von Matthias Dahlke

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1. Mai 2007

1980 schien klar zu sein, dass politische Gewalt das vergangene Jahrzehnt geprägt hatte: „Histori- ans almost certainly will label the 1970s the decade of the terrorist. There were wars: guerilla wars, civil wars, and full-scale military contests. There were mad bombers, mass murderers, and mass suicides. It was, however, the political terrorist who dominated the headlines of the era.“[1] Heute jedoch bewerten nur wenige Historiker die terroristische Gewalt so hoch, dass sie zum Beispiel über den Analysebegriff „Sicherheit“ zum Leitthema einer deutschen und vielleicht transnationalen Geschichtsschreibung wird.[2] Jüngste Forschungen anhand von Fallbeispielen erhärten aber die Annahme, dass sich gerade im staatlichen Umgang mit Gewalt im Allgemeinen und mit Terrorismen[3] im Besonderen auch der strukturelle und ideelle Wandel von Herrschaft und Gesellschaft in der Scharnierzeit der 1970er-Jahre aufzeigen lässt.[4] Terrorismusgeschichte kann daher zu Recht als Teil einer umfassenderen Gesellschaftsgeschichte verstanden werden. Aber auch aus der Perspektive klassischer Politikgeschichte lässt sich der Terrorismus erforschen. Das im Angesicht terroristischer Gewalt entstandene Zerrbild eines „monolithisch“[5] agierenden Staates wird inzwischen übergreifend wissenschaftlich diskutiert. So hat zum Beispiel Klaus Weinhauer mit seinen Beiträgen zur polizeilichen Terrorismusbekämpfung erste wichtige Ansätze zur Binnendifferenzierung geleistet.[6]

 

Die Analyse des Verhältnisses staatlichen Umgangs mit nationalen und transnationalen Terrorismen liefert einen Querschnitt der Wahrnehmungen und Reaktionen. Dies erscheint umso interessanter, als dieser heute alltägliche Unsicherheitsfaktor sich damals erst entfaltete. Wie gingen die Regierungen seinerzeit mit Terroristen um? Differenzierten sie innerhalb der verschiedenen terroristischen Gruppen? Welche Rolle spielte die Dimension Raum in der Antiterrorismuspolitik? Wie lässt sich die allmähliche Durchsetzung dieses Unsicherheitsphänomens deuten? 

 

Um Entwicklungsprozesse und Beobachtungen zu verdeutlichen, soll nach einigen begrifflichen Überlegungen in einem chronologischen Abriss die Ausbreitung terroristischer Gewalt geschildert werden. Dabei kommt es vor allem darauf an, nationalen und transnationalen Terrorismus einerseits und die staatlichen Reaktionen darauf andererseits als einen großen, sich wechselseitig beeinflussenden Komplex zu verstehen. Da der Terrorismus der 1970er-Jahre ein globalgeschichtliches Phänomen war, darf auch der Blick über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus nicht fehlen. Die staatlichen Reaktionen in der Bundesrepublik sollen hier kursorisch anhand mehrerer terroristischer Meilensteine erläutert werden: der Anschlag auf die Olympischen Spiele 1972, die Terroristenbefreiung von Zagreb wenige Wochen später, die Entführung von Peter Lorenz 1975 und die Botschaftsbesetzung von Stockholm im gleichen Jahr. Diese Fälle von Geiselnahmen sind deshalb besonders aussagekräftig, weil hier – anders als bei vielen Sprengstoffanschlägen – eine Verhandlungsoption bestand. Diese zwang zu umgehenden Reaktionen, welche das staatliche Denken und Handeln der damaligen Zeit für den Historiker nachvollziehbar machen.  

 

  1. Terrorismus und Raum

 

Kurz vor dem 30. Jahrestag des so genannten „Deutschen Herbsts“ erlebt die Erinnerung und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Terrorismus in Deutschland eine Hochkonjunktur. Die meisten Studien beschäftigen sich ausschließlich mit dem deutschen Linksterrorismus, der zweifelsohne auch die Wahrnehmung der damaligen Zeitgenossen in der Bundesrepublik dominierte. Wichtige Komponenten für ein Gesamtbild bleiben dadurch jedoch außen vor. Geht man mit einem weiteren Blickwinkel an die terroristischen Ereignisse der frühen 1970er-Jahre heran, so stellt man schnell fest, dass ein nicht unerheblicher Teil terroristischer Gewalt in der Bundesrepublik, aber auch in den Nachbarländern, von transnational operierenden Terroristen verübt wurde.[7] Dies rückt die analytische Leitkategorie des Raums in den Vordergrund, die gerade in den letzten Jahren mit dem unscharfen Begriff „spatial turn“ in den Geistes- und Kulturwissenschaften sowie durch eine vermehrte Erforschung transnationaler historischer Phänomene ihre Anerkennung gefunden hat.[8]

 

 

Terrorismus war nie so abstrakt, wie es manche Politikwissenschaftler glauben machen möchten. Terrorismus wird von Menschen gemacht, die häufig weder nur rational noch nur irrational handeln. Jegliche wissenschaftliche Einteilung ist eine nachträgliche, künstliche, um mittels besonders hervorgehobener Charakteristika bestimmte Erkenntnisinteressen bearbeiten zu können. Angesichts einer Flut von Terrorismusdefinitionen hat Sebastian Scheerer es auf den Punkt gebracht: Die meisten Definitionen wurden „von bestimmten Personen für bestimmte Zwecke so formuliert, […] und während unterstellt werden kann, dass sie für das, was sie ermöglichen sollen, auch zweckmäßig sind, […] sollte niemand davon ausgehen, dass sie auch für etwas gut sind, wofür sie nicht gemacht wurden“.[9]

 

Statt einen essentialistischen Globalbegriff des Terrorismus zu verwenden, empfiehlt es sich daher, das Augenmerk auf konkrete Terrorismen zu legen, deren Wahrnehmung und Ausprägung über Zeit, Raum und Kulturkreis wandelbar sind. Auch die übliche Differenzierung nach Intentionen, Anschlagsarten, Binnenstruktur, Ausbreitungsgebiet oder Unterstützungsinfrastruktur (und vielen anderen Faktoren) ist problematisch. Denn nimmt man die Raumkategorie hinzu, verschwimmen die scheinbar scharfen Grenzen. Die wenigsten Terroristen machten an den völkerrechtlichen Grenzen eines Staates halt. 

 

Für den Historiker sind nationaler und transnationaler Terrorismus deshalb nicht sauber zu trennen, da terroristische Gruppierungen nicht nach wissenschaftlichen Kriterien agierten, sondern nach Erfolgsaussichten. Sicherlich hatten sich einige Gruppierungen fast ausschließlich auf Anschläge fern der Heimat spezialisiert, was unter anderem einen hohen logistischen Aufwand erforderte. Allerdings wiesen auch vorwiegend national agierende Terroristen wie die Rote Armee Fraktion (RAF) oder die italienischen Brigate Rosse schon im eigenen Sicherheitsinteresse ein hohes Maß an Mobilität auf, so dass der Sprung vom nationalen zum transnationalen Terroristen nur ein kleiner war.[10]

Der entscheidende Unterschied bestand jedoch für die den Terrorismus bekämpfenden Regierungen. Auch wenn die abstrakte Bedrohung für das staatliche Gewaltmonopol in jedem Falle die gleiche darstellte, hörte der direkte und legale Einfluss des einzelnen Staates in der Regel an den Landesgrenzen auf. Während nationale Terrorismen mit Sicherheitsorganen und Mitteln der Gesetzgebung einigermaßen direkt zu bekämpfen waren, brachten transnationale Terroristen einen viel höheren Zwang zur internationalen Vernetzung mit sich, zum Beispiel im Bereich der Geheimdienste, der Strafverfolgung und der politischen Konsultation. Auf eine abstrakte Formel gebracht, ging es hierbei um die Verschmelzung von Innerer Sicherheit und Außenpolitik – ein kritischer Punkt der in völkerrechtlicher Perspektive ‚postwestfälischen’ Dichotomie „zwischen dem Innen und Außen staatlicher Ordnung“.[11] Die (nicht absolute) Unterscheidung zwischen nationalem und transnationalem Terrorismus ist mit Blick auf die historische „Territorialisierung des Politischen“[12] aus Sicht der staatlichen Behörden also sinnvoll. 

 

  1. Von Benno Ohnesorg zu Olympia ’72

 

Als der transnationale Terrorismus im Herbst 1972 zusammen mit den Olympischen Spielen in Deutschland Einzug hielt, hatten die Verantwortlichen für die öffentliche Sicherheit das Schlimmste bereits hinter sich geglaubt. Im Juni 1972 war der Kern der RAF festgenommen worden, und damit war dem schleichenden Sicherheitsproblem scheinbar wirkungsvoll begegnet worden. Nachdem am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg von Berliner Polizeikräften erschossen worden war, hatten die gewaltsamen Proteste immens zugenommen. Die Frankfurter Kaufhausbrandstiftungen im April 1968, Proteste gegen den Vietnam-Krieg, die gewaltsame Befreiung Andreas Baaders 1970, Sprengstoffanschläge auch gegen alliierte Einrichtungen, Banküberfälle und Schießereien waren Stationen einer sich zunehmend radikalisierenden Protestbewegung, aber auch einer zunehmenden Unsicherheit, der die verantwortlichen Politiker etwas entgegensetzen mussten. Ein massiver personeller und finanzieller Ausbau der Bundessicherheitsbehörden in den frühen 1970er-Jahren sowie eine vom neuen Präsidenten des Bundeskriminalamts (BKA) Horst Herold forciert vorangetriebene Computerisierung waren die Kernelemente der Sofort- und Schwerpunktprogramme der Bundesregierung zur Inneren Sicherheit.[13]

 

Dass die Lage weitaus komplizierter war und nationaler und transnationaler Terrorismus in den späten 1960er-Jahren durchaus ein Phänomen von globaler Bedeutung wurde, schien nur einige Fachexperten zu beunruhigen, nicht aber die politisch Verantwortlichen. Statistiken registrierten allein 1969 und 1970 jeweils über 80 Flugzeugentführungen weltweit[14] – eine ungeheure Zahl, gemessen daran, dass in den 20 vorhergehenden Jahren nicht einmal 40 Entführungen gezählt wurden. Vor allem die palästinensischen Gruppen verstanden es in den frühen 1970er-Jahren, angesichts kaum existenter Gepäckkontrollen Flugzeugentführungen exzessiv zu nutzen.[15] Gleichzeitig wurde die westliche Welt von Attentaten und Sprengstoffanschlägen transnationaler Gruppierungen er- schüttert, die heute nur noch Experten bekannt sind – darunter kroatische, armenische, kurdische, persische, japanische und süd-molukkische Terroristen, deren Ziel es war, gerade in Drittländern fernab der Heimat politischen Einfluss für ihre Sache auszuüben. Auch wenn die Forschung zu diesem Thema noch in den Anfängen steckt, ist anzunehmen, dass die transnationale Vernetzung der Terroristen  deutlich  besser  war  als  die  Kommunikation  der  betroffenen  Regierungen,  deren Rechtseinfluss eben mit den Landesgrenzen aufhörte. Nationale Terrorismen wie der irische, baskische oder korsische Separatismus ließen sich noch einigermaßen direkt bekämpfen; länderübergreifende Terrorismen lösten aber derartig komplizierte und ungeklärte Zuständigkeiten aus, dass viele Regierungen sich eher auf das Hoffen denn auf das Handeln verlegten.

 

So waren im Herbst 1972 die Bundes- und Landesregierungen auf eine Verknüpfung von Innerer Sicherheit und Außenpolitik nicht vorbereitet.[16] Der gültige Erlass der Bundesregierung für die Einberufung eines interministeriellen Krisenstabs sah nur drei Formen von Krisen vor: „politisch- militärische Krisen“ im Sinne der äußeren Sicherheit (was auf die Erfahrungen mit dem sowjetischen Einmarsch in der ČSSR 1968 zurückging), „innere Unruhen“ und „Katastrophen“.[17]  

 

Als am 5. September 1972 acht arabische Terroristen der Gruppierung „Schwarzer September“ das Olympische Dorf überfielen und elf israelische Sportler in ihre Gewalt brachten, standen die Bundesregierung unter Willy Brandt und die formal zuständige bayerische Landesregierung nicht nur organisatorisch vor einem Dilemma. Auch wenn die Stäbe das Problem gern schnell gelöst hätten: Das israelische Kabinett von Golda Meir war nicht gewillt, wie gefordert 200 inhaftierte Palästinenser im Austausch gegen die elf Olympioniken freizulassen. Eine Erstürmung der Unterkünfte im Olympischen Dorf schied aus technischen Gründen aus,[18] so dass sich der politische Stab unter der

informellen Leitung von Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher auf das Verhandeln verlegen musste. Am Abend wurden die Terroristen zusammen mit den Geiseln zum Militärflughafen Fürstenfeldbruck geflogen, von wo aus sie gemeinsam nach Ägypten ausfliegen sollten. In Kairo, so hatte man den Terroristen gesagt, würden sie mit den Freigelassenen aus Israel zusammentreffen. Als sich die ägyptische Regierung nach persönlichem Telefonat mit Bundeskanzler Willy Brandt auf ein „we do not want to get involved“ festlegte,[19] blieb der Einsatzleitung kaum eine andere Wahl, als in buchstäblich letzter Sekunde den polizeilichen Zugriff anzuordnen. Das Magazin „Der Spiegel“ kommentierte: „Der Krisenstab […] geriet selbst in eine Krise.“[20] Mit nur fünf Scharfschützen und bei viel zu grell ausgeleuchtetem Flugfeld wurde das Feuer auf die acht Terroristen eröffnet. Nach langem Schusswechsel war gegen Mitternacht die Katastrophe erreicht. Während Regierungssprecher Conrad Ahlers im Fernsehen der Welt und den Angehörigen erklärte, dass die Geiselbefreiung geglückt sei, waren in Wirklichkeit alle elf Israelis, fünf Terroristen und ein Polizeibeamter ums Leben gekommen. Die betont „heiter“ geplanten Spiele, die der Welt eigentlich ein neues, modernes, geläutertes Deutschland zeigen sollten, wurden zwar nicht abgebrochen, gerieten mit den olympischen Halbmastflaggen und vermummten Terroristen im Olympischen Dorf aber zu einem visuellen Schockmoment.[21] Die CIA berichtete intern: „The Munich tragedy is a major blow to West Germany’s self-esteem.“[22] Zwar erschütterte der Anschlag in der Tat das Sicherheitsempfinden, doch blieb die öffentliche Aufmerksamkeit nur etwa zwei bis drei Wochen auf das Thema Terrorismus gerichtet. Zu den Bundestagswahlen im Herbst 1972 spielte transnationaler Terrorismus bereits keine Rolle mehr.[23]

 

  1. „Das Leben geht weiter!“

 

 

Während des Anschlags vom September 1972 wurden die Zuständigkeiten ad hoc entschieden und erst im Nachgang legitimiert. So meinte der Regierungssprecher, Bundesinnenminister Genscher sei angesichts der Sicherheitshoheit der Länder „keineswegs direkt zuständig gewesen“, die Verhandlungen mit den Terroristen zu führen; wohl aber wurde ihm hinterher eine „moralische“ Verantwortung attestiert.[24]

 

Die mittelfristigen Reaktionen auf den Anschlag zeugen von wenig Bereitschaft, das Thema trans- nationaler Terrorismus grundsätzlich auf die Agenda zu setzen. Zwar wurde die Spezialeinheit GSG 9, die sich 1977 in Mogadischu bewähren sollte, beschleunigt aufgebaut. Zudem wurden zwei in eher rätselhaftem Zusammenhang zu dem Anschlag stehende Palästinenserorganisationen verboten.[25] Ungeklärt blieben jedoch die komplizierten Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern, vor

allem zwischen Innen-, Justiz- und Außenministerium. Nur einen Tag nach dem Anschlag notierte der damalige Außenminister Walter Scheel: „Das Leben geht weiter!“[26] Dies war ein geradezu

symptomatischer Ausdruck für den weit verbreiteten Glauben an (oder das Hoffen auf) die Einmaligkeit eines solchen Vorfalls. Politisch wichtiger waren die anstehende vorgezogene Bundestagswahl 1972 und die damit verknüpfte „Neue Ostpolitik“. Für den Nahostkonflikt, der nun plötzlich und unerwartet in die Bonner Republik strahlte, blieb kein politischer Raum mehr. 

 

Wegen des Versagens des Sicherheitskonzepts entließ Golda Meir hochrangige Beamte; auf Bundesebene und in Bayern blieb hingegen alles beim Alten. Fehlverhalten konnten die Behörden nicht feststellen.[27] Während in der arabischen Welt bundesdeutsche Botschaften wegen des Verbots palästinensischer Organisationen besetzt wurden und zwischen Tripolis und Beirut Massenkundgebungen organisiert wurden –  mit der Begründung, es herrsche wieder „Pogromstimmung“  in Deutschland[28] –, verlegte sich das Außenamt auf die Strategie des Aussitzens. Die USA strengten multilaterale Verträge und eine Grundsatzdebatte vor der UNO zum Terrorismus an, doch die Bundesregierung schaffte es in den folgenden fünf Jahren nicht, eine geplante europäische Innenministerkonferenz zum Terrorismus einzuberufen. Außen- und Innenministerium gelang es nicht, die dafür notwendigen Kompetenzen zu bündeln; Eitelkeiten und Profilkämpfe standen im Weg. Als die Bundes- und Landesregierung einen offiziellen Untersuchungsbericht zu den Vorfällen von München veröffentlichte, der abermals jegliche Verfehlungen abstritt, wurde der politische Tonfall aus Tel Aviv, der sich bis dahin nicht dem vernichtenden medialen Echo („wieder fließt jüdisches Blut in Deutschland“, „München bei Dachau“[29]) angeschlossen hatte, deutlich schärfer. Durch den Chef des Mossad bestens informiert, der höchstwahrscheinlich während des Anschlags in München gewesen war,[30] hielt Ministerpräsidentin Meir vor der Knesset eine flammende Rede, in der sie der Bundesregierung Fahrlässigkeit im Umgang mit den Terroristen attestierte.[31] Dass die ohnehin schwierigen deutsch-israelischen Beziehungen dadurch einen Tiefstpunkt erreichten, wurde mehr oder weniger billigend in Kauf genommen. Die Bundesregierung verhielt sich weiter passiv. 

 

Ein zweiter Anschlag, nur wenige Wochen nach dem Überfall auf die Olympischen Spiele, traf die einberufenen Krisenstäbe fast genauso unvorbereitet wie der erste. Am 29. Oktober 1972 entführten abermals palästinensische Terroristen ein Flugzeug der Lufthansa von Beirut nach Zagreb. Bedingung für eine Beendigung der Geiselnahme war die Freilassung der drei inhaftierten und von den Schusswunden weitgehend genesenen Terroristen von München. Auch bedingt durch Kommunikationsprobleme, Eigenmächtigkeiten und nicht zuletzt mangelnden Handlungsspielraum im sozialistischen Jugoslawien ließen die Bundes- und Landesregierung die drei Terroristen wieder frei – für externe Beobachter etwas zu schnell. Damit gab es keinen Anlass mehr, sich etwa in einem Gerichtsprozess (der bei ersten Vorbereitungen als sehr kompliziert eingeschätzt wurde) auch öffentlich mit transnationalem Terrorismus auseinanderzusetzen. Günter Gaus schrieb im „Spiegel“ von „ein[em] Stück staatlich sanktionierte[m] Anarchismus“ und kritisierte, wie sehr der Austausch „vom erleichterten Aufatmen […] begleitet worden“ war.[32] Dass die Freilassung die Terroristen zu weiteren Taten ermuntern könnte, wurde zwar erkannt, angesichts des akuten Bedrohungsfalls aber als nachrangiges Risiko eingeschätzt. Der Wille zu unnachgiebigem Handeln war (noch) nicht vorhanden – ebensowenig der Wille, Außenpolitik mit Innenpolitik zu verknüpfen. 

 

  1. Nationaler Terrorismus nach Olympia ’72

 

Dass die Ereignisse von München und Zagreb auch auf den nationalen Terrorismus zurückwirkten, zeigt die RAF-Schrift „Die Aktion des Schwarzen September in München – Zur Strategie des anti- imperialistischen Kampfes“, die im November 1972 erschien. Diese Generalkritik am „Faschismus“ und „Imperialismus“, der sich in Fürstenfeldbruck demaskiert habe, pries den Anschlag als Vorbild: „Die westdeutsche Linke könnte an [dieser Aktion] ihre eigene politische Identität wiederfinden – Antifaschismus – antiautoritäres Lager – antiimperialistische Aktion.“[33]

 

Dennoch blieb der Aufruf zunächst unbeantwortet. Das folgende Jahr war vom Prozess gegen die RAF-Spitze bestimmt. Linksradikale, Medien und Politik diskutierten über Hungerstreiks, Isolationshaft und „sensorische Deprivation“,[34] Verteidigerausschluss und fehlende gesetzliche Bestimmungen. Internationale Ereignisse wie der Militärputsch in Chile 1973 oder die Nelkenrevolution in Portugal 1974 beschäftigten nicht nur die linke Szene. Zwar gab es weiter Anschläge transnationaler Terroristen in Westdeutschland, so zum Beispiel Sprengstoffanschläge auf Industrieanlagen,[35] doch  wurden  diese  kaum  wahrgenommen. International dominierten  vor  allem  wirtschaftliche Themen die Agenda: Ende des Währungssystems von Bretton Woods, hohe Inflation bei stagnierendem Wachstum sowie der mit dem israelisch-arabischen Jom-Kippur-Krieg verknüpfte Ölpreisschock, welcher den Nahostkonflikt wieder nach Deutschland trug. Auch Anschläge transnationaler Terroristen im Ausland wurden kaum beachtet und hatten, so zeigen es die zugänglichen Akten der Sicherheitsbehörden, nur marginalen Einfluss auf die Gestaltung des Krisenmanagements in der Bundesrepublik. Allein 1973, innerhalb eines halben Jahres, fanden diverse Terrorakte statt: die blutige Botschaftsbesetzung von Khartum, bei der unter anderem der US-Botschafter ermordet wurde,[36] Anschläge auf Flugzeuge und Flughäfen in Rom, Athen, Nikosia, Amsterdam, auf den Zug von Bratislava nach Wien und die saudische Botschaft in Paris – sowie zahlreiche verhinderte oder missglückte Versuche. Dem aufmerksamen Beobachter hätten diese Anschläge genügend Lehrmaterial für einen effektiven staatlichen Umgang mit Terroristen geben können. Als ein RAF- Kommando im April 1975 die deutsche Botschaft in Stockholm besetzte, bezog sich in den Krisenstäben niemand auf das Drama von Khartum. Gleiches gilt für die Regierungen anderer Länder wie etwa Österreich. Im September 1973 erpressten palästinensische Terroristen dort erfolgreich die Schließung eines Transitlagers für exilierte Sowjetjuden, nachdem sie den so genannten „Chopin- Express“ von Moskau nach Wien kurz hinter der Ost-West-Grenze überfallen und mehrere jüdische Reisende als Geiseln genommen hatten. Obwohl dieser Anschlag nur ein Jahr nach dem Anschlag von München stattfand, geben die detaillierten Wortprotokolle des außerordentlichen Ministerrats keinen Hinweis auf Rückbezüge. Kurzum, Walter Laqueurs erste von sechs unsterblichen Terrorismuslegenden trägt insbesondere für den transnationalen Terrorismus der frühen 1970er-Jahre: „Terrorism is a new, unprecedented phenomenon. For this reason its antecedents (if any) are of little interest.“[37]

 

  1. 1975 – Ein Schlüsseljahr des Terrorismus

 

Das einschneidende Jahr 1975, das westliche Medien das „Jahr des Terrorismus“ tauften,[38] warf seine Schatten bereits voraus. Als am 9. November 1974 Holger Meins während eines Hungerstreiks im Gefängnis starb, sann die linke Extremistenszene auf Rache für diese – aus ihrer Sicht – staatliche Hinrichtung. Nur einen Tag später wurde der Berliner Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann offenbar bei einem Entführungsversuch von der „Bewegung 2. Juni“ ermordet.[39] Am 27. Februar 1975 gelang es der Gruppe, den Berliner CDU-Landesvorsitzenden und Spitzenkandidaten für die kurz bevorstehende Abgeordnetenhauswahl, Peter Lorenz, zu entführen.[40] Nach

einiger Zeit tauchte die Forderung auf, alle bei einer Demonstration gegen den Tod von Holger Meins Inhaftierten freizulassen sowie sechs im Gefängnis einsitzende Linksextremisten, darunter allerdings keine Führungsfiguren der RAF, mit unbestimmtem Ziel ausfliegen zu lassen.  

 

Die Berliner Landesregierung und die (formal nicht zuständige) Bundesregierung sahen sich nach Olympia ’72 abermals einer scheinbar neuen Herausforderung gegenüber. Nicht nur die Entführung eines Politikers war ein Novum. Auch die Strategie der Terroristen, ausschließlich über die Medien zu kommunizieren, war eine neue Vorgehensweise. Sie machte jeden polizeilichen Zugriff von vornherein unmöglich. Aus ihrem Kreuzberger Versteck heraus konnten die Terroristen jegliche öffentliche Aktion der Polizei und der Krisenstäbe verfolgen und entsprechend reagieren. 

Die führenden Politiker befanden sich in einem Dilemma, so dass sich bald eine in Sicherheitsfragen höchst ungewöhnliche Koalition aus SPD und CDU/CSU ergab. In der CDU setzte sich schnell der Bundesvorsitzende und rheinland-pfälzische Ministerpräsident Helmut Kohl durch, der auch aufgrund seiner langjährigen privaten Freundschaft zu Peter Lorenz auf einem sofortigen Nachgeben bestand. Klaus Schütz, sozialdemokratischer Regierender Bürgermeister von Berlin, konnte seinen Kontrahenten Lorenz schon aus politischen Gründen nicht im Stich lassen. Mit Kohl zusammen gelang es ihm, den übergreifenden Krisenstab beim Bundeskanzler zu dominieren. Helmut Schmidt, der in der Frage der Sicherheit der Länder und insbesondere West-Berlins formal nur beratende Funktion hatte, konnte gegen diese sich abzeichnende Mehrheit kaum etwas ausrichten und verhielt sich – im Gegensatz zur medialen Wahrnehmung – fortan eher passiv. Der „Große Krisen- stab“, wie er in den Medien oft genannt wurde, war ebenfalls keine Innovation von Helmut Schmidt. Tatsächlich hatten schon Pläne von 1968 im Krisenfall die Einbeziehung der parlamentarischen Oppositionsführer, der Innen- und Justizministerkonferenzvorsitzenden sowie anderer Ländervertreter vorgesehen.[41] Nicht nur die Politiker, auch die Beamten der involvierten Ministerien

neigten zu einem präventiven Nachgeben. Wenn man in diesem Falle Lorenz preisgeben würde, so die Logik der damaligen Strategen, würden weitere, noch erpresserischere Anschläge zum Beispiel auf Schulkinder oder ausländische Diplomaten folgen, denen man sich schließlich nicht mehr würde entgegensetzen können. Alle vorherigen Opfer wären dann umsonst gewesen.[42]

