von Martin Stallmann

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23. Mai 2017

„Wenn eine revolutionäre Kraft ihr erstes Jubiläum erreicht“, so schrieb die FAZ im Februar 1977 ironisch, „ist sie von der Geschichte besiegt worden“. Nun hätten die „Feiern zum zehnten Jahrestag der Studentenbewegung begonnen“.[1] Ausgangspunkt des FAZ-Artikels war die Fernsehreportage „Dr. Rudi Dutschke: Oder, der Versuch, eine Linke auf die Füße zu stellen“. Im Herbst 1976 hatte der prominente Dokumentarfilmer Roman Brodmann den ehemaligen Studentenführer bei einer Reise im süddeutschen Raum begleitet, auf der Dutschke versucht hatte, alte und neue Getreue zu versammeln – und dabei scheiterte. Wenige Monate später  konnten die Fernsehzuschauer dieses Scheitern auf der Mattscheibe verfolgen. Ein Fernsehkritiker erblickte in ihm einen „Wanderprediger“ sowie einen „Zentauren aus ehrenwertem Streben und Vergeblichkeit“.[2] Dr. phil. Dutschke schien aus der Zeit gefallen zu sein. Jedoch kehrte er in den folgenden Monaten, Jahren und Jahrzehnten immer wieder auf die bundesdeutschen Fernseher zurück, wenn es galt, an „1968“ zu erinnern. Mit ihm im Gepäck kam stets ein Kaleidoskop an Bildern, Klängen und Stimmen. Beim ersten Jubiläum war vieles gleich und doch alles anders.

1977/78: Zehn Jahre danach

Zunächst einmal war das bundesdeutsche Geschichtsfernsehen noch nicht einzig auf das Jahr 1968 fixiert, so dass man sowohl 1977 als auch 1978 den studentischen Protest thematisierte. Die Erzählroutine „1968“ musste sich bei den Fernsehjournalisten erst etablieren. Das Agenda Setting betrieben andere. Insbesondere ehemalige Protestakteure veröffentlichten 1977 etliche Dokumentensammlungen und Erinnerungsschriften über die bewegte Zeit. Für Fernsehjournalisten bildeten diese Publikationen einerseits die Informationsgrundlage, anderseits verdeutlichten die Bücher, dass es einen Markt für Protesterinnerung gab. Nachdem beispielweise der WDR-Redakteur Erhard Klöss das Vorwort einer solchen Schrift gelesen hatte, entwickelte er im Februar 1977 die Idee, in einer dreiteiligen Dokumentationsreihe die Auswirkung der Studentenbewegung auf Staat und Gesellschaft zu thematisieren; geplanter Ausstrahlungstermin war der Mai 1978. Die Reihe mit dem Namen „Fast eine Revolution“ nannte dem Publikum unter anderem „neue Formen der Politik, der Erziehung, des Zusammenlebens und der Liebe“ als Folgen der Protestbewegung. In dieser Perspektive war „1968“ insbesondere der Ausgangspunkt von Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozessen in der Bundesrepublik.

1978 sendeten auch Radio Bremen und der Hessische Rundfunk mehrteilige Dokumentationen. Allerdings sollte der HR-Fernsehbeitrag mit dem Titel „10 Jahre Studentenbewegung. Ideen, Aktionen, Wirkungen“ ursprünglich bereits im Oktober 1977 auf Sendung gehen. Nach der Entführung von Hanns Martin Schleyer stellten die Programmverantwortlichen den zweiteiligen Beitrag jedoch zurück, da er den Anforderungen der Zeit nicht mehr entsprochen habe. Beim ZDF wiederum widmete sich wenige Wochen nach dem „Deutschen Herbst“ eine Sendung mit dem Titel „Vor 10 Jahren: Aufstand der Studenten“ der Protestgeschichte. Dieser Fernsehbeitrag ist auch deswegen interessant, weil er vor Augen führt, wie vor vierzig Jahren der Sonntagvormittag ohne ZDF-Fernsehgarten aussah.

Die „linke Gefahr“ vermittelt mit dem „antikommunistischen Holzhammer“

Das Fernsehpublikum erwartete keine seichte Unterhaltung, sondern ein Wiedersehen mit dem Protest der späten 1960er Jahre. Im Rahmen der ZDF-Matinee fahndete der 90-minütige Fernsehbeitrag nach Verbindungslinien zwischen der Protestbewegung und der RAF. Während so manche Fernsehzuschauerin und so mancher Fernsehzuschauer noch am Frühstückstisch saß, warnte das ZDF vor der „roten Gefahr“:

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Standbilder aus Heinz Hemming/Karin Storch, Vor 10 Jahren: Der Aufstand der Studenten, ZDF vom 13. November 1977.

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Mithilfe eines Trickfilms erläuterten die verantwortlichen ZDF-Journalisten Karin Storch und Heinz Hemming den Zerfallsprozess der Protestbewegung. Dabei gingen sie auf die verschiedenen linken Strömungen ein und betonten das Bedrohungspotential für die bundesrepublikanische Gesellschaft. Die Trickfrequenz verknüpfte den SDS-Zerfall mit der „Zerschlagung unserer Staatsordnung“, wie es im Off-Kommentar hieß. Dabei zeichnete man das Bild einer linksextremen Einheitsfront, die im gemeinsamen Kampf sowohl den Staat als auch die Wirtschaftsordnung zerschlagen wolle. Zwar waren die einzelnen K-Gruppen in Wirklichkeit untereinander heillos zerstritten, jedoch stellte man dem Sie das ebenfalls kollektiv gedachte Wir gegenüber. Bemerkenswert ist, wie stark der Fernsehbeitrag durch die Inszenierung der „roten Faust“ auf die kommunistische Einheitssymbolik zurückgriff und gleichzeitig an die Bilderwelten des Antikommunismus anknüpfte. Ein Fernsehkritiker hatte gar den Eindruck, dass der Trickfilm aus einem „Schulungsfilm des Verfassungsschutzes entnommen“ sei und die „Didaktik des antikommunistischen Holzhammers wie aus einer CDU-Wahlwerbung“ habe.[3] Jedoch führten 1977 nicht nur alle Wege des Marxismus nach Moskau, wie die CDU auf Wahlplakaten 1953 gewarnt hatte – maoistische Pfade wiesen auch nach Peking.

Der ZDF-Fernsehbeitrag hatte die linken Splitterparteien und die RAF als die maßgeblichen Zerfallsprodukte der Protestbewegung in den Vordergrund gerückt. Der zehn Jahre zurückliegende Protest war für die ZDF-Journalisten nachhaltig diskreditiert. In einem Studiogespräch mit dem CDU-Politiker Richard von Weizsäcker und dem SPD-Politiker Horst Ehmke lautete die einleitende Frage: „Die Protestbewegung überdauerte knapp zwei Jahre, dennoch markiert sie einen wichtigen Einschnitt in der Nachkriegsgeschichte unseres Landes. Richtete sie nur Unheil an? Oder sehen Sie auch positive Folgen?“ Beide Politiker antworteten versöhnlich und relativierten das Bedrohungspotential. Sie betonten vielmehr, dass durch den Protest sowohl die Gesellschaft als auch ihre Parteien in positive Bewegung geraten seien. Ein Fernsehzuschauer sah dies ganz anders und machte seinem Ärger am Telefon Luft. Der ZDF-Telefondienst notierte in seinem Protokoll: „Wir seien Schweine, daß wir zum Volkstrauertag die Studenten und Terroristen verherrlichen würden.“[4] Mitnichten hatte der Fernsehbeitrag diese Intention. Vielmehr zeigt sich hier der Eigensinn von Fernsehzuschauern, das Gesehene in die eigene Weltsicht zu integrieren. In Zeiten des Terrors stand der ZDF-Beitrag ganz unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse. In dieser Perspektive hatte das damalige Bedrohungsgefühl in den späten 1960er Jahren seinen Anfang gefunden.

