(zum Artikelbild: Protestiert wurde gegen Schmierereien am sowjetischen Ehrenmal gegen Neofaschismus und Antisowjetismus. Aufgerufen hatten verschiedene Parteien und Organisationen.)
Vor zwei Wochen breitete der Historiker Magnus Brechtken im Feuilleton der FAZ seine These aus, dass die guten Bundestagswahlergebnisse der AfD in Ostdeutschland auf einer seit dem 30-jährigen Krieg bestehenden Tradition des „Autoritätsglaubens und der Obrigkeitshörigkeit“ zurückzuführen seien.[1] Dieser lange historische Bogen überrascht zunächst, zumal er von einem Zeithistoriker geschlagen wird.[2] Doch stellen die LeserInnen bald enttäuscht fest, dass der Rückgriff auf die frühe Neuzeit nur eine Überleitung zu einem altbekannten Schlager ist: Die DDR und die dort angeblich ausgebliebene Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit sind schuld daran, dass die Ostdeutschen rechts wählen. Damit schreibt sich Brechtkens Beitrag in den nicht eben kleinen Korpus jener Texte ein, in denen westdeutsche ExpertInnen die Anfälligkeit für autoritäres und rechtsextremes Gedankengut als vermeintlich ostdeutsches Problem pathologisieren und mit Verweis auf angebliche Versäumnisse in der DDR meinen, ihrer Beweispflicht nachgekommen zu sein.
Unterzieht man Brechtkens Betrachtungen allerdings einer genaueren Analyse, so hält kaum eines seiner Argumente stand. Schon der Ausgangspunkt seines Textes, „die programmatischen Äußerungen führender AfD-Männer“ würden sich „markant“ von den altbundesrepublikanischen Geschichts- und Staatsauffassungen unterscheiden, leuchtet nicht ein. Es ist doch gerade diese alte Bundesrepublik, die sich führende Vertreter der AfD zurückwünschen. Eine BRD, die anders als die Berliner Republik noch nicht „linksgrün versifft“ war, um im AfD-Jargon zu bleiben. Sollten dem Münchner Brechtken die Plakate „Franz Josef Strauß würde AfD wählen“ entgangen sein? Überhaupt entwirft er ein Bild der alten BRD, bei dem der Marsch der rebellischen 68er-Jugend durch die bundesrepublikanischen Institutionen unmittelbar von Erfolg gekrönt war. In Wahrheit aber musste doch mindestens bis in die 90er Jahre hinein gelüftet werden, um den autoritären Muff der tausend Jahre aus den bundesdeutschen Amtsstuben zu vertreiben. Während er die in der DDR herausgegebenen „Braunbücher“ allein als Akt staatssozialistischer Selbstgerechtigkeit abtut, scheint ihm das Skandalöse an den tatsächlichen Karrieren von Naziverbrechern und -beamten in der alten BRD kaum der Rede wert.
Eine Auseinandersetzung mit der Nazivergangenheit in der DDR hingegen negiert Brechtken rundheraus und stützt sich dabei auf die ideologische Konstruktion der DDR als antifaschistischer Staat, dessen BürgerInnen von vornherein nicht schuldig sein konnten. Damit bleibt er hinter dem aktuellen Forschungsstand zurück, der aufzeigt, dass es eben doch eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der DDR gegeben hat. Diese fand freilich nicht im Politbüro und auch nicht im Neuen Deutschland statt, sondern in anderen mal mehr und mal weniger öffentlichen Foren. Zum einen ließ der Antifaschismus bisweilen genügend Raum für die Auseinandersetzung mit dem Massenmord an den Juden. Dies nutzten KünstlerInnen und LiteratInnen: Es war keineswegs die Unaufmerksamkeit der Zensoren, die das Erscheinen des international bekanntesten deutschen Holocaustromans, Jurek Beckers „Jakob der Lügner“, 1969 in der DDR ermöglichte. Der Roman war bei weitem nicht die einzige künstlerische oder literarische Auseinandersetzung mit dem Thema. Zum anderen gab es christlich-jüdische Arbeitskreise oder die Zirkel von DDR-Dissidenten. Letzteren verdankt die Berliner Republik übrigens, dass ihre jüdischen Gemeinden wieder auf eine nennenswerte Zahl an Mitgliedern anwachsen konnte: Sie waren es, die in der ersten freigewählten Volkskammer 1990 beschlossen, sowjetischen Juden in der DDR Asylrecht zu gewähren. Eine Regelung, die Helmut Kohl und sein damaliger Innenminister Wolfgang Schäuble nur widerwillig und auf öffentlichen Druck mit in die Bundesrepublik übernahmen. Brechtkens Analyse stellt die DDR trotz anderslautender Bekundung gerade nicht der alten Bundesrepublik gegenüber, sondern eher dem Deutschland von heute.
