von René Schlott

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28. Oktober 2018

Den größtmöglichen Kontrast gesucht

Vor der Tür stauten sich schon zehn Minuten vor Beginn der Veranstaltung die Leute. Im Raum selbst war kein Platz mehr zu bekommen. Trotzdem drängten alle weiter nach innen. Als der Dozent schließlich kam, konnte er kaum zu seinem Platz gelangen, weil inzwischen selbst jeder freie Fleck auf dem Boden besetzt war. Ich selbst stand weiter draußen und versuchte stehend durch einen Spalt in der Menschenmenge, etwas davon mitzubekommen, was der Dozent sagte oder an die Tafel schrieb. Nach fünfzehn Minuten gab ich entnervt auf und fuhr ernüchtert mit dem Rad nach Hause. Mein erster Tag an der Uni war zu Ende, bevor er noch recht angefangen hatte.

Als ich im April 2001 mit meinem Magisterstudium an der Freien Universität Berlin begann, wurde ich so sofort mit den Bedingungen an einer Massenuniversität konfrontiert. Ich hatte mich neben dem Hauptfach Geschichte für die Nebenfächer Politik und Publizistik entschieden, nicht ahnend, dass diese zu den beliebtesten und am meisten überlaufenen Fächern an der FU gehörten, was mir das oben geschilderte Erlebnis am Otto-Suhr-Institut bescherte.

Nur wenige Tage später aber entdeckte ich die massenfreien Nischen einer Massenuni, als ich meinen Lateinkurs besuchte und eine Übung in Alter Geschichte, die sich mit der „Historia Augusta“ einer spätantiken Sammlung von dreißig Kaiserviten, beschäftigte. Schnell lernte ich, dass alle Veranstaltungen, die „freiwillig“ und „scheinfrei“ waren, nur wenige Studierende anzogen und man so leicht an Plätze kam und sogar die Chance hatte, mit den Lehrenden ins Gespräch zu kommen.

Mein Blick in die sorgfältig ausgefüllte Studienbuchseite aus dem Jahr 2001 offenbart längst Vergessenes: In meinem ersten Semester besuchte ich nicht eine einzige Veranstaltung zur Zeitgeschichte, der eigentlichen Motivation meines Studiums, sondern ausschließlich Seminare und Vorlesungen zur Antike und zum Mittelalter. Heute bin ich mir sicher, dass ich mit dieser zweckfreien Bildung zu weit zurückliegenden Epochen den größtmöglichen Kontrast zu meinem nur wenige Monate zuvor erfolgten Abschluss als Diplom-Betriebswirt (VWA) gesucht habe. Nach einer Diplomarbeit mit dem Titel „Online-Marktforschung – Methoden zur Gewinnung qualitativer und quantitativer Kennzeichen“ hatte ich den festen Vorsatz, danach etwas mit intellektuellem Tiefgang und geistigem Niveau zu machen. Meine erste Hausarbeit verfasste ich zur „Usurpation des Avidius Cassius im Jahr 175 n.Chr.“.

Als dann 24-jähriger Student fühlte ich mich ziemlich alt zwischen den anderen Studienanfängern, als ich aber später viele der damals noch völlig üblichen Langzeitstudierenden kennenlernte, war der Altersunterschied kein Thema mehr. Im Jahr 1997 hatte ich bei der Bertelsmann AG eine Ausbildung zum Industriekaufmann und ein duales Studium der Betriebswirtschaft begonnen. Gegenüber der Freien Universität Berlin herrschte in Gütersloh an der privaten Konzernberufsschule eine „heile Welt“. Ich erinnere mich genau, dass einige Mitschüler bei einer schlechten Note in einer der zahlreichen Leistungstests (dazu zählte alles ab der Note 3) zu einem Gespräch mit dem Direktor gebeten wurden. Die Leistungsorientierung konnte ich auch an der FU nicht sofort abschalten: So lernte ich fleißig für eine Vorlesungsklausur, bis mich einer der Kommilitonen darauf hinwies, dass ich im Nebenfach gar keine Klausur schreiben müsse. Und ich war sicher einer der wenigen Studierenden, der wahrheitsgemäß und fristgerecht oder auch überhaupt das Studienbuch ausfüllte.

Und noch zwei andere Dinge lassen mich heute schmunzeln:

Als uns einer der Dozenten (ich hatte tatsächlich nur männliche Lehrende im ersten Semester, außer in den Sprachkursen „natürlich“) empfahl, immer auch einen Blick in die Zeitschriften zu werfen, dachte ich, ach wunderbar, „SPIEGEL“ und „ZEIT“ lese ich ja schon. Als ich dann in der Bibliothek das erste Mal vor dem Zeitschriftenregal stand, eröffnete sich mir die bis dato völlig unbekannte und vielfältige Welt der Fachzeitschriften, in denen ich heute selbst publiziere.

In den Politikwissenschaften besuchte ich im ersten Semester ein Tutorium, in dem Grundlagentexte gelesen und diskutiert wurden. Ich meldete mich spontan für ein Referat zu einem Text von Hannah Arendt, dem einzigen Namen auf der Liste der AutorInnen, den ich überhaupt kannte. (Dass ich mich heute eineinhalb Jahrzehnte später mit einem ihrer Hauptkritiker beschäftige, kann doch kein Zufall sein.) Das Problem war nur, dass ich den Auszug aus „Vita activa“ auch nach mehrmaligen Lesen nicht verstand und ich dann voller Ehrfurcht in der Sitzung zu meinen Kommilitonen aufschaute, die aus den mir rätselhaften Sätzen eine Bedeutung herauslesen konnten – oder zumindest so taten. Dass es da einen Unterschied gibt, sollte ich allerdings erst in den folgenden fünf Jahren bis zum Ende meines Studiums lernen.

René Schlott, Oktober 2018