von Frank Bösch

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18. März 2019

 

Den Ostdeutschen wird oft vorgehalten, dank ihrer DDR-Vergangenheit nicht in der Demokratie angekommen zu sein. Die statistischen Daten scheinen eindeutig: So bewerten die Ostdeutschen die Demokratie kritischer, Minderheiten werden weniger akzeptiert und knapp ein Fünftel der Ostdeutschen nennt, unter bestimmten Umständen, eine Diktatur als beste Staatsform.[1] Zudem ist die Wahlbeteiligung niedriger, während rechte Parteien stärker reüssieren. Ebenso sind Ostdeutsche seltener Mitglied in Parteien oder Vereinen.
Gerade weil derartige Zahlen so eindeutig wirken, sollten wir sie auch in der künftigen zeithistorischen Erforschung kritischer diskutieren. Denn erstens fällt auf, dass andere Statistiken, die mehr Ähnlichkeiten zwischen Ost und West aufzeigen, weniger Aufmerksamkeit finden. So ist das politische Engagement jenseits der Parteimitgliedschaft beziehungsweise die Bereitschaft dazu im Osten mittlerweile ähnlich groß wie im Westen.[2] Insgesamt gibt es in Ostdeutschland sogar etwas häufiger informelle außerfamiliäre Unterstützungsleistungen.[3] Blickt man auf wichtige Organisationen der Demokratie wie etwa die Gewerkschaften, so ist der Anteil der Mitgliedschaft in Ost und West kaum unterschiedlich. Auch das politische Interesse ist in Ost und West etwa gleich stark beziehungsweise gering. Die Geschichte der im Osten starken PDS und der Linken steht sicher ebenfalls für eine starke Annäherung an die Demokratie.
Ähnlichkeiten zwischen Ost und West lassen sich auch bei der Beurteilung der Demokratie ausmachen. Die Demokratie als Staatsform und auch die bundesdeutsche Verfassung werden in Ost und West gleichermaßen sehr positiv bewertet. Die Demokratie als Idee findet im Osten sogar wachsende Spitzenwerte.[4] Fragt man nach einzelnen Komponenten, wie etwa der Gleichheit vor dem Gesetz, weisen die Werte in Ost und West keine Unterschiede auf. Die Tendenz zu autoritärem Denken findet sich in Ost und West. Entscheidend für Differenzen sind eher die Variablen Bildung, Geschlecht und beruflicher Erfolg.

Der eigentliche Unterschied liegt in der Bewertung der wahrgenommenen Praxis der bundesdeutschen Demokratie, die Ostdeutsche kritischer bewerten. So sind die Parlamente als Institution in Ostdeutschland akzeptiert, kaum aber deren Abgeordnete oder Parteien. Hier liegt der Kern des Problems. Besonders in Ostdeutschland gelten Abgeordnete stärker als bürgerferne Personen, die sich nur um eigene Interessen kümmern.[5] Charakteristisch ist das Gefühl, in der demokratischen Praxis keinen persönlichen Einfluss auf die Politik nehmen zu können. Es lohnt somit, die umfangreichen Statistiken seit 1990 zu gruppieren und neu zu mischen.

 

Wie sollten Daten eingeordnet werden?

Zweitens müssen wir derartige Statistiken historisch und vergleichend einordnen. Viele Unterschiede zwischen Ost und West erklären sich eher aus historischen Überhängen im Westen. So gibt es im Westen mehr Parteimitglieder, weil die Parteien in den 1970er Jahren dort besonders mitgliederstark wurden. Betrachtet man dagegen nur die aktuellen Neueintritte in Ost und West, so verblassen die Unterschiede. Auch bei den Jüngeren – seit Wendezeiten geborenen – sind die Parteieintritte in Ost und West ähnlich selten.

Bei Statistiken ist es immer wichtig, den Ausgangspunkt kritisch zu prüfen. Für Ostdeutschland wird meist 1990 gewählt. Die frühen 1990er Jahre waren jedoch eine gewisse Ausnahmephase in Ostdeutschland, ähnlich wie die 1970er Jahre im Westen. Von dieser Warte aus haben wir in vielen Bereichen Verfallsgeschichten. Anders sehen Statistiken aus, die etwa das Jahr 2000 als Beginn nehmen.

Ähnliches gilt für die regionale Vergleichsperspektive. Die alte Bundesrepublik gilt meist als Normalfall, die neuen Länder als Sonderfall. Vergleicht man Ostdeutschland mit den Nachbarländern in West- und Osteuropa, liegt die ostdeutsche Demokratiebewertung in etwa gleichauf mit anderen postsozialistischen Ländern Mittelosteuropas (Ungarn, Rumänien) und fällt positiver aus als in den von der Finanzkrise gebeutelten Ländern des Südens (Spanien, Italien, Griechenland).[6] Generell besteht ein Nord-Süd-Gefälle in ganz Europa. Dieser Vergleich unterstreicht, dass das Abstiegsgefühl die Demokratiewahrnehmung beeinflusst – und nicht allein das Erbe der SED. Länder wie Griechenland und Italien ähneln hier der ostdeutschen Erfahrung der 1990er Jahre. Das zeigt, dass die künftige Forschung nicht nur Ost- und Westdeutschland vergleichen sollte, sondern auch ausgewählte europäische Länder.

 

AfD-Erfolg ein Phänomen des Ostens?

