von Jan-Holger Kirsch

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28. Oktober 2018

Von Herford nach Bielefeld. Vor- und Nachteile der ostwestfälischen Provinz

Daß Bielefeld tatsächlich existiert, zwischen Paris und Moskau liegt und nicht bloß eine „Verschwörung“ ist, wußte ich schon vor dem ersten Semester. Auch das besondere Renommee der dortigen Geschichtsfakultät war mir zumindest in groben Umrissen bekannt. Trotzdem war Bielefeld für mich (ähnlich wie für Annette Vowinckel, die dort einige Jahre vor mir begann und die ich erst sehr viel später kennenlernte) nicht unbedingt der Traumort eines Studiums. Nach der Schulzeit in Herford, das von Bielefeld räumlich und mental weniger weit entfernt ist als Potsdam von Berlin, hätte ich Ostwestfalen durchaus gern verlassen. Daß ich meine Studienzeit dann doch in Bielefeld verbrachte (und zwar vollständig), hatte zunächst ganz pragmatische, vor allem finanzielle Gründe. Diese Entscheidung hatte durchaus Vorteile – der Start ins Studium fiel in halbwegs vertrauter Umgebung nicht ganz so schwer, und das Bielefelder Lehrangebot in der Geschichtswissenschaft gab viele wichtige Impulse.

Ganz einfach war der Studienbeginn im Oktober 1993 trotzdem nicht. Nach dem Zivildienst, der Anfang der 1990er Jahre noch 15 Monate dauerte, bedeutete es eine ziemliche Umstellung, mich auf die völlig anderen Regeln des Universitätssystems einzulassen – mit viel größerer Anonymität, höheren Anforderungen zum eigenständigen Entscheiden und vor allem mit einem engeren Zeitkorsett. Aber der Zivildienst (der für mich in vieler Hinsicht auch eine gute Lebensphase war) hatte mich darin bestärkt, nun wieder mehr lernen, lesen und schreiben zu wollen – darauf freute ich mich enorm und empfand es als großes Privileg. Um nach dem Abitur den Kontakt zu historischen Inhalten nicht ganz zu verlieren und zu testen, ob mir das Geschichtsstudium tatsächlich liegen würde, hatte ich während des Zivildienstes nebenbei einen Kurs an der Fernuni Hagen belegt und auch eine Hausarbeit geschrieben (die von Peter Brandt wohlwollend kommentiert wurde, was mich mit einer gewissen Ehrfurcht erfüllte). Als langfristig wichtiger und nützlicher erwies es sich, daß ich an der Volkshochschule einen Schreibmaschinenkurs absolvierte – mit einer alten, schwergängigen Reise-Schreibmaschine meiner Eltern.

Bei Studienbeginn konnte ich dadurch mit zehn Fingern schreiben, allerdings keinen Computer bedienen. Schnell war klar, daß es ohne zumindest basale Informatik-Kenntnisse selbst im Geschichtsstudium nicht gehen würde, und ich immatrikulierte mich in Bielefeld auch für das „Zusatzfach Informatik für Sozial- und GeisteswissenschaftlerInnen“ – dies war ein hellsichtig konzipiertes Angebot mit Wahlmöglichkeiten aus unterschiedlichen Fächern. Ein WordPerfect-Kurs im ersten Semester versetzte mich einigermaßen in die Lage, die Hausarbeiten des Studiums technisch zu bewältigen. Einen eigenen Computer hatte ich während des gesamten Studiums und auch während der Promotionszeit allerdings nicht – ich nutzte den Computerraum der Geschichtsfakultät und schrieb zuhause alles auf Papier.

Ohnehin war die Computerisierung im Wintersemester 1993/94 noch nicht so weit fortgeschritten, wie man es aus heutiger Sicht vielleicht vermuten würde. Der Katalog der Uni-Bibliothek war erst in Teilen digital an PCs verfügbar (und natürlich noch nicht via Internet); für die älteren Bestände mußte man die etwas umständlichen Mikrofiche-Lesegeräte nutzen. Davon abgesehen war die Bibliothek mit ihren langen Öffnungszeiten, der Freihand-Aufstellung und dem ausgezeichneten Service nicht nur für ein geisteswissenschaftliches Studium hervorragend geeignet. Für mein Magister-Nebenfach Wirtschaftswissenschaften mußte ich von der Geschichtswissenschaft auf der Bibliotheksebene nur ein paar Abteilungen weitergