von Marek Frank, Gulnora Usmanova

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1. Januar 2012

„Petuschki – das ist ein Ort, wo die Vögel nicht aufhören zu singen, weder am Tage noch bei Nacht, wo sommers wie winters der Jasmin nicht verblüht. […] Sogar die, die wochenlang nicht nüchtern werden, behalten dort ihren klaren, unergründlichen Blick...“ So beschreibt der russische Schriftsteller Wenedikt Jeroefejew in seinem satirischen Reisebericht das kommunistische Paradies. Auf der Suche nach Antworten, weshalb sich über 70 Jahre lang, fast die Hälfte der Weltbevölkerung auf die selbe Reise machte, um am Ende wie der Protagonist Jeroefejews nie am Ziel anzukommen, befasst sich ARTE in seinem neuesten Crossmedia-Projekt »Lebt wohl, Genossen!«.

Der Anspruch des ARTE-(Crossmedia)Projektes ist hoch und das Engagement des Senders groß. Mit einem Gesamtbudget von 2,6 Millionen Euro und der Beteiligung von insgesamt 15 Sendern aus 14 Ländern wollen die Autoren keine der üblichen Untergangschroniken darstellen, sondern über die Erfahrungen der Menschen aus den osteuropäischen Ländern in den Jahren von 1975 bis 1990 berichten.
Das Crossmedia-Projekt steht auf insgesamt drei Säulen. Die erste Säule ist das Buch des ungarischen Schriftstellers György Dalos („Lebt wohl, Genossen! – Der Untergang des sowjetischen Imperiums). Dieses wurde in Kooperation mit dem französischen Drehbuchautor Jean-Francois Colosimo und dem russischen Regisseur Andrei Nekrasov filmisch umgesetzt und stellt den zweiten Pfeiler dar. Als dritte Säule ist eine fünfsprachige interaktive Website entstanden, die von persönlichen Geschichten über Freundschaft, Leidenschaft und Rebellion erzählt (http://www.farewellcomrades.com/de/). Alle drei Formate bestehen unabhängig voneinander.

Die Dokumentation führt in viele Teile des ehemaligen Ostblocks: Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei, Russland... - Insgesamt wurden 14 Länder bereist und nach Angaben des Senders bis zu 360 Stunden Archivmaterial aus 33 Ländern gesichtet. Dabei stellen Zeitzeugenberichte das eigentliche Quellenmaterial dar. Mehr als 70 Protagonisten kommen zu Wort. Gleichzeitig soll ein umfassendes Set von Interviewpartnern einen tiefen Einblick in die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten geben. So gibt ARTE neben namhaften Politikern, Schriftstellern, Professoren, auch Gewerkschaftsanhängern, Veteranen, Arbeitern, Musikern und Dissidenten eine Stimme. Es wird also keine Sicht von Außen dargeboten. Der Film lässt die Zeitzeugen selbst sprechen. Zu den besonders sehenswerten und interessanten Quellen gehören die privaten Archivfotos, die Aufnahmen regimekritischer Lieder und Ausschnitte aus Filmen sowjetischer Produktion. Der thematische Bogen spannt sich von der Darstellung der Eliten und ihrer Machtrituale bis hin zum Alltagsleben des „Normalbürgers“ und zeigt die Macht der Medien, die einen wesentlichen Anteil am Untergang der Sowjetunion hatten.

„Das ist das Ende.“ Mit diesen Worten begibt sich ARTE mit uns auf eine Zeitreise in sechs Etappen. Der Auftakt wird durch einen „Machtrausch (1975-79)“ der ZK-Elite charakterisiert. Siegestrunken sonnt sich die Sowjetunion 1975 im Glanz ihrer eigenen Macht. Der KSZE-Prozess wird dabei lediglich als eigene Bestätigung interpretiert. Doch mit Abschluss der Schlussakte von Helsinki fand eine beispiellose Bewegung der geistigen Freiheit statt. In chronologischer Reihenfolge werden die folgenden Jahre durchlaufen, bis letztendlich der „Kollaps (1990-91)“ den Höhepunkt bildet.
Der deutsch-französische Fernsehsender versucht Antworten zu finden: Wie konnte es dazu kommen, dass das größte Imperium des 20. Jahrhunderts sich kampflos ergab? Wie konnte es geschehen, dass eine Ideologie in so kurzer Zeit an Bedeutung verlor?

Der rote Faden der Sendereihe ist ein Gespräch zwischen Vater und Tochter. Auf der einen Seite der Vater, der in eine Welt der Siegesgewissheit des unbeirrbaren Glaubens an die historische Aufgabe hineingeborenen wurde, und mit dem Untergang der Sowjetunion und des Sozialismus nicht nur eine politische Zäsur, sondern auch eine Niederlage der „großartigsten Idee seit dem Christentum“ erkennt. Doch der „Sozialismus ist tot und begraben, für alle Zeiten. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen!“ - gesteht sich der Vater resigniert ein.
Auf der anderen Seite steht seine Tochter, die ihm mit der hartnäckigen Aufforderung zur Auseinandersetzung mit der Geschichte entgegentritt.

Das Crossmedia-Projekt beschränkt sich nicht nur auf die Sendereihe, sondern wird im Internet fortgesetzt. In den hier dokumentierten Archivmaterialien kann sich der Interessierte in unterschiedlichen Themengebieten zusätzlich informieren. Neben bekannten Themen wie (Kalter) Krieg, Diktatur und Flucht bekommt man auch Informationen zu Themenbereichen des Alltags: Liebe, Reisen, Minderheiten und Alkohol.