Das ORF sendet eine dreistündige Diskussion: „1968 – Das Jahr des Aufstandes“

Einige Monate nach dem ZDF-Beitrag vermaß eine Diskussionssendung ebenfalls die Vergangenheit und Gegenwart der Protestbewegung. Am Abend des 13. Juni 1978 redeten sich Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit, Matthias Walden und Kurt Sontheimer unter der Moderation von Günther Nenning die Köpfe heiß. Das Thema lautete „1968 – Das Jahr des Aufstandes“. Über drei Stunden sollte die Sendung dauern. Im bundesdeutschen Fernsehen ist sie in den zurückliegenden Jahrzehnten mehrfach wiederholt worden – und auch auf YouTube ist sie in voller Länge zu finden. Jedoch hatten die beiden ehemaligen Studentenführer, der Journalist Walden sowie der Politologe Sontheimer zunächst nur im österreichischen Fernsehen in der Sendereihe Club 2 diskutiert. Während des Gesprächs gingen beim ORF über 400 Anrufe ein. Das Branchenblatt epd/Kirche und Rundfunk fasste einige Stimmen folgendermaßen zusammen: „‚Genickschuß für Cohn-Bendit‘ lautete etwa ein Zuschauer-‚Vorschlag‘, oder: ‚Cohn-Bendit muß vergast werden‘, oder: ‚Der üble Geruch großmäuliger Juden dringt sogar aus dem Fernsehgerät‘, ‚Ins KZ mit diesem Gesindel‘, ‚Cohn-Bendit und Dutschke gehören aufgehängt‘.“[5]

Während man in Österreich noch über den zur Schau gestellten Antisemitismus der Telefonanrufer sprach, kam in der Bundesrepublik die Forderung auf, die Sendung ebenfalls ins Programm zu nehmen – was kurze Zeit später auch geschah. Der komplette Inhalt der Diskussionsrunde kann hier nicht referiert werden, jedoch sei auf die ORF-Mediathek verwiesen, wo man die Sendung anschauen kann. Da Dutschke am Heiligabend 1979 starb, war das erste Jubiläum von „1968“ das einzige, an dem er aktiv mitwirkte. Zehn Jahre nach dem Attentat vom 11. April 1968 erblickten die Fernsehzuschauer einen zwar gealterten, aber scheinbar vitalen Dutschke. In Jeans und Karo-Hemd legte er im Club 2 seine Positionen dar, womit er sich schon rein äußerlich von den Anzugträgern Walden, Sontheimer und Nenning unterschied. In der Sendung schnitt Dutschke mehrfach das Thema Meinungsvielfalt im bundesdeutschen Fernsehen an. Er behauptete unter anderem, dass es für ihn keine Möglichkeit gebe, sich öffentlich zu äußern: „keine Sau wollte uns haben“.[6]

Im österreichischen Fernsehen gerierte sich Dutschke als jemand, der in der Bundesrepublik nicht über seine Vergangenheit und Gegenwart sprechen dürfe. Dabei lagen ihm durchaus Anfragen vor. Für die WDR-Sendereihe „Fast eine Revolution“ war im Februar 1978 gar ein Kamerateam angereist, um mit Dutschke ein Interview zu führen. Allerdings verweigerte er im Anschluss die Freigabe der Filmaufnahmen. In einem Brief begründete er seine Entscheidung damit, dass von ihm „vorgeschlagene und ‚geforderte‘ Ablaufveränderungen der Serie als sinnvolle Korrektur“ nicht anerkannt worden seien.[7] Zwar tauchte Dutschke dadurch in der WDR-Sendereihe nicht als Zeitzeuge auf, jedoch kann man ihm seit dem Jahr 1976 zumindest eine gewisse Fernsehpräsenz attestieren. Diese hatte im November 1976 gar in die ZDF-Unterhaltungssendung „Das ist ihr Leben“ geführt, in der er als Überraschungsgast für Heinrich Albertz auftrat. Im Anschluss erhielt Dutschke prompt enttäuschte Briefe von ehemaligen Mitstreitern. In einem hieß es ironisch: „Mich würde interessieren, ob Rudi tatsächlich bei dieser Sendung gewesen ist, oder ob sich das Fernsehen die Frechheit erlaubt hat, ihn zu doubeln.“[8] Nein, er war es tatsächlich.

