Nora Bierich Kulturpornografie, Holo-Kitsch und Revisionismus – Der Vorleser kommt ins Kino Eine Rezension von Bernard Schlinks Liebesfluchten im englischen Times Literary Supplement löste im Jahr 2002 eine Leserbrief-Debatte aus, bei der sich vor allem britische Schriftsteller zu Wort meldeten. Im Focus der Debatte stand jedoch nicht der neue Roman Bernhard Schlinks, sondern sein bereits 1995 erschienener Roman Der Vorleser. Die Kritik an diesem, in Deutschland, England und den USA außerordentlich erfolgreichen Roman war vernichtend. So attestierte Frederic Raphael, selbst Schriftsteller und Initiator der Debatte, Schlink „schlechten Stil, tendenziöses Moralisieren und unaufrichtige Bilder“, bezichtigte ihn der „Kollaboration mit dem Bösen“ sowie der „bewussten Falschmünzerei“ und endete in dem Verdikt: „Wenn Literatur irgendeine Bedeutung haben soll, dann ist darin kein Platz für den Vorleser.“
Gabriel Josipovici, ebenfalls Schriftsteller, nannte das Buch „schlecht geschrieben, sentimental und moralisch empörend“, und fragte sich, „warum so viele intelligente Menschen, darunter viele Juden, diesen Roman so anrührend und tiefgängig fanden“.
Die weitreichendste und schärfste Kritik am Vorleser äußerte jedoch Jeremy Adler, Dichter und Professor für deutsche Sprache in Oxford und Sohn eines Überlebenden der Vernichtungslager, Hans Günther Adler, der das Buch Theresienstadt 1942 - 1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft verfasst hat. Schlink, dessen Roman voller Klischees, Halbwahrheiten, Verdrehungen und Irrtümern stecke, so Adler in seiner auch in der Süddeutschen Zeitung abgedruckten Kritik, bediene sich mit seinem Leitmotiv der ungebildeten Wärterin, deren Vergnügen darin bestehe, sich vor dem Sex mit ihrem jugendlichen Freund von diesem Meisterwerke der Literatur vorlesen zu lassen, „einer offenbar durchschlagend erfolgreichen Form der Kulturpornographie“. Würde in der ersten Hälfte des Buches, solange die ehemalige Wärterin den deutschen Klassikern lausche, in einer ungewollten Persiflage auf Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung eine Verbindung zwischen Kultur und Barbarei suggeriert, so solle der Leser später, wenn er erfährt, dass die ehemalige KZ-Aufseherin Hanna Schmitz im Gefängnis die einschlägige Literatur über die Konzentrationslager durchgearbeitet hat, an deren Läuterung glauben.
„Ich trat an das Regal. Primo Levi, Elie Wiesel, Tadeusz Borowski, Jean Améry – die Literatur der Opfer neben den autobiographischen Aufzeichnungen von Rudolf Höss, Hannah Arendts Bericht über Eichmann in Jerusalem und wissenschaftliche Literatur über Konzentrationslager“, berichtet der Protagonist des Romans, als er die Gefängniszelle von Hanna nach deren Tod besucht. Ein solches Leseprogramm ist, trotz aller Fiktivität, nicht nur unglaubwürdig, sondern zynisch.
Willi Winkler, der sich als einer der wenigen deutschen Kritiker 2002 in der Süddeutschen Zeitung zur englischen Debatte über den Schlink-Roman äußerte, verschlug es angesichts dieser Literaturliste fast die Sprache. „Ist das abscheulich oder richtig abscheulich?“ fragt er nur.
Winkler gibt Schlinks brisanter Liebesgeschichte einen Namen: „Holo-Kitsch“. Für ihn ist die Aufseherin Hanna in ihrer Mischung aus attraktiver Lageraufseherin, bemitleidenswerter Analphabetin, die nur aufgrund ihrer Leseschwäche bei der SS gelandet ist, – eigentlich wäre sie gern bei Siemens geblieben - und geläuterter Literaturliebhaberin das weibliche Pendant zum geschmacklosen Klischee des Schäferhund liebenden und abends Geige spielenden KZ-Kommandanten.
Doch das Perfide von Schlinks vermeintlicher Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, mit Schuld und Mitschuld liegt nicht nur in der Verkitschung der Nazi- Vergangenheit, nicht nur in der Verdrehung von Tatsachen, die der Erfahrung der überlebenden Juden und anderer Naziopfer sowie auch der wissenschaftlichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen, Hohn sprechen, wie beispielsweise in der verharmlosenden Darstellung des NS-Prozesses im Roman deutlich wird, der unweigerlich den Majdanek-Prozess mit seiner Hauptangeklagten Hermine Braunsteiner-Ryan in Erinnerung ruft.
Das Perfide liegt auch nicht nur darin, dass Schlink suggeriert, sich mit der Nazi-Vergangenheit auseinanderzusetzen und sich zugleich mehr als unterschwellig von den bestehenden und von seiner Generation entscheidend initiierten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus distanziert: „Was sollte und soll meine Generation der Nachlebenden eigentlich mit den Informationen über die Furchtbarkeiten der Vernichtung der Juden anfangen? Wir sollen nicht meinen, begreifen zu können, was unbegreiflich ist, dürfen nicht vergleichen, was unvergleichlich ist, dürfen nicht nachfragen, weil der Nachfragende die Furchtbarkeiten, auch wenn er sie nicht in Frage stellt, doch zum Gegenstand der Kommunikation macht und nicht als etwas nimmt, vor dem er nur in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen kann. Sollen wir nur in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen? Zu welchem Ende? (...) Aber dass einige wenige verurteilt und bestraft und dass wir, die nachfolgende Generation, in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen würden – das sollte es sein?“ fragt sich der angehende Jurist Michael bei dem NS-Prozess und lässt die Frage ohne Antwort. Doch hier bleibt nicht nur der autobiographisch angelegte Ich-Erzähler die Antwort schuldig. Mit einer solchen Rhetorik suggeriert auch der Autor, dass die Aufarbeitung der Nazi-Gräuel zu einem allgemeinen Verstummen führt und somit sinnlos und unproduktiv ist.
Dass es darum geht, den Opfern eine Stimme zu geben, soweit dies bei den vielen Toten überhaupt noch möglich ist, dass es darum geht, Zeugnis abzulegen von dem größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts, und dass die damalige Studentengeneration wesentlich zum Prozess des Fragens und Sprechens beigetragen hat und eben nicht verstummt ist, entgeht dem späteren Juristen im Roman und seinem Erfinder.
Kennzeichnend für Schlinks erfolggekrönte literarische Verarbeitung des NS-Themas ist eine seltsame Verdrehung und Verschiebung von Schuld, die sich an den Protagonisten des Romans nachzeichnen lässt.
Im ersten Teil des Buches entspricht Hanna ganz dem Klischee der älteren attraktiven Verführerin, und auch die Sexszenen bleiben in ihrer Beschreibung den altbackenen Phantasien der 50er Jahre verhaftet. Nothing to write home about. Außer, dass sich Hanna vorlesen lässt. Sie entjungfert den fünfzehnjährigen Michael, und er besucht sie täglich. Er liest ihr vor, sie duschen und vögeln. Durch Hanna gewinnt der Junge Selbstbewusstsein seinen Schulkameraden und den Mädchen gegenüber, doch sie demütigt ihn auch. Schließlich, als sie im Sommer plötzlich im Schwimmbad auftaucht, tut er so, als kenne er sie nicht und verleugnet sie vor seinen Kameraden. Kurz darauf ist Hanna verschwunden.
Michael trifft sie erst bei dem Gerichtsprozess wieder, den er als Jura-Student mit einem Seminar der Universität beobachtet. Hanna ist mit anderen ehemaligen KZ-Wärterinnen angeklagt, den Tod jüdischer Frauen in einer Kirche in Frankreich verschuldet zu haben. Während des Prozesses wird ihm klar, dass Hanna Analphabetin ist. Vieles an ihrem früheren Verhalten, was er sich vorher nicht hatte erklären können, erschließt sich ihm jetzt. Doch seltsamerweise will Hanna ihr Unvermögen im Prozess nicht zugeben, obwohl sie sich dadurch retten könnte, denn ihr wird ein Schriftstück zur Last gelegt, das sie als Hauptverantwortliche auszuweisen scheint. Schließlich wird sie als Haupttäterin zu lebenslänglicher Haft verurteilt, während die anderen Mitangeklagten mit milderen Strafen davonkommen.
Michael überlegt sich, einzugreifen und dem Richter von Hannas Unfähigkeit, lesen und schreiben zu können, zu berichten. Er spricht sogar bei dem Richter vor, doch er schafft es nicht, für Hanna einzutreten. Er gibt sich auch nicht als Freund zu erkennen und verleugnet sie so zum zweiten Mal.
Nach einer Weile beginnt er, Kassetten zu besprechen und sie ihr ins Gefängnis zu schicken. Er schreibt ihr keine Briefe, er besucht sie nicht, er schickt ihr nur Kassetten. Das tut er viele Jahre lang, während derer Hanna selbst lesen und schreiben lernt und sich, wie erwähnt, die einschlägige Literatur zum Holocaust erarbeitet. Sie schreibt ihm hin und wieder kurze Briefe, und er ist stolz auf sie. „Analphabetismus ist Unmündigkeit. Indem Hanna den Mut gehabt hatte, lesen und schreiben zu lernen, hatte sie den Schritt aus der Unmündigkeit zur Mündigkeit getan, einen aufklärerischen Schritt.“ Da ist sie, die ungewollte Persiflage auf die Aufklärung und ihre Dialektik.
Nach achtzehn Jahren wird Hanna Schmitz begnadigt, und vor ihrer Entlassung bittet die Gefängnisleiterin Michael Berg als einzigen Ansprechpartner der lange Eingesperrten bei der Rückkehr in die Gesellschaft behilflich zu sein. Er besucht Hanna daraufhin im Gefängnis, das einzige Mal. Sie sitzt auf einer Bank, sie ist gealtert. Sie riecht nach alter Frau, heißt es, nicht mehr frisch gewaschen wie früher. Er weiß, dass Hanna keinen Platz in seinem Leben haben wird, so wie sie auch in den Jahren davor keinen hatte. „Ich hatte Hanna eine Nische zugebilligt, durchaus eine Nische, die mir wichtig war, die mir etwas gab und für die ich etwas tat, aber keinen Platz in meinem Leben.“ Er verleugnet sie zum dritten Mal, und als er sie am Tag der Entlassung abholen will, ist sie tot.
Michael ist sich seiner Verleugnung oder des Verrats, wie es im Roman heißt, bewusst. Er fühlt sich schuldig, sieht sich aber zugleich auch als Opfer von Hanna. „Ich sah sie auf der Bank, den Blick auf mich gerichtet, sah sie im Schwimmbad, das Gesicht mir zugewandt, und hatte wieder das Gefühl, sie verraten zu haben und an ihr schuldig geworden zu sein. Und wieder empörte ich mich gegen das Gefühl und klagte sie an und fand billig und einfach, wie sie sich aus ihrer Schuld gestohlen hatte. Nur die Toten Rechenschaft fordern zu lassen, Schuld und Sühne auf schlechten Schlaf und schlimme Träume zu reduzieren – wo blieben da die Lebenden? (...) Wo blieb ich?“ Michael ist schuldig – Hannah hat ihm seine Unschuld geraubt und er hat sie verraten – aber er ist im Roman auch ihr Opfer. Weil sie ihn, so wie zuvor die jüdischen Mädchen im KZ, zum Vorlesen benutzt hat, weil sie mit ihm geschlafen hat, ohne ihm ihre Vergangenheit, ihre Bestialität zu beichten. Er will Rechenschaft, doch Rechenschaft, sagt Hanna, dürften nur die Toten von ihr fordern. Denn nur die Toten könnten sie verstehen. (Sollte Hanna als Romanfigur diese unsägliche Geschmacklosigkeit wirklich glauben, die sie gegen Ende des Romans ausspricht, kann sie nichts von den Büchern verstanden haben, durch die sie angeblich geläutert wurde.)
Am Ende ist es eine Jüdin, und zwar eine der Überlebenden des Massakers in der französischen Kirche, die ihn darüber aufklärt, was Hanna ihm wirklich angetan hat. Hanna habe ihn nicht nur verführt und als Vorleser benutzt, sondern durch das Verschweigen ihrer Vergangenheit sei sie auch dafür verantwortlich, dass Michael beziehungsunfähig ist. Seine Ehe ist zerbrochen, und auch die späteren Beziehungen sind gescheitert. Am Ende des Romans sind die Jüdin in New York und Michael beide Opfer. Und ist nicht auch Hanna eigentlich Opfer, da sie nur durch ihren Analphabetismus, ihre Unmündigkeit, unter die Räder der deutschen Geschichte geriet?