 

Peter Lorenz, der in seinem „Volksgefängnis“ betont human behandelt wurde, gewann mit seiner Partei und dem nunmehr fast ironischen Wahlslogan „Mehr Tatkraft schafft mehr Sicherheit“ in Abwesenheit die Abgeordnetenhauswahlen. Als das Ultimatum der Entführer ablief, gaben die führenden Politiker der betroffenen Länder und des Bundes nach und ließen die inhaftierten Extremisten in ein bis dahin unbekanntes Land ausfliegen. An dieser Stelle übernahm das Auswärtige Amt die Führung der Krisenstäbe. Es arbeitete fieberhaft und offenbar ohne Bedenken daran, ein Aufnahmeland für die Freigelassenen zu finden. Angeblich hatten die deutschen Terroristen schon im Vorfeld über palästinensische Kontakte eine Aufnahme im sozialistischen Süd-Jemen organisiert, doch bedurfte es massiver Vermittlungsbemühungen und formaler Bitten aus dem Auswärtigen Amt, bis Süd-Jemen endlich einwilligte. Der ehemalige Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz, der zur Zeit der eskalierenden Schah-Demonstrationen 1967 im Amt war, begleitete die Be- freiten. Er erhielt in Aden einen codierten Text, den er nach seiner Rückkehr im deutschen Fernsehen verlas. Peter Lorenz wurde umgehend und unversehrt freigelassen – die Entführung war scheinbar noch einmal gut ausgegangen. 

 

Die schon im Entscheidungsprozess befürchtete Strahlkraft war immens. Die Nachgiebigkeit der Krisenstäbe hatte die Bewegung 2. Juni zu Helden der linken Szene gemacht. Daran konnte auch die lange Zeit erfolglose Großfahndung nach der Freilassung von Peter Lorenz nichts ändern. Nur einige Wochen später, am 24. April 1975, überfiel das RAF-Kommando „Holger Meins“ die deutsche Botschaft in Stockholm und verlangte die Freilassung von 26 Gesinnungsgenossen, darunter auch die Spitze der RAF.[43] Im Gegensatz zur Lorenz-Entführung forderte der Anschlag von Stockholm deutlich mehr Opfer. Zwei deutsche Diplomaten fanden den Tod, unter anderem auch wegen verstrichener Ultimaten.

 

Die politische Verantwortung für die Sicherung der Botschaften lag beim Bund. Mit der Aufhebung der ohnehin eher formalen Exterritorialität des Botschaftsgeländes in Stockholm überließ die Bundesregierung das weitere Handeln der überraschten Regierung des schwedischen Premiers Olof Palme. Eigens angereiste GSG 9-Beamte wurden aus Stockholm wieder abgezogen. Die Passivität der Bundesregierung wurde später als strategische Unnachgiebigkeit interpretiert. Sie ließ sich wohl auch nur deshalb durchhalten, weil der Anschlag von Stockholm durch eine gewaltige Explosion ein jähes Ende fand. Ob die schwedischen Sicherheitskräfte oder die Terroristen selbst die Explosion auslösten, ist bis heute ungeklärt. 

 

Die traditionelle Länderkompetenz in Sachen Innere Sicherheit verschob sich zunehmend in Richtung Bund. Die besondere Mobilität und das häufig hohe technische Wissen der neuen Terroristen erforderten eine zentrale Informationssammelstelle sowie eine Verbrechensbekämpfung auf technischer Augenhöhe. Neben vielen kriminal- und nachrichtentechnischen Neuerungen war die viel- leicht bedeutendste Änderung die Zentralfunktion des Bundeskriminalamtes (BKA) gegenüber den Landeskriminalämtern in der Terrorismusbekämpfung. Dies beschloss die Innenministerkonferenz kurz nach der Lorenz-Entführung. Am 5. Mai 1975 wurde eine spezielle Terrorismus-Abteilung des BKA in Bonn ins Leben gerufen, die immerhin 200 Mann Personalstärke aufwies und sich vorrangig um Fahndungsbelange kümmerte. Mit der neuen Kooperation der Polizeien und Verfassungsschutzorgane gelangen zunehmend Fahndungserfolge, doch blieben auch hier Reibungsverluste nicht aus. Zudem war die Gefahrenbewertung offenbar widersprüchlich. Die Verfassungsschützer schienen eher an sowjetischen Spionen denn an deutschen oder gar ausländischen Terroristen interessiert zu sein.[44] Auch auf politischer Ebene erhielten transnationale Terroristen oder zumindest

außenpolitische Komponenten des Terrorismus nach wie vor kein besonderes Augenmerk. Immer- hin fanden im Herbst 1975 die ersten deutsch-französischen Innenministerkonsultationen statt, unter anderem zum Thema grenzüberschreitende Verbrechensbekämpfung. Die zentrale Idee einer europäischen Ausweis-Union versandete dagegen schnell.[45]

 

Während in der Bundesrepublik der Stammheimprozess ab Mai 1975 Wellen schlug und weiterhin Brand-, Sprengstoff- und Mordanschläge sympathisierender, aber hauptsächlich deutscher Terroristengruppen verübt wurden, litten die Nachbarländer umso stärker unter dem transnationalen Terrorismus. In den Niederlanden kaperten süd-molukkische Terroristen einen Zug und besetzten das indonesische Generalkonsulat in Amsterdam. In Wien überfiel eine multinationale Terroristengruppe unter Führung des berüchtigten Venezolaners „Carlos“ und unter Beteiligung des Deutschen Hans-Joachim Klein die Ministerkonferenz der OPEC. 

 

1976 riss die Kette der Anschläge auf Bahnhofschließfächer, Gerichte, Botschaften, Flugplätze und andere symbolische Orte nicht ab. Prominentes Beispiel ist die Air-France-Flugzeugentführung in das ugandische Entebbe vom Juni 1976 unter palästinensisch-deutscher Beteiligung.[46] Als Ulrike Meinhof am 9. Mai 1976 in Stuttgart-Stammheim Selbstmord beging, lieferte dies die Grundlage für zahlreiche Vergeltungsaktionen, die ihren Namen trugen. Auch das Begründungsschreiben zum Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback am 7. April 1977 berief sich auf Meinhof. 

