernichten und Erinnern. Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik, Göttingen 2005; ders., Aporien des Gedenkens. Reflexionen über ‚Holocaust‘ und Erinnerung, Freiburg/Br. – Berlin 2006.
[22] Elke Fröhlich (Hg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Tl. II/Bd. 4, München – New Providence – London – Paris 1995, 184.
[23] Elke Fröhlich (Hg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Tl. II/Bd. 5, München – New Providence – London – Paris 1995, 391.
[24] Dorothea Hollstein, Antisemitische Filmpropaganda. Die Darstellung des Juden im nationalsozialistischen Spielfilm, München 1971; Stig Hornshøj-Møller, „Der ewige Jude“. Quellenkritische Analyse eines antisemitischen Propagandafilms, Göttingen 1995.
[25] Vgl. Karel Margry, Das Konzentrationslager als Idylle: „Theresienstadt“ – Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet.
[26] Vgl. Jonas Turkow, Azoi is es geven. Hurban Warsche, Buenos Aires 1948.
[27] Ein vergleichbares Filmprojekt wurde scheinbar im Rahmen des sogenannten „Jüdischen Zentralmuseums“ in Prag geplant, das auch in den Kontext der Nazi-Bemühungen um eine Konservierung eines Bildes des Judentums gehört. Es wurde unter der Aufsicht des Prager „Zentralamts zur Regelung der Judenfrage“ von jüdischen Wissenschaftlern aufgebaut. In diesem Kontext beabsichtigten die zuständigen SD/SS-Männer, einen jüdischen Gottesdienst und verschiedene religiöse Rituale zu filmen, bis hin zu einer Beschneidung. Die Dreharbeiten scheinen im März 1944 stattgefunden zu haben, das Material ist allerdings nicht überliefert bzw. konnte bisher nicht aufgefunden werden. Vgl. Dirk Rupnow, Vernichten und Erinnern, 242-245; ders., Täter-Gedächtnis-Opfer. Das „Jüdische Zentralmuseum“ in Prag 1942-1945, Wien 2000, 107-116.
[28] Fritz Hippler, Die Verstrickung. Auch ein Filmbuch …, Düsseldorf 21981, 187.
[29] Hippler, Verstrickung, 189.
[30] Vgl. Libby Saxton, Haunted Images. Film, Ethics, Testimony and the Holocaust, London – New York 2008, 46-67. Lanzmann wurde mit dem Warschauer Filmmaterial offenbar durch Frédéric Rossifs Dokumentation “Le Temps du Ghetto” (F1961) konfrontiert, al ser mit den Recherchen für „Shoah“ begann. In seinen Memoiren kritisierte er, dass Rossif keine Rechenschaft über die Herkunft des von ihm verwendeten Materials ablegt. Er verbindet damit die Vermutung, dass die Aufnahmen dazu dienen sollten, Deutschland und der Welt zu zeigen, wie angenehm das Leben im Ghetto ist. Vgl. Claude Lanzmann, Le Lièvre de Patagonie. Mémoires, Paris, 2009, S. 431.
[31] Vgl. Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007.
[32] Vgl. Bryan F. Lewis, Documentation of Decoration? Uses and Misuses of Photographs in the Historiography of the Holocaust, in: John K. Roth/Elisabeth Maxwell (Hg.), Remembering for the Future. The Holocaust in an Age of Genocide, Vol. 3: Memory, Basingstoke 2001, 341-357.