Aber nicht nur die Analyse, auch die Interpretation Brechtkens wirft Fragen auf: Warum war es ausgerechnet die alte Bundesrepublik, der es gelang, mit der deutschen Tradition der Obrigkeitshörigkeit zu brechen, und warum geschah dies angeblich in exakt jenen 40 Jahren, in denen es in der DDR nicht geschehen konnte? Warum, wenn es so ist, reichten die vergangenen 28 Jahre nicht dazu aus, diesen Bruch auch in Ostdeutschland nachzuvollziehen?
Gerade an einen Zeithistoriker würde sich die Frage richten, warum er bei seinen Überlegungen diese 28 Jahre völlig ausklammert. Ist in dieser Zeit in Ostdeutschland nichts Bedeutendes geschehen? Spielen die rasante und tiefgreifende wirtschaftliche Transformation Ostdeutschlands, die von der „Treuhand“ vorangetriebene Deindustrialisierung ganzer Landstriche keine Rolle bei den gesellschaftlichen Entwicklungen, die zu diesem Wahlergebnis geführt haben? Die Perspektivlosigkeit und die gebrochenen Biographien vieler Ostdeutscher, die direkt nach der Wende aus dem Nichts eine neue Existenz aufbauen mussten? Die Unsicherheit, in der ein großer Teil der ostdeutschen Jugendlichen in den 1990ern aufwuchs, weil ihre Eltern mit sich selbst beschäftigt waren, während im Jugendclub rechte Kader ein- und ausgingen? Nachzulesen sind die Folgen dieses Prozesses eindrücklich und aus erster Hand in Clemens Meyers „Als wir träumten“ (S. Fischer 2006) oder Jana Hensels „Zonenkinder“ (Rowohlt 2002).
Wenn Brechtkens These vom Fortbestand autoritätshöriger Traditionen in der DDR stimmt, welchen Anteil haben westdeutsche Eliten daran, die Regierungen und Verwaltungen ostdeutscher Bundesländer nach 1989 geprägt haben? Pflegten und förderten nicht einige viel eher, oft mit einer gewissen Selbstherrlichkeit, solche Traditionen der Obrigkeitshörigkeit? Warum waren sie ihnen in der alten BRD offenbar nicht ausgetrieben worden? Erinnert sei hier an den sächsischen Ministerpräsidenten Biedenkopf, der es nicht ungern hörte, „König Kurt“ genannt zu werden. Wie seine Nachfolger sah er wenig Bedarf an politischer Bildung, seien doch die Sachsen gegen Rechtsextremismus immun.
Zwei weitere Punkte machen die andauernde Anrufung der DDR-Geschichte als Ursache politischer Fehlentwicklungen in Ostdeutschland durch westdeutsche Intellektuelle so ärgerlich: erstens die paternalistische Haltung, die die Ostdeutschen entmündigt, ohne sie überhaupt zu Wort kommen zu lassen. Denn mit dem Verweis, die verschiedenen Formen von rechtsradikalem und autoritärem Gedankengut von Pegida bis zur AfD seien die Folge von 40 Jahren DDR, ist der Einzelne aus der Verantwortung für sein politisches Handeln quasi schon entlassen. Zweitens erspart sie den Westdeutschen die Debatte über analoge Entwicklungen vor der eigenen Haustür. Die DDR-Vergangenheit kann wohl kaum dafür verantwortlich gemacht werden, dass sich 19,1% der Wähler im Wahlkreis Deggendorf (Bayern) nach 68 Jahren von der, wie Brechtken meint, Geschichts- und Staatsauffassung der alten Bundesrepublik ab - und dem traditionellen deutschen „Autoritätsglauben und der Obrigkeitshörigkeit“ zuwandten und ihr Kreuz bei der AfD machten.
[1] Magnus Brechtken, Das Selbstbild der Unberührten, Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.12.2017, S. 12.
[2] Brechtken ist stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München.
Dazu auch:
Ronald G. Asch, Das Selbstbild der Unbelehrten. Können uralte deutsche Traditionen die Erfolge der Rechten im Osten erklären? Der Zeithistoriker Markus Brechtken erneuert den Geschichtsmythos der alten Bundesrepublik. Eine Replik. In: FAZ vom 3.1.2018, Nr. 2, S. 9.
Christian Staas im Interview mit Susan Neimann, "Sehnsucht nach neuen Herren". Die Fürsten sind lange fort. Und der deutsche Untertan? Gibt es ihn immer noch? Ein Gespräch mit der amerikanischen Philosophin Susan Neimann, in: ZEIT ONLINE vom 3.1.2018
Zum Thema empfehlen wir außerdem den gut recherchierten Beitrag von Jana Hensel: Aus Wut folgt Wut folgt Wut, in: ZEIT ONLINE vom 26. August 2017. Die Autorin fragt hierin, ob die rechten Gewaltausbrüche in den neuen Bundesländern ein spezifisch ostdeutsches Problem sind.
und
Angelika Nguyen, Über die AfD muss man sich nicht wundern, in: 10 nach 8 auf ZEIT ONLINE vom 22.12.2017