von Jens Brinkmann

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1. August 2011

Das Berlinale-Forum ist seit über 40 Jahren Seismograph und Gedächtnis des unabhängigen internationalen Films. Die Arbeit der Veranstalter vom Berliner Arsenal erschöpft sich nicht im hektischen Festivalbetrieb – mit Verleih, Archiv und filmgeschichtlicher Dokumentation ist das Forum bis heute ein maßgeblicher Teil der deutschen und internationalen Filmkultur. Ein Blick in die Geschichte der interessantesten Berlinale-Sektion, die mit einer internationalen Festivalrebellion um 1968 beginnt.

Am Anfang steht ein Eklat. Auslöser ist der Film „o.k.“ von Michael Verhoeven, der 1970 im Wettbewerb der Berlinale steht und einen belegten Fall von Vergewaltigung und Mord an einer Vietnamesin durch amerikanische GI’s als Anti-Kriegs-Parabel nach Bayern verlegt. Die Jury unter Leitung des US-Regisseurs George Stevens hält den Film nicht für festivaltauglich: „O.K.“ sei kein Beitrag zur „Verständigung und Freundschaft unter den Völkern“, wie es das Reglement vorsehe, schreibt Stevens an Kultursenator und Festivalleitung. Filmemacher, Journalisten und Teile der Festivalöffentlichkeit reagieren empört. Sie kritisieren den „Zensur“-Versuch und den Eingriff der Jury in die Programmautonomie des Auswahlkomitees. Die Festivalleitung ist mit der Situation sichtlich überfordert: Durch ihre zögerliche Haltung verstärkt sie noch den Unmut bei den Verteidigern des Films, die den Zoo-Palast besetzen. Immer mehr Regisseure ziehen ihre Filme zurück und boykottieren den Wettbewerb. Am Ende tritt die Jury zurück, und Senator Werner Stein (SPD) muss das Festival abbrechen. „O.K. schlägt die Berlinale k.o.“, schreibt die FAZ am 7. Juli 1970. Das einzige deutsche Filmfestival von internationalem Rang, 1950 auf US-amerikanische Initiative als „Schaufenster zur freien Welt“ in der Frontstadt des Kalten Kriegs gegründet, steckt in der Krise.[1]

„O.K. war 1970 der Funken im Pulverfass“, sagt rückblickend Ulrich Gregor, von 1971 bis 2000 Sprecher und Leiter des Forums.[2] Die Berliner Festivalrebellion kam vergleichsweise spät, und sie hatte ausländische Vorbilder. In Cannes hatten im Mai 1968 Jean-Luc Godard, Louis Malle, François Truffaut und andere die Filmvorführung im großen Saal des Palais des Festivals gesprengt und einen Abbruch der Festspiele durchgesetzt, um sich mit den streikenden Arbeitern und Studenten in Paris zu solidarisieren. Im Sala Grande in Venedig protestierten im August 1968 Regisseure wie Bernardo Bertolucci und Pier Paolo Pasolini gegen die faschistische Tradition des italienischen Festivals. Die Filmemacher und mit ihnen eine Bewegung junger Filminteressierter fühlten sich jener Jugendrevolte verbunden, die mit Parolen wie „L’imagination au pouvoir“ auch Bilder und Phantasiewelten beschwor, die dem Medium Film und dem Imaginationsort Kino nahestanden.[3] In ihren Augen sperrten sich die von „Filmindustrie und Establishment“ (Gregor) kontrollierten großen Festivals gegen die vielfältigen neuen Bewegungen, Themen und Formen des internationalen Films, die sich bereits seit Ende der 1950er Jahre entwickelten: „Damals überließen A-Festivals wie die Berlinale die Programmgestaltung weitgehend der Filmwirtschaft oder folgten deren Empfehlungen“, sagt Gregor.[4]

Wie in Cannes führen die Proteste in Berlin zu einer grundlegenden Programmreform. Während an der Croisette 1968 die unabhängige Sektion Quinzaine des Réalisateurs gegründet wird, ist der Abbruch der Festspiele in Berlin 1970 die Geburtsstunde des Internationalen Forums des jungen Films. Nach dem Vorbild der Quinzaine soll es nun eine wettbewerbslose Plattform für den internationalen Avantgarde-Film, für unabhängige und marginale Produktionen auch aus ärmeren Ländern sowie für die Vielfalt filmischer Formen vom Dokumentar- bis zum Experimentalfilm geben. Die Festivalleitung um Alfred Bauer, seit 1950 Direktor der Berlinale, tritt auf eine Gruppe von Kritikern zu, die dem 1963 gegründeten Verein „Freunde der deutschen Kinemathek“ angehören. Sie werden mit der Konzeption und Durchführung der neuen Sektion neben dem eigentlichen Wettbewerb beauftragt. Die Kritiker des „Mainstream“-Festivals werden nun in die Berlinale integriert.

Die Freunde um das Filmkritikerpaar Ulrich und Erika Gregor blicken 1970 bereits auf mehrere Jahre der unabhängigen Filmarbeit zurück: Inspiriert und begleitet vom Aufbruch junger deutscher Filmemacher (Oberhausener Manifest 1962) und von neu entstehenden Filmclubs an den Universitäten sehen sieeinen „Bedarf nach Neuem, Ungeahntem, Künstlerischem wie Politischem“[5]. Sie entdecken das Hollywood-unabhängige „New American Cinema“, die agitatorischen Dokumentarkurzfilme der Franzosen (Ciné-tracts), den lateinamerikanischen Film. Sie bemühen sich um Untertitelungen, präsentieren die neuen Filme dem filminteressierten Publikum in Berlin, bauen einen Verleih auf. Sie wollen vergessene Kinematografien bekannt machen: 1968 veranstalten sie etwa eine Retrospektive zum sowjetischen Avantgarde-Film der 1920er Jahre. Im Jahr 1970 erfüllt sich mit dem Arsenal am Wittenbergplatz der Wunsch nach einem eigenen Kino, und im selben Jahr wird bereits ein vielfach gelobtes Alternativprogramm zur Berlinale geboten.

Die Entstehungsgeschichte prägt das Selbstverständnis des Forums: Die knapp zwei Dutzend Cineasten, die das Programm bei zugesicherter finanzieller Autonomie zusammenstellen, wollen eine Alternative zum starfixierten Wettbewerb bieten, ein „Gegen-Festival, Anti-Festival“ (Süddeutsche). Gleich im Premierenjahr 1971 werden 40 Filme gezeigt, die bisher keinen Platz auf den Festivals hatten: „Ein nahezu ideales Ergebnis des Anfangs“, konstatierte anerkennend die Süddeutsche Zeitung: „[…] extreme, radikale Filme über Wirkliches, Kontrollierbares, geschichtlich, soziologisch, politisch Fassbares“ und „der radikale Film über Unwirkliches, frei Geträumtes, Geschichtsloses“.[6]

In den Filmen des Forums spiegeln sich die Themen der Zeit, die Perspektiven und Wahrnehmungen des bewegten Teils der jungen Generation: Filme über Kolonialpolitik und die politische Situation in Lateinamerika, über die Black Panther in den USA, über Fabrikarbeiterstreiks in Italien und algerische Arbeiter in Frankreich. Rosa von Praunheims für die Schwulenbewegung bahnbrechender Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt feiert 1971 im Forum seine Premiere. Edgar Reitz und Alexander Kluge sind vertreten. Neuen Formen des Erzählens wird breiter Raum gegeben. Die Kritik im Premierenjahr ist einhellig: „Die Berlinale fand auf dem Forum statt“, schreibt die Welt, für die FR wird das Forum „zur wichtigsten Veranstaltung der Berlinale“. Im Vergleich war der Wettbewerb „durchaus vergessenswert“, urteilt die Süddeutsche.[7] Viele Kommentatoren meinen, das Forum habe mit seinen neuen Impulsen die Berlinale nach dem Abbruch 1970 gerettet.