Es geht um Schuld. Deutsche Schuld. Hannahs Schuld als NS-Täterin. Michaels Mitschuldigwerden, weil er ein Liebesverhältnis mit der ehemaligen KZ-Wärterin hatte, auch wenn er nichts davon wusste. Michaels Schuldigwerden an Hanna, weil er sie verrät, als Geliebte. Und Hannas Schuld an Michael, weil sie ihm seine Unschuld geraubt hat, weil sie ihn als Vorleser und Liebhaber benutzt und weil sie ihm ihr Geheimnis nicht verraten hat.
Vor allem aber geht es um das Revidieren von Schuld: Hanna ist nicht wirklich schuldig, denn sie ist Analphabetin, sie war nur bei der SS, weil sie sich nicht getraut hat, zu offenbaren, dass sie nicht lesen und schreiben kann, als sie bei Siemens befördert werden sollte. Hanna ist auch nicht schuldig im Sinne der Anklage im Prozess, denn sie kann das Schriftstück nicht geschrieben haben, für das sie am Ende verurteilt wird. Im Prozess schämt sie sich nicht für das Unrecht, das sie getan hat, sondern sie schämt sich zuzugeben, dass sie 3 nicht lesen und schreiben kann. Und in dem Moment, als sie zu lesen beginnt, tritt sie aus dem Zustand der Unmündigkeit heraus in die Mündigkeit, sie tut einen „aufklärerischen Schritt“. Durch die Lektüre der Berichte aus den Lagern und über den Holocaust arbeitet sie ihre Schuld gewissermaßen ab.
Doch ist diese Figur der Hanna plausibel? Es ist unglaubwürdig, dass eine Frau zur SS ging, weil sie bei Siemens nicht offen legen wollte, dass sie des Lesens und Schreibens unkundig ist. Es ist weiterhin unglaubwürdig, dass eine ungebildete und eher primitiv wirkende Frau sich in der Gefängniszelle die einschlägige Holocaust-Literatur aneignet. Die hochintellektuelle Literaturliste und Hannas angebliche Läuterung haben nichts gemein mit den wirklichen Tätern, die sich gerade durch Ignoranz ihren Opfern gegenüber auszeichneten. Mit Hannas Analphabetismus suggeriert Schlink einen Zusammenhang zwischen Unbildung und Disposition zum Bösen, wohingegen die Geschichte des Dritten Reichs gerade das Gegenteil gelehrt hat, dass nämlich kultivierte Menschen diese Verbrechen begangen haben, dass eben Aufklärung in Barbarei umschlagen kann.
Bei Michael ist das Problem der Schuld diffiziler konstruiert. Michael fühlt sich schuldig, weil er eine ehemalige NS-Täterin liebt. Hier steht die These der Kollektivschuld im Hintergrund. "Ich musste eigentlich auf Hanna zeigen. Aber der Fingerzeig auf Hanna wies auf mich zurück. Ich hatte sie geliebt. Ich hatte sie nicht nur geliebt, ich hatte sie gewählt. Ich habe versucht, mir zu sagen, dass ich, als ich Hanna wählte, nichts von dem wusste, was sie getan hatte. Ich habe versucht, mich damit in den Zustand der Unschuld zu reden, in dem Kinder ihre Eltern lieben. Aber die Liebe zu den Eltern ist die einzige Liebe, für die man nicht verantwortlich ist. Und vielleicht ist man sogar für die Liebe zu den Eltern verantwortlich." Anders als seine Mitstudenten kann Michael nicht seine Eltern, die Tätergeneration, für die Verbrechen der Nazi-Zeit verantwortlich machen, sondern ist selbst in die Schuld der vorherigen Generation verstrickt.
Als Student und Beobachter des NS-Prozesses, in dem er Hanna wieder sieht, setzt er sich scheinbar mit der deutschen NS-Vergangenheit auseinander. Aber nur scheinbar, denn erstens führt das Wissen über die Furchtbarkeiten der Vernichtung der Juden seiner Meinung nach nur zu dem oben bereits erwähnten Verstummen in Entsetzen, Scham und Schuld. Und zweitens setzt er sich eben nicht mit seiner Schuld als Geliebter von Hanna auseinander, sondern verschweigt und verrät sie (Ausnahme ist, so könnte man behaupten, das Buch, das er schreibt, aber dieses Buch ist, wie ich hier zu zeigen versuche, eben auch keine Auseinandersetzung mit dieser Schuld).
Stattdessen wird das Problem seiner Schuld, Geliebter einer ehemaligen KZ-Wärterin gewesen zu sein, auf eine andere Schuldebene verschoben, und zwar durchaus im psychoanalytischen Sinne.
