von Jan-Hendrik Schulz

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1. Mai 2007

1. Gründung und Formierung einer Stadtguerillagruppe (1970–1972)
 
Baader-Befreiungs-Aktion (14. Mai 1970)
 
Die Aktion gilt als Gründungsdatum der RAF.
 
Logistische Vorbereitungen und Ideologisierung (Sommer 1970 bis Mai 1972)
 
Nachdem sich RAF-Mitglieder im Sommer 1970 einer paramilitärischen Ausbildung in Jordanien unterzogen hatten, kehrten sie in die Bundesrepublik zurück und organisierten die Logistik einer aktionsfähigen Stadtguerilla: Dazu gehörten die Rekrutierung von Mitgliedern, die Fälschung und der Diebstahl von Pässen, der Diebstahl von Fahrzeugen und Banküberfälle, um den Lebensunterhalt der in der Illegalität lebenden RAF-Mitglieder zu finanzieren. Im April und Mai 1971 erschienen die ersten RAF-Strategiepapiere „Das Konzept Stadtguerilla“ und „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“.
 
„Mai-Offensive“ und Verhaftungswelle (Mai bis Juli 1972)
 
Die Anschläge auf Einrichtungen deutscher Behörden und in der Bundesrepublik stationiertes US-Militär, auf das Springer-Verlagshaus in Hamburg und den Richter Buddenberg markierten als „Mai-Offensive“ den vorläufigen Höhepunkt terroristischer Aktivität der RAF. Die Gruppe versuchte die Anschläge als Unterstützungsaktionen für den Vietcong und als Protestaktionen gegen die Haftbedingungen der RAF-Inhaftierten zu legitimieren. Während die Anschläge auf US- und Behördeneinrichtungen in einigen Bevölkerungskreisen noch akzeptiert werden konnten, wurden der Individualanschlag auf Buddenberg, bei dem versehentlich dessen Ehefrau schwer verletzt wurde, und der Anschlag auf den Springer-Verlag, bei dem 17 „Arbeiter“ verletzt wurden, stark kritisiert. Die Sympathien in der bundesrepublikanischen Bevölkerung für die RAF standen nach der „Mai-Offensive“ auf einem Tiefpunkt, und der Fahndungsdruck der Behörden wurde verstärkt. Aufgrund dieser Faktoren kam es schließlich zu den Verhaftungen der RAF-Gründungsmitglieder im Juni und Juli 1972 – ohne Hinweise aus der Bevölkerung wären die Festnahmen nicht denkbar gewesen. Die Verhaftungswelle kennzeichnete das Ende der illegalen Aktivität der „Ersten Generation“.
 
 
2. Die „Gefangenenfrage“. Von Hungerstreiks über die „Stockholm-Besetzung“ in den „Deutschen Herbst“ (1973–1977)
 
Organisation einer „Knastkampagne“ (Januar 1973 bis April 1975)
 
1973 entdeckte die RAF das Mittel des Hungerstreiks, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Während des dritten kollektiven Hungerstreiks starb das RAF-Mitglied Holger Meins am 9. November 1974 an den Folgen der Unterernährung. Das Ereignis erregte bundesweites Aufsehen und löste in der gesamten Bundesrepublik Proteste aus. Die RAF erhielt breite Sympathiebekundungen und personellen Zulauf. Nach dem Tod Meins’ tauchte dessen Rechtsanwalt Siegfried Haag unter und plante den Aufbau einer eigenen Gruppe, um die RAF-Inhaftierten zu befreien. Am 4. Dezember 1974 besuchte der französische Philosoph Jean-Paul Sartre Andreas Baader in der JVA Stuttgart und sprach in einer Pressekonferenz von „Isolationsfolter“ – neben Meins’ Tod einer der größten Propagandacoups der RAF-Inhaftierten. Die RAF und ihr Umfeld erhielten in der Folgezeit weiteren personellen Zulauf.
 
Eskalation der „Knastkampagne“ und Instruktion der „Zweiten Generation“ während des „Stammheim-Prozesses“ (April 1975 bis November 1976)
 
Die Gruppe um Siegfried Haag besetzte am 24. April 1975 die deutsche Botschaft in Stockholm. Die mit dem Überfall einhergehende Kaltblütigkeit der beteiligten RAF-Mitglieder – besonders bei der Ermordung der Attachés Andreas von Mirbach und Heinz Hillegaart – markierte eine neue Gewaltdimension, die die „Mai-Offensive 72“ übertraf. Die Tat stand in direktem Zusammenhang mit der „Gefangenenfrage“: Die Besetzer forderten die Freilassung von 26 Gesinnungsgenossen. Mit der unbeabsichtigten Detonation eines Sprengsatzes und der anschließenden Stürmung durch die Beamten scheiterte der erste und einzige Versuch der „Haag-Gruppe“, die Gründungsmitglieder zu befreien. Im November 1976 wurde Haag verhaftet.
Während des „Stammheim-Prozesses“ wurde Ulrike Meinhof von Gudrun Ensslin und Andreas Baader immer weiter ausgegrenzt: Die RAF-Führung kritisierte öffentlich den Anschlag auf das Springer-Verlagshaus im Mai 1972, den hauptsächlich Meinhof zu verantworten hatte. Meinhof wurde schließlich am 9. Mai 1976 erhängt in ihrer Zelle aufgefunden; viele RAF-Sympathisierende glaubten an staatlichen Mord. Die Leitung der JVA Stuttgart erlaubte es der Gruppe um Baader, anstelle Meinhofs eine weitere Person zu wählen, die in ihrer Zelle inhaftiert werden sollte. Baader entschied sich für Brigitte Mohnhaupt. Von den Behörden unbemerkt, konnte Mohnhaupt nach Haag auf die Führungsrolle der „Zweiten Generation“ vorbereitet werden.
 
Die „Offensive 77“: Von den Ermordungen Siegfried Bubacks und Jürgen Pontos zur Entführung Hanns Martin Schleyers und der „Landshut“
 
Die im Juni 1972 festgenommene Brigitte Mohnhaupt wurde am 8. Februar 1977 aus ihrer Haft entlassen und reorganisierte die „illegale RAF“. Auf Anordnung Baaders ermordete die Gruppe um Mohnhaupt am 7. April den Generalbundesanwalt Siegfried Buback und am 30. Juli den Vorsitzenden der Deutschen Bank Jürgen Ponto. Ponto hatte vermutlich ursprünglich als Geisel genommen werden sollen; die Ponto-Tat kann in dieser Deutungsweise als Vorgängeraktion der Entführung Hanns Martin Schleyers am 5. September 1977 gewertet werden. Das Datum der Entführung Schleyers wird als Beginn des „Deutschen Herbstes“ bezeichnet, der, nachdem ein palästinensisches Kommando die Lufthansa-Maschine „Landshut“ entführt hatte, mit der Stürmung der Maschine durch die GSG9 am 18./19. Oktober endete. Die Konsequenz der „Niederlage 77“ war zum einen der Suizid der Gründungsmitglieder in Stammheim“, zum anderen die Ermordung Schleyers.
Insbesondere die Ereignisse des „Deutschen Herbstes“ stehen für eine neue terroristische Dimension, die vor allem auf der internationalen Ebene zu verorten ist. Die „Landshut“-Entführung, die scheinbar außerhalb der Kontrolle der inhaftierten RAF-Führung gelegen hatte – Baader hatte sich ausdrücklich von der Aktion distanziert – bedeutete einen ideologischen Bruch im Selbstverständnis der RAF: Dass Gewalt gegen Mallorca-Urlauber angewendet worden war, hatte dem Guerillagedanken der RAF („Dem Volk dienen“) in einem krassen Sinne widersprochen.
 
 
3. Neuformierungsversuche und zunehmende Isolation der RAF in der bundesdeutschen Gesellschaft (1978–1991)
 
Versuch einer Neustrukturierung und ideologischen Neuorientierung der Gruppe (Dezember 1978 bis November 1982)
 
In der Folgezeit der „Niederlage 77“ war die RAF mit einem erhöhten Fahndungsdruck der Behörden konfrontiert. Es kam zu Schusswechseln und Verhaftungen, bei denen Polizeibeamte und RAF-Mitglieder getötet und verletzt wurden. Im Sommer 1978 durchlief die Gruppe um Brigitte Mohnhaupt ein paramilitärisches Training in einem palästinensischen Lager im Jemen. Die Gruppe versuchte sich anschließend neu zu formieren und die Logistik für geplante Anschläge mit Überfällen zu finanzieren. Am 25. Juni 1979 missglückte der RAF ein Sprengstoffanschlag auf den NATO-General Alexander Haig; einige RAF-Mitglieder waren nach den Ereignissen des „Deutschen Herbstes“ und wegen der „Verluste“ in der Folgezeit demoralisiert. Inge Viett, die sich mit anderen Mitgliedern der „Bewegung 2. Juni“ im Frühjahr 1980 der RAF angeschlossen hatte, versuchte über ihre Beziehungen zum MfS in der DDR eine Lösung für die Ausstiegswilligen zu finden. Aus den Gesprächen mit Vertretern des MfS resultierte für einige RAF-Mitglieder die Möglichkeit, in der DDR mit neuen Identitäten unterzutauchen. Das MfS unterstützte des Weiteren die „kämpfenden“ RAF-Mitglieder mit paramilitärischen Trainings. Am 31. August und 15. September 1981 verübte die RAF Anschläge auf die US-Air Base in Ramstein  und auf den US-General Frederick Kroesen. In ihrem „Mai-Papier“ versuchte sie 1982 diese und künftige Anschläge als „Angriffe auf den militärisch-industriellen Komplex“ zu rechtfertigen; darüber hinaus verstand sich die Gruppe fortan als Avantgarde einer westeuropäischen „antiimperialistischen Front“. Wenig später entdeckten die Behörden in der Bundesrepublik Waffenlager der RAF und konnten Mohnhaupt und mehrere weitere RAF-Mitglieder verhaften. Die restlichen Mitglieder der „Zweiten Generation“, eine Gruppe um Helmut Pohl, wurden 1984 festgenommen, ohne dass sie weitere Anschläge verübt hatten.
 
Desillusionierung und Isolation der „Dritten Generation“ (Sommer 1984 bis April 1991)
 
Die „Dritte Generation“ der RAF – von ihr ist wenig bekannt – wurde vermutlich im Sommer 1984 aktiv. Ohne das „Mai-Papier“ aus dem Jahr 1982 kritisch zu hinterfragen, beging die Gruppe um Eva Haule, Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams auf der ideologischen Leitlinie ihrer Vorgängergeneration bis zum Jahr 1991 mehrere Mord- und Sprengstoffanschläge:
 
  • 18.12.1984: Versuchter Sprengstoffanschlag auf die NATO-Schule in Oberammergau       
  • 08.08.1985: Ermordung Edward Pimentals und Anschlag auf die US-Air Base in Frankfurt am Main
  • 09.07.1986: Ermordung von Karl-Heinz Beckurts
  • 10.10.1986: Ermordung von Gerold von Braunmühl
  • 20.09.1988: Versuchter Mord an Hans Tietmeyer
  • 30.11.1989: Sprengstoffanschlag auf Alfred Herrhausen
  • 01.04.1991: Ermordung Detlev Karsten Rohwedders 
 
Die zunehmende Brutalität und Kaltblütigkeit lösten in weiten Kreisen der Bevölkerung Entsetzen aus. Der Mord an dem US-Soldaten Pimental – dieser wurde aufgrund seiner ID-Card für die Rhein-Main Air Base getötet – wurde selbst unter RAF-Inhaftierten kurzzeitig als „Counteraction“ verstanden, bis die „illegale RAF“ sich dazu bekannte. Eine versuchte öffentliche Diskussion der Brüder von Braunmühls mit der RAF scheiterte. Die Gruppe reagierte auf die Einwände der Angehörigen nicht, was ihre Isoliertheit in der Bundesrepublik bestätigte.
Der Mord an Rohwedder 1991 war der letzte Individualanschlag der RAF; nach sieben Jahren „antiimperialistischer Politik“ schienen innerhalb der Gruppe erstmals Zweifel aufzukommen.
 
 
4. Deeskalationsbemühungen und Auflösungsprozess (Januar 1992 – April 1998)
 
Anfang 1992 erkannte Justizminister Kinkel, dass die „Gefangenfrage“ in der RAF nach wie vor Priorität besaß, und machte den Vorschlag, einige Langzeitinhaftierte der RAF sowie schwerkranke Gruppenmitglieder frühzeitig zu entlassen. Die „illegale RAF“ reagierte mit ihrem „April-Papier“ und kündigte an, die „Eskalation zurückzunehmen“. Wenig später befürwortete die einzige Überlebende der „Stammheimer Todesnacht“, Irmgard Möller, die Bestrebungen der „illegalen RAF“. In Teilen des RAF-Umfeldes wurde der Verzicht auf militante Aktionen kritisiert; es kam zu Demonstrationen für eine „Zusammenlegung der politischen Gefangenen“. In ihrem „Juni-Papier“ bekräftigte die „illegale RAF“ den Verzicht auf „bewaffnete Aktionen“, in ihrem „August-Papier“ räumte sie das Scheitern des im „Mai-Papier“ von 1982 propagierten „Front-Konzeptes“ ein. Die Celler RAF-Inhaftierten um Karl-Heinz Dellwo schlossen sich Ende Oktober 1992 den „Illegalen“ an. Die Mitglieder der „illegalen RAF“ unterstrichen ihre Deeskalationsstrategie mit einem Sprengstoffanschlag auf die JVA Weiterstadt am 27. März 1993 – offensichtliches Ziel der Aktion war die Verursachung von Sachschäden, ohne dabei Menschen zu verletzen. Drei Monate später ereignete sich der Zwischenfall in Bad Kleinen, bei dem Wolfgang Grams und der GSG9-Beamte Michael Newrzella zu Tode kamen. Im Oktober erklärten die „Hardliner“ um Mohnhaupt die Abspaltung von den „Celler Gefangenen“ und den „Illegalen“. Im November kritisierten die „Illegalen“ Mohnhaupts Erklärung als „Todesstoß der RAF“. Im März 1994 bekräftigen die „Illegalen“ ein weiteres Mal den Verzicht auf Anschläge und gaben als neues Ziel den Aufbau einer „Gegenmacht von unten“ an. In den Folgejahren wurden aufgrund der Kinkel-Initiative mehrere RAF-Inhaftierte entlassen; im April 1998 erklärten die „Illegalen“ das „Projekt RAF“ für beendet.