 

Als die Bundesrepublik die fortschreitende Gewalt des Jahres 1977 erlebte, hatte die Innere Sicher- heit längst die Gesellschaft polarisiert. Trotz der scheinbaren Erfolge von 1972 war ab 1974 das Bedrohungsgefühl gestiegen und mit ihm das Bedürfnis nach mehr Sicherheit. Erst nach 1977 kamen dann zunehmende Zweifel an der Datensammeltätigkeit des BKA auf; eine Maximierung von Sicherheit wurde nun auch als Risiko empfunden.[47] Das Selbstverständnis der Gesellschaft hatte sich,  wenn  auch  eher  partiell  bedingt  durch  terroristische  Anschläge,  von  einer  planbaren  Si- cherheits- zu einer krisengeschüttelten Unsicherheitsgesellschaft gewandelt – so zumindest die verbreitete zeitgenössische Wahrnehmung.[48]

 

  1. Nationaler und transnationaler Terrorismus

 

Wie der vorangegangene Überblick gezeigt hat, entwickelten sich nationaler und transnationaler Terrorismus in Deutschland und Westeuropa parallel; es sind Berührungspunkte und fließende Übergänge auszumachen. Dennoch bleiben etwa der deutsche und der palästinensische Terrorismus von unterschiedlicher Qualität, nicht nur im Hinblick auf ihre Mobilität. 

 

Mehrere Beispiele aus der Zeit bis zum „Deutschen Herbst“ haben gezeigt, dass die Verantwortlichen im Augenblick der akuten Bedrohung zur Nachgiebigkeit gegenüber den Terroristen neigten. Dabei stand die westdeutsche Regierung im Einklang mit den Nachbarländern, die häufig auch die Strategie des präventiven Nachgebens verfolgten. Im Falle von Olympia ’72 scheiterte dies an der konsequent unnachgiebigen israelischen Haltung, so dass ein polizeilicher Zugriff weitgehend im- provisiert werden musste. Dass diese Form der aktiven Terrorismusbekämpfung nicht unbedingt der Überzeugung der deutschen Verantwortlichen entsprach, zeigt die überraschend schnelle Terroristenbefreiung von Zagreb wenig später. Auch im Fall Lorenz war das Nachgeben politisch gewollt. Auffällig ist hier, dass die Beamten und Politiker für die Terroristen dachten und arbeiteten, um einen reibungslosen Ablauf der Ereignisse zu gewährleisten. Dies änderte sich erst – und nur an- satzweise – mit der Botschaftsbesetzung von Stockholm, die streng genommen ein transnationales Phänomen war, aus deutscher Perspektive aber als Problem des nationalen Terrorismus wahrgenommen wurde. Dass Helmut Schmidt einen direkten Kontakt mit den Terroristen verweigerte und sogar die eingeflogenen Spezialkräfte wieder abzog, zeigt einen graduellen Wandel vom präventiven Nachgeben zur demonstrativen Passivität, der 1977 schließlich in eine forcierte Unnachgiebigkeit mündete.  

 

Während im akuten Bedrohungsfall das Ad-hoc-Prinzip herrschte und kaum Rückbesinnung auf Erfahrungswerte oder frühere Strategien festzustellen ist, unterschieden sich die Reaktionen auf den nationalen und transnationalen Terrorismus in mittelfristiger Perspektive. Terrorismus in jeglicher Form konnte sich erst allmählich als Erfahrungswert auf der politischen „mental map“[49] festsetzen.

Hierbei ist festzustellen, dass nationale Terrorismen nicht häufiger als transnationale auftraten, aber aufgrund der staatlichen Reaktionsmuster, die fast ausschließlich auf den nationalen Terrorismus zielten, deutlich „dichter“ wahrgenommen wurden. Der Bundesregierung gelang es im Falle des nationalen Terrorismus, einer keimende Angst und Verunsicherung durch umfangreiche Programme zur Inneren Sicherheit scheinbar etwas entgegenzusetzen und sich damit zu profilieren. Diese Gefährdungsbekämpfung wurde jedoch selbst zunehmend zur Gefahr. 1977 waren grundsätzliche Teile des Strafrechtsverständnisses und der Strafverfolgung in einem erdrückenden Maße geändert worden, so dass nach Ansicht vieler Zeitgenossen ein Übermaß an Sicherheit die demokratischen Freiheiten bedrohte. Erst mit dem Amtsantritt von Bundesinnenminister Gerhart Baum 1978 wurde die Datensammelwut des BKA wieder eingegrenzt. Aus der Sorge um die Sicherheit der öffentlichen Ordnung ging die Sorge um die Sicherheit der Daten hervor – der Datenschutz.[50]

 

Demgegenüber zeigen die schockartigen Reaktionen auf das Olympia-Attentat ’72 und das schnelle Verschwinden des Themas von der medialen und politischen Agenda, dass sich dieses komplexe Gedankenkonstrukt des grenzüberschreitenden Terrorismus nicht durchsetzen konnte. Vieles spricht dafür, dass länderübergreifender Terrorismus in der Bundesrepublik teils bewusst, teils unbewusst verdrängt wurde. Dadurch, dass kaum auf das Problem eingegangen wurde, setzte es sich auch nicht als konkrete Gefährdung fest. Was blieb, war eine diffuse Verunsicherung. Während sich die sozial- liberalen Koalitionen unter Willy Brandt und Helmut Schmidt der Inneren Sicherheit in erstaunlich lang anhaltender Reform- und Planungseuphorie widmeten,[51] blieben die Zuständigkeiten für die den Fachexperten sehr wohl bekannten transnationalen Gefährdungen ungeklärt. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass der grundsätzliche Konflikt zwischen Innerer Sicherheit und Außenpolitik damals bewusst als hemmend wahrgenommen wurde. Doch genau dies war insbesondere nach Olympia ’72 zweifelsohne der Fall. Staatliches Handeln und Reagieren auf Sicherheitsfragen hörte – von Einzelfällen wie Entebbe oder Mogadischu abgesehen – an den Landesgrenzen auf. Eine Modifikation der klassischen territorial orientierten Staatsordnung von Innen und Außen, von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren erforderte einen langen Lernprozess, der vielleicht erst mit dem 11. September 2001 vollends ins Bewusstsein gekommen ist, wobei eine adäquate Lösung immer noch aussteht.[52] Die gesellschaftliche und die staatliche Wahrnehmung von Gewaltphänomenen bedingen einander und sind letztlich selbstbeschleunigend. Erst die Reaktion befördert die Wahrnehmung. 

 

Matthias Dahlke, Transvaalstr. 46, D-13351 Berlin, E-Mail: mdahlke@gmail.com

 

 

Letzte Überprüfung der Internet-Adressen: 04.10.2007

 

 

Zitierempfehlung:

 

Matthias Dahlke, Der blinde Fleck. Transnationaler und nationaler Terrorismus auf dem Weg zum „Deutschen Herbst“, in: Zeitgeschichte-online, Thema: Die RAF als Geschichte und Gegenwart, hg. von  Jan-Holger  Kirsch  und  Annette  Vowinckel,  Mai  2007,  URL:  < http://www.zeitgeschichte- online.de/zol/portals/_rainbow/documents/pdf/raf/dahlke_dbf.pdf

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] Brian Jenkins, Terrorism in the 1980s, Santa Monica 1980, S. 1. 

[2] Vgl. Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 357-380; Klaus Weinhauer, Terrorismus in der Bun- desrepublik der Siebzigerjahre. Aspekte einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 219-242. 

[3] Für die begriffliche Pluralität des Terrorismusbegriffs plädierte früh u.a. Peter Graf Kielmansegg, Der Umschlag von Moral in Amoral, in: Axel Jeschke/Wolfgang Malanowski (Hg.), Der Minister und der Terrorist. Gespräche zwischen Gerhart Baum und Horst Mahler, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 124-127. 

[4] Vgl. Stephan Scheiper, Der Wandel staatlicher Herrschaft in den 1960er/70er Jahren, in: Klaus Weinhauer/Jörg Requate/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a.M. 2006, S. 188-216.– Der Begriff „Scharnierzeit“ wurde u.a. von Magnus Brechtken für den Wandel um 1900 verwendet. Vgl. ders., Scharnierzeit 1895–1907. Persönlichkeitsnetze und internationale Politik in den deutsch-britisch-amerikanischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg, Mainz 2006. 

[5] Vgl. Klaus Weinhauer/Jörg Requate, Einleitung, in: Weinhauer/Requate/Haupt, Terrorismus in der Bundesrepublik (Anm. 4), S. 9-32, hier S. 20f. 

[6] Vgl. z.B. Klaus Weinhauer, Zwischen ‚Partisanenkampf’ und ‚Kommissar Computer’. Polizei und Linksterrorismus in der Bundesrepublik bis Anfang der 1980er Jahre, in: Weinhauer/Requate/Haupt, Terrorismus in der Bundesrepublik (Anm. 4), S. 244-270. Vgl. auch Matthias Dahlke, Der Anschlag auf Olympia ’72. Die politischen Reaktionen auf den internationalen Terrorismus in Deutschland, München 2006. 

[7] Die Erforschung transnationaler Terrorismen dieser Zeit ist ein Desiderat. Erste Ansätze dazu lassen sich in den Sammelbänden von Wolfgang Kraushaar finden; so z.B. Christopher Daase, Die RAF und der internationale Terrorismus. Zur transnationalen Kooperation klandestiner Organisationen, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, Hamburg 2006, S. 905-929; Thomas Skelton-Robinson, Im Netz verheddert. Die Beziehungen des bundesdeutschen Linksterrorismus zur Volksfront für die Befreiung Palästinas (1969–1980), in: ebd., S. 828-904. Vgl. auch Dahlke, Olympia ’72 (Anm. 6).  

[8] Vgl. aus einer Vielzahl von Literatur z.B. Kiran Klaus Patel, Nach der Nationalfixiertheit – Perspektiven einer trans- 

nationalen Geschichte, Berlin 2004; Ludolf Herbst, Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte, München 2004; Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003; Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000. 

[9] Sebastian Scheerer, Die Zukunft des Terrorismus. Drei Szenarien, Lüneburg 2002, S. 22. 

[10] Tobias Wunschik, Baader-Meinhof international? in: Aus Politik und Zeitgeschichte 57 (2007) H. 40-41, S. 23-29, online unter URL: < http://www.bpb.de/files/WG0V7W.pdf >. 

[11] Herfried Münkler, Neue Kriege, Terrorismus und die Reaktionsfähigkeit postheroischer Gesellschaften, Festvortrag

auf der Herbsttagung im Kriminalistischen Institut des Bundeskriminalamts, Wiesbaden 2005, S. 4f., online unter URL: < http://www.bka.de/kriminalwissenschaften/herbsttagung/2005/rede_muenkler_kurz.pdf >. 

[12] Ebd.

[13] Vgl. Dieter Schenk, Der Chef. Horst Herold und das BKA, Hamburg 1998.   

[14] Vgl. Patricia Weiser Easteal/Paul R. Wilson, Preventing Crime on Transport, Canberra 1991, S. 47-63. 

[15] Vgl. für den größeren Zusammenhang Jin-Tai Choi, Aviation Terrorism. Historical Survey, Perspectives and Responses, London 1994. Mit besonderem Fokus auf der medialen Wahrnehmung von Luftfahrtterrorismus vgl. Annette Vo- winckel, Der kurze Weg nach Entebbe oder die Verlängerung der deutschen Geschichte in den Nahen Osten, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1 (2004), S. 236-254. 

[16] Für eine ausführliche Schilderung und stärker quellenbezogene Analyse der Ereignisse von München und Zagreb vgl. Dahlke, Olympia ’72 (Anm. 6). 

[17] Erlass der Bundesregierung vom 12. Mai 1972 zur Bildung eines interministeriellen Krisenstabs, in: Bundesarchiv 

Koblenz (BA), B 136/12976. Vgl. ebd., Vermerk des Bundeskanzleramts vom 10. Oktober 1968. 

[18] Die verwinkelte Bauweise der Unterkünfte im Olympischen Dorf sowie die Unterbringung der Geiseln in mehreren

Räumen ließ durchaus diskutierte Ansätze zur Stürmung etwa mittels Gaseinsatzes ausscheiden. 

[19] Zweiter interner Bericht der Ereignisse für den Minister und die Staatssekretäre von VLR Henze vom 6. September 

1972, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA), B 2/191. 

[20] „Die schlimmste Nacht der Bundesrepublik“, in: Spiegel, 11.9.1972, S. 19ff., hier S. 19. 

[21] Vgl. Uta Balbier, „Der Welt das moderne Deutschland vorstellen“. Die Eröffnungsfeier der Spiele der XX. Olympiade in München 1972, in: Johannes Paulmann (Hg.), Auswärtige Repräsentationen. Deutsche Kulturdiplomatie nach 1945, Köln 2005, S. 105-119.  

[22] Central Intelligence Bulletin, 7.9.1972, S. 1, online unter URL: < http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/US-Israel/Nixon/CIAFilesMunich.pdf >. 

[23] Nicht zuletzt auch deshalb, weil durch die föderalen Verflechtungen Politiker fast aller Parteien in den Entscheidungsprozess eingebunden waren, was wenig Potenzial für ein Wahlkampfthema ließ. 