Die Schuld, über die Michael ausführlich spricht, ist sein Verrat an Hanna. Zum ersten Mal verrät er sie im Schwimmbad, bevor er von ihrer Vergangenheit weiß. Das ist als Konstruktion wichtig, denn so macht er sich schuldig, ohne dass diese Schuld nur auf Hannas Vergangenheit zurückgeführt werden kann. Das erste Mal verrät er seine erste Liebe, weil sie zu alt oder zu gewöhnlich ist, um sie seinen Freunden im Schwimmbad vorzustellen. Im Prozess und im Gefängnis wird er Hanna erneut verraten, diesmal aber aus Scham für ihre Verbrechen.
Diese Schuld ist verständlich und verzeihlich. Wer könnte den Jungen im Schwimmbad, den Studenten im Prozess oder beim Professor nicht verstehen? Wer könnte nicht nachvollziehen, dass er Hanna keine Briefe ins Gefängnis schreibt, dass er schweigt, auch wenn er ihr Kassetten schickt?
Und so wird ihm der Leser seinen Verrat an Hanna vergeben, und unmerklich wird er ihm mit der einen Schuld auch die andere vergeben, um die es eigentlich hätte gehen müssen, die Schuld des Mitschuldigwerdens, wenn man eine Täterin liebt, die Schuld, die in dem ganzen Gerede um Verrat und Vergebung verloren gegangen ist.
Bernhard Schlink betreibt in seinem Roman keine Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte, sondern deren Revision. Indem er die Figur der Hanna als Analphabetin konstruiert, relativiert er ihre Schuld. Täterschaft wird klein geredet, durch Analphabetentum und Zufälle erklärt. Diese auf Fehlverhalten durch Unbildung reduzierte Figur der NS-Täterin steht in keinem Verhältnis zu den wirklichen Täterinnen und Täter.
Auch Michaels Schuld wird revidiert. Die große Frage des Buches, ob Liebe zu einer Täterin mitschuldig macht, wird unter den Teppich gekehrt, indem sie zu einer anderen Frage der Schuld verschoben wird. Und weil Hanna Analphabetin ist und eigentlich gar nicht so böse und schuldig, wie ihr unterstellt wird. Durch ihr Schweigen aber hat sie sich schuldig gemacht, zuletzt auch an Michael. Und der erhält am Ende seine Absolution durch die überlebende Jüdin in New York: auch er ist Hannas Opfer.
Am Schluss verrät Michael Hanna auch noch als Geliebte, als er sich von ihr abwendet, weil sie nicht mehr jung und frisch gewaschen riecht. So büßt Hanna, wie viele Frauen in der Männerphantasie, am Ende zwecks Läuterung auch noch ihre Erotik ein. Und ihr Leben.
Vierzehn Jahre nach dem Erscheinen von Der Vorleser kommt nun dessen Verfilmung in die deutschen Kinos. Der Film ist für den Oscar nominiert, und auch wenn er kein Medienereignis wie Operation Walküre auslösen wird, wird er ein großes Publikum finden. Allein schon deshalb, weil so viele das Buch gelesen haben. Und weil schon vor dem Start so viel Propaganda bei Schulen und Pädagogen für diesen Film gemacht wird.
Und das ist der eigentliche Skandal. Nicht, dass das Buch überhaupt geschrieben wurde, sondern dass es in Deutschland und weltweit so viele Leser gefunden hat. Dass dieser Roman neben Die Blechtrommel und Das Parfüm der erfolgreichste deutsche Roman im Ausland ist. Dass Der Vorleser an deutschen Schulen, aber auch an amerikanischen Schulen und Universitäten als repräsentatives Werk zur deutschen Vergangenheitsbewältigung gilt. Dieses Buch, in dem die Frage der Schuld so lange verdreht wird, bis alle glauben, dass sie wirklich bewältigt wurde.
„Es wirft ein trauriges Schlaglicht auf unsere verkehrte Welt“, schrieb Jeremy Adler, "dass diesen Schundroman ausgerechnet ein deutscher Richter ausgebrütet hat“. Und es wirft ein trauriges Schlaglicht auf unsere verkehrte Welt, dass gerade dieses Buch repräsentativ für die Verarbeitung deutscher NS-Geschichte sein soll.
Siehe dazu außerdem den Beitrag auf filmportal.de