Binäre Logiken – Ausblick auf das Jahr 2018

Bei den folgenden Jubiläen rückten Erzählungen über die „68er-Generation“ immer stärker in den Vordergrund, wobei die Fernsehsendungen die Folgen von „1968“ häufig mit der bekannten Formel politisch gescheitert, kulturell erfolgreich umrissen.[9] Betrachtet man die Sendungen der Jahre 1977/78, so kristallisieren sich zwei dominante Lesarten des Protests heraus: Die Protestjahre markierten für die beteiligten Fernsehjournalisten einerseits einen Wendepunkt für gesellschaftliche Transformationsprozesse der Demokratisierung und Liberalisierung. Andererseits berichteten sie über den Protest als eine Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung und als Ausgangspunkt für den Terrorismus in der Bundesrepublik. Diese binäre Sichtweise – im Positiven wie im Negativen – wurde zentraler Bestandteil der bundesdeutschen Streitgeschichte um „1968“. Noch 2008 ließ Maybrit Illner ihre Studiogäste das Thema „Die ‚68er‘ – Befreier oder Zerstörer“ in binärer Logik diskutieren. Man darf auf das 50. Jubiläum von „1968“ im nächsten Jahr gespannt sein. Präsentiert uns das Fernsehen die bekannten Bilder und Geschichten, wobei die alten Jubiläumssendungen als Steinbrüche für die neuen Beiträge dienen. Oder gibt es tatsächlich noch etwas Neues an den Protestjahren zu entdecken?

 

Weitere Fernsehsendungen aus den Jahren 1977/78

1968 – Das Jahr des Aufstandes, HR vom 29. Juni 1978 (ORF vom 13. Juni 1978).
Reinhard Behm, 10 Jahre Studentenbewegung. Ideen, Aktionen, Wirkungen, HR vom 24. und 26. Mai 1978.
Roman Brodmann, Dr. Rudi Dutschke. Oder: Der Versuch, eine Linke auf die Füße zu stellen, ARD (SDR) vom 2. Februar 1977.
Heinz Hemming/Karin Storch, Vor 10 Jahren: Der Aufstand der Studenten, ZDF vom 13. November 1977.
Raimund Koplin/Renate Stegmüller, Fast eine Revolution, WDR vom 7., 14. und 21. Mai 1978.
Franz Wördemann, Vom Ende der Illusionen, ARD (Radio Bremen) vom 16., 20. und 21. Juli 1978.

 

 

[1] Hans Georg Puttnies, Miterlebt: Dr. Rudi Dutschke. Linkes Bürgertum, in: FAZ vom 4. Februar 1977, H. 29, S. 22.
[2] Christian Schultz-Gerstein, Erfolge in Promille, in: Der Spiegel vom 31. Januar 1977, H. 6, S. 129.
[3] Hans-Jürgen Benedict, Schamhaft versteckt, in: epd / Kirche und Rundfunk vom 19. November 1977, 89 /90, S. 20-21, hier S. 20.
[4] Informations- und Presseabteilung, Protokoll des Telefondienstes, am Sonntag, dem 13.11. 1977 von 10.00 bis 13.30 Uhr, ZDF-Matinee: Aufstand der Studenten, HA ZDF.
[5] Dutschke und Cohn-Bendit erregen die Österreicher, in: epd/Kirche und Rundfunk vom 21. Juni 1978, H. 46, S. 12.
[6] Peter Mosler, Was wir wollten, was wir wurden. Studentenrevolte, 10 Jahre danach, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 69.
[7] Rudi Dutschke, Schreiben an Erhard Klöss, HA WDR, H. 8741.
[8] Brief von Peter Klein an Rudi Dutschke, zit. n. Gretchen Dutschke, Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben. Rudi Dutschke, Köln 1996, S. 390.
[9] Siehe zu den folgenden Jubiläen auch Martin Stallmann, Die Erfindung von „1968“. Der studentische Protest im bundesdeutschen Fernsehen 1977-1998, Götting 2017.