Im Forum erlebten viele Filme, die heute als Klassiker des Weltkinos angesehen werden, ihre internationalen Premieren – darunter Angelopoulos‘ Rekonstruktion (1971), Tarkowskijs Stalker (1981), Kaurismäkis Ariel (1988), Béla Tarrs Satanstango (1994). Am Anfang standen häufig noch unbekannte Namen aus kaum beachteten Weltregionen, nichtkommerzielle Produktionen, die mangels Aufmerksamkeit und Vertrieb das internationale Publikum nicht erreichten. So fanden etwa Filme des malischen Regisseurs Souleymane Cissé, heute einer der renommiertesten Filmemacher Afrikas, den Weg ins Festival.[8] Viele Regisseure blieben auch am minoritären Rand, fanden nicht in die Erfolgsspur – darum ging es den Forumsmachern auch gar nicht: Die Filme überhaupt zu zeigen, sie in ihrer Vielfalt erst einmal sichtbar zu machen, sahen sie als ihre Hauptaufgabe. Zu den großen Entdeckungen gehörte in den 1980er und 1990er Jahren das heute vielbeachtete asiatische Kino. Einen Wong Kar-Wai schätzte man hier lange vor seinen Welterfolgen. 1996 machten asiatische Produktionen ein Drittel des inzwischen auf fast 80 Filme angewachsenen Forumprogramms aus. Darunter waren auch Filme aus Burma, die – wie auch die Filmkopien aus anderen Diktaturen – auf mühsamen, abenteuerlichen Wegen nach Berlin geholt werden konnten. Bei aller, manchmal dogmatischen Ablehnung des „Kommerzkinos“ bemühte man sich, die Entwicklungen in den Filmländern in ihrer Breite zu repräsentieren: „Filme sollen Erkenntnisträger sein, Fenster, durch die man anderes betrachtet. Es ist wichtig, dass man das Gesamtspektrum der Kinematographie betrachtet, und da gibt es auch in den populären Genres des asiatischen Kinos manchmal faszinierende Entwicklungen“,[9] so Ulrich Gregor.

Es ist diese von Filmkennern anerkannte Rolle als „Seismograph der Entwicklung der Filmproduktion“, als „Gedächtnis des Kinos der 70er, 80er, 90er ff. Jahre“,[10] die das Forum zu einem Quellenfundus nicht nur der Film-, sondern auch der Zeitgeschichte werden lässt. Die Forumsmacher verstanden ihre Arbeit als umfassende Dokumentation von Filmkultur auch in ihrer historischen Dimension. Dazu gehörte die filmgeschichtliche Gedächtnisarbeit, die Restaurierung und Rekonstruktion etwa des Weimarer Kinos der 1920er Jahre. Vergessene, einst verbotene oder übersehene Filme aus der Zwischenkriegszeit werden für das Berliner Publikum wiederentdeckt, untertitelt und mit neuen Filmen in Beziehung gesetzt. Im Premierenjahr 1971 waren das Wertows Ein Sechstel der Erde (UdSSR 1926), Buñuels L’age d’or (F 1930), Renoirs La vie est à nous (F 1936) oder Viscontis Ossessione (I 1942). Es ging nicht um nostalgische Retrospektiven, sondern um „Filmgeschichte als lebendigen, unabgeschlossenen, in die Gegenwart kontrovers fortwirkenden Prozess“, so der Medienhistoriker Michael Wedel.[11] Zugleich bemühte man sich um Filme, die sich explizit der historischen Erinnerung widmeten: „Das Forum nahm früh die Rolle des Chronisten an, sein Publikum jährlich mit den relevanten Filmproduktionen zur Geschichte der größten Katastrophe dieses Jahrhunderts bekannt zu machen“, sagt der Filmhistoriker Ronny Loewy.[12] Prominentestes Beispiel dafür ist gewiss die deutsche Premiere von Claude Lanzmanns Shoah, das zentrale Ereignis des Forums 1986.[13] Zur Ausstellung „Jüdische Lebenswelten“ im Martin-Gropius-Bau 1992 stellten die „Freunde der deutschen Kinemathek“ ein 120 Filme umfassendes Begleitprogramm zusammen.