Inwieweit ist der Erfolg der AfD in Ostdeutschland Ausdruck des autoritären sozialistischen Erbes und der schwierigen Transformation nach 1990? Im Osten gehen rechte Einstellungen tatsächlich oft mit einer positiven Bewertung der DDR einher.[7] Hier zeigt sich eine Faszination an der DDR, die deren autoritäre Struktur, ethnische Homogenität und arbeitszentrierten Sozialstaat goutiert. Die geringer ausgeprägte Erfahrung der Liberalisierung korrespondiert jedoch durchaus mit den ländlich-katholischen Räumen im Süden der alten Bundesrepublik. Auch dort bildet die Imagination einer heilen bayrischen oder schwäbischen Welt vor einem halben Jahrhundert Bezugspunkte, die die AfD-Wahl fördern dürfte.
Ökonomische Unterschiede sind offensichtlich nicht entscheidend: Schließlich hat die AfD ihre Hochburgen in den reicheren südlichen Teilen in Ost und West, seltener im ärmeren ländlichen Norden. Generell ist zu überlegen, ob nicht eine Unterscheidung in Nord-Süd zunehmend ähnlich markante statistische Differenzen aufzeigen würde wie die übliche Unterscheidung in Ost und West. Denn derartige Statistiken schaffen mit ihren Kategorien oft erst jene Differenzen, die sie zu belegen vorgeben. Die künftige zeithistorische Forschung sollte entsprechend Statistiken auch in neue Kategorien umrechnen und andere Differenzen prüfen.
Entscheidender als die Ost-West-Variabel ist bei der Wahl autoritärer Parteien etwa die Kategorie Geschlecht. So wählten bei der Bundestagswahl 2017 nur neun Prozent der Frauen die AfD, aber 16 Prozent der Männer.[8] Entsprechend wäre statt nach Ost-West-Gegensätzen vor allem zu fragen, warum die Staats- und Demokratievorstellungen von Männern weiterhin so stark abweichen. Offensichtlich wird die Liberalisierung überall als spezifisch männliche Verlusterfahrung gedeutet, egal ob Menschen im Sozialismus oder in der Demokratie aufwuchsen.

Der Begriff „ostdeutsch“ ist ohnehin in seiner statistischen Eindeutigkeit problematisch: Allein zwischen 1991 und 2013 gingen laut Statistischem Bundesamt rund 3,3 Millionen Menschen aus den neuen Ländern in die alten (ohne Berlin), und rund 2,1 Millionen von West nach Ost.[9] Bei einer recht kleinen Region von 16 Millionen Einwohnern haben wir somit einen Austausch von fünf Millionen Menschen, der statistische Eindeutigkeiten verwässert. Ostdeutsche im Westen werden etwa bei Befragungen nicht berücksichtigt, obgleich dies belegen könnte, ob eher die Sozialisation in der SED-Diktatur oder das aktuelle sozio-ökonomische Umfeld prägend sind. Nicht nur der Westen im Osten, sondern auch der Osten im Westen verdient damit mehr Aufmerksamkeit, ebenso hybride Kulturen. 

Festhalten lässt sich somit, dass die Statistiken nicht so eindeutig sind, wie sie vorgeben. Sie konkurrieren mit anderen Werten und lassen sich vergleichend anders einordnen. Kritisch diskutieren müssen wir künftig, inwieweit wir die Ost-West-Kategorien durch andere ergänzen oder austauschen müssen.

 


[1] Vgl. etwa: Mehr als jeder zweite Ostdeutsche zweifelt an der Demokratie. In: Die Welt vom 31.1.2018; sowie Thüringen-Monitor 2001-2018, [zuletzt abgerufen am 17. März 2019].
[2] Vgl. Statistisches Bundesamt/WZB (Hg.), Datenreport 2018, Bonn 2018, S. 351-352, [zuletzt abgerufen am 17. März 2019].
[3] Vgl. Felix Arnold/Ronny Freier/Martin Kroh, Geteilte politische Kultur auch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung?, in: DIW 37/2015, 803-814, hier S. 807, [zuletzt abgerufen am 17. März 2019].
[4] Vgl. Oliver Decker u.a., Die Leipziger Autoritarismus-Studie 2018. Methode, Ergebnisse und Langzeitverlauf, in: Ders./Elmar Brähler (Hg.), Flucht ins Autoritäre: Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft (=Leipziger Autoritarismus-Studie 2018), Gießen 2018, S. 65-116, hier S. 96, [zuletzt abgerufen am 17. März 2019].
[5] Vgl. Oscar W. Gabriel/Lisa Schöllhammer, Warum die Deutschen ihrem Abgeordneten nicht mehr vertrauen als dem Bundestag, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 40,2 (2009), S. 414-430, hier S. 420.
[6] Vgl. Statistisches Bundesamt u.a. (Hg.), Datenreport 2018, S. 360. Die Daten basieren auf dem Eurobarometer 1991-2017, [zuletzt abgerufen am 17. März 2019].
[7] Vgl. Heinrich Best, Trends und Ursachen des Rechtsextremismus in Ostdeutschland, in: Wolfgang Frindte u.a. (Hg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Wiesbaden 2016, S. 119-130, hier S. 126.
[8] Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.), Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2017 nach Geschlecht und Alter, Wiesbaden 2018, S. 150, [zuletzt abgerufen am 17. März 2019].
[9] Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.), 25 Jahre Deutsche Einheit, Wiesbaden 2015, S. 14, [zuletzt abgerufen am 17. März 2019].