[24] Beide Zitate in einem ZDF-Interview mit Regierungssprecher Conrad Ahlers am 6. September 1972 um 19.45 Uhr; 

Transkription des Bundespresse- und Informationsamts, in: PA, B 36/507. 

[25] Generalunion Palästinensischer Studenten (GUPS) und Generalunion Palästinensischer Arbeiter (GUPA). 

[26] Handschriftliche Notiz von Außenminister Walter Scheel vom 6. September 1972, in: PA, B 1/509. 

[27] Vgl. Bundespresse- und Informationsamt (Hg.), Der Überfall auf die israelische Olympiamannschaft. Dokumentation der Bundesregierung und des Freistaates Bayern, Bonn 1972. 

[28] Vermerk von VLR Redies an Staatssekretär Frank vom 21. Oktober 1972, in: PA B 36/509. 

[29] Zitate und Übersetzungen aus dem Fernschreiben von Botschafter von Puttkamer an das Auswärtige Amt vom 6. September 1972, 19.23 Uhr, in: PA, B 36/506. 

[30] Die CIA registrierte einen nicht näher bestimmten israelischen Minister in München. Vgl. Central Intelligence Bulletin, 7.9.1972 (Anm. 22), S. 2. Vgl. dazu auch den ersten internen Ereignisbericht von VLR Henze vom 6. September 1972 an den Minister und die Staatssekretäre, in: PA, B 2/191.  

[31] Vgl. Prime Minister’s Statement at the Opening of the Knesset Winter Session, 16. Oktober 1972, hg. von Press Bulletin Israel, in: PA, B 36/505. 

[32] Günter Gaus, Schlapper Staat?, in: Spiegel, 6.11.1972, S. 25. 

[33] Ulrike Meinhof, Die Aktion des „Schwarzen September“ in München. Zur Strategie des antiimperialistischen Kampfes. November 1972, in: ID-Verlag (Hg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997, S. 151-177, hier S. 152. 

[34] Vgl. Gerd Koenen, Camera Silens. Das Phantasma der „Vernichtungshaft“, in: Kraushaar, Die RAF und der linke 

Terrorismus (Anm. 7), Bd. 2, S. 994-1010. 

[35] So fand am 8. Juni 1973 ein Sprengstoffanschlag auf eine Berliner Fabrikanlage statt, zu dem sich der „Schwarze 

September“ und die „Revolutionären Zellen“ bekannten. Vgl. Amtlicher Ereigniskalender des Terrorismus 1967–1980 des Bundesministeriums des Innern, in: Jeschke/Malanowski, Der Minister und der Terrorist (Anm. 3), S. 177.   

[36] Vgl. David A. Korn, Assassination in Khartoum, Bloomington 1993. 

[37] Walter Laqueur, A History of Terrorism, New York 1977, Reprint 4. Aufl. New Brunswick 2006, S. 5.  

[38] Brian Jenkins, The Study of Terrorism. Definitional Problems, Santa Monica 1980, S. 7. 

[39] Die Bewegung 2. Juni benannte sich nach dem Todestag Benno Ohnesorgs und hob sich in ihrem Selbstverständnis klar von der eher militaristisch geprägten RAF ab. Vgl. Tobias Wunschik, Die Bewegung 2. Juni, in: Kraushaar, Die RAF und der linke Terrorismus (Anm. 7), Bd. 1, S. 531-561. 

[40] Für eine detailliertere und quellenbezogenere Analyse der Entführung vgl. Matthias Dahlke, „Nur eingeschränkte

Krisenbereitschaft“. Die staatliche Reaktion auf die Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz 1975, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), Heft 4 (im Erscheinen). 

 

[41] Vgl. Vermerk des Bundeskanzleramts vom 10. Oktober 1968, in: BA, B 136/12976.  

[42] Vgl. Strategiepapier des Bundesministerium des Innern über weiteres Vorgehen, vermutlich vom 28. Februar 1975, in: BA Koblenz, B 106/106997. 

[43] Als sehr detaillierte Darstellung der Ereignisse vgl. Michael März, Die Machtprobe 1975. Wie RAF und Bewegung 2. Juni den Staat erpressten, Leipzig 2007. 

[44] Vgl. Klaus Weinhauer, „Staat zeigen“. Die polizeiliche Bekämpfung des Terrorismus in der Bundesrepublik bis Anfang der 1980er Jahre, in: Kraushaar, Die RAF und der linke Terrorismus (Anm. 7), Bd. 2, S. 932-947, hier S. 941. 

 

[45] Vgl. Bericht des Bundesministeriums des Innern an den Chef des Bundeskanzleramts vom 2. August 1974 über das

deutsch-französische Innenministertreffen Anfang Juli 1974 in Bonn, in: PA, Zwischenarchiv 109198.  

[46] Vor Ort und mit politischer Deckung des ugandischen Diktators Idi Amin wurden rund 100 jüdische Passagiere als

Geiseln selektiert, der Rest freigelassen. Eine israelische Spezialeinheit stürmte Tage später den Flughafen und befreite unter hohen Verlusten vor allem auf der ugandischen Seite die Geiseln. Vgl. Vowinckel, Der kurze Weg nach Entebbe (Anm. 15). 

[47] Vgl. Weinhauer, „Staat zeigen“ (Anm. 44), S. 947. 

[48] Auch vorrangig ökonomische Entwicklungen wie Stagflation, Ölpreisschock, „Grenzen des Wachstums“ etc. spielten bei diesem Wandel eine Rolle. Nicht zuletzt zeigte der „Reformstau“ der ambitionierten Vorhaben der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt die Grenzen der Planbarkeit auf. Vgl. auch Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005. 

[49] Vgl. grundlegend dazu Kevin Lynch, Das Bild der Stadt, Gütersloh 1968. In seinen Studien Ende der 1950er-Jahre am MIT ließ Lynch Stadtpläne aus dem Gedächtnis zeichnen. Das gebräuchliche Bild der „mental map“, die er selbst „images“ nennt, zeigt, dass das geistige Abbild, welches der Mensch aus subjektiven Erfahrungswerten von der Umwelt/Stadt fertigt, sowohl verzerrt als auch vereinfacht, aber dennoch grundlegend für die Orientierung ist. Die Annahme ist plausibel, dass auch bei der Wahrnehmung neuer Phänomene die Erfahrung ebendiese Wahrnehmung strukturiert. 

 

[50] Vgl. Weinhauer, Terrorismus in der Bundesrepublik (Anm. 2), S. 239f. 

[51] Vgl. Scheiper, Der Wandel staatlicher Herrschaft (Anm. 4).  

[52] Zum Phänomen der Asymmetrisierung vgl. Herfried Münkler, Der Wandel des Krieges, Weilerswist 2006.