Von Anfang an war das Forum ein Ort des Dialogs zwischen den Filmemachern und der am Film interessierten Öffentlichkeit. Im Anschluss an die Vorführungen finden stets Diskussionen mit den Regisseuren statt. Dem Publikum werden in aufwendiger Dokumentationsarbeit Hintergrundtexte für eine vertiefende Auseinandersetzung mit den Filmen und ihren Produktions- und Rezeptionsbedingungen geboten. Das Interesse an der Verbreitung der Kinematografien erschöpfte sich auch nicht in der kurzlebigen Festivalpräsentation. Die Filme wurden angekauft und über den Arsenal-Filmverleih bundesweit verfügbar gemacht. So gingen vom Forum entscheidende Impulse für die Entwicklung der Kommunalen Kinos und Filmclubs aus, deren Arbeit bis heute in weiten Teilen vom Bestand des Arsenals[14] getragen wird. Die auch internationale Bedeutung dieses Filmarchivs verdeutlicht eine atemberaubende Entdeckungsgeschichte aus den 1990er Jahren: Chilenische Dokumentarfilmer hatten zwischen 1968 und 1973 die soziale Misere ihres Landes auf 16mm gebannt. Unter dem Pinochet-Regime waren alle Filmkopien der Unidad Popular verbrannt worden. Erst 1994 erfuhren die betroffenen Regisseure, dass ihre Filme noch existierten: im Arsenal-Archiv in Berlin.[15]

 


[1] Vgl. Zwischen Barrikade und Elfenbeinturm. Zur Geschichte des unabhängigen Kinos. 30 Jahre internationales Forum des Jungen Films. Hrsg. von den Freunden der Deutschen Kinemathek, Berlin 2000, S. 8ff, 20ff. Zur Geschichte der Berlinale ausführlich: Wolfgang Jacobsen: 50 Jahre Berlinale, Berlin 2000; Heide Fehrenbach: Cinema in Democratizing Germany. Reconstructing National Identity After Hitler, Chapel Hill 1995, S. 234-253.
[2] Ein Festival ist eine Bühne. Erika und Ulrich Gregor im Gespräch mit Nicolaus Schröder. In: Zwischen Barrikade und Elfenbeinturm, S. 24f.
[3] Vgl. z.B. Margaret Atack: May 68 in French Fiction & Film. Rethinking Society, Rethinking Representation, Oxford 1999.
[4] Ein Überblick zum modernen Film ab 1960 findet sich in: Geoffrey Nowell-Smith (Hg.): Geschichte des internationalen Films, Stuttgart 1998, S. 421ff.
[5] Heiner Roß: Für ein Gedächtnis des Kinos – die Filme, das Forum, der Verleih. In: Zwischen Barrikade und Elfenbeinturm, S. 8.
[6] Alf Brustellin: Show der Extreme. In: Süddeutsche Zeitung, 8. Juli 1971.
[7] Zwischen Barrikaden und Elfenbeinturm, S. 26ff.
[8] Jean-Marie Téno: Die Kunst, die Wirklichkeit zu zeigen. Über Baara von Souleymane Cissé. In: Dialoge mit Filmen. 4 Jahrzehnte Forum, hrsg. vom Arsenal, Berlin 2010, S. 40-49.
[9] Wenn Pop und Avantgarde eins werden. Erika und Ulrich Gregor im Gespräch mit Nicolaus Schröder. In: Zwischen Barrikade und Elfenbeinturm, S. 116.
[10] Heiner Roß: Für ein Gedächtnis des Kinos, S. 13.
[11] Michael Wedel: Forum der Filmgeschichte. In: Zwischen Barrikade und Elfenbeinturm, S. 39-43.
[12] Ronny Loewy: Das Forum als Chronist der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts. In: Zwischen Barrikade und Elfenbeinturm, S. 136f.
[13] Zur Rezeption von Shoah auf der Berlinale: Zwischen Barrikade und Elfenbeinturm, S. 102ff.
[14] Im Jahr 2008 benannten sich die „Freunde der deutschen Kinemathek e.V.“ in „Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V.“ um. Das Arsenal-Institut ist nicht nur Veranstalter des Berlinale-Forums, sondern betreibt auch den Filmverleih (Arsenal-Distribution), das Filmarchiv (Arsenal-Kollektion) und die beiden Arsenal-Kinos, die sich seit 2000 im Filmhaus am Potsdamer Platz befinden (Filmarbeit des Arsenals). Arsenal war bereits zuvor der Name des 1970 am Wittenbergplatz eröffneten Kinos der „Freunde der deutschen Kinemathek“. 
[15] Antje Schmelcher: Die bewahrten Zeugen Chiles. In: Die Welt, 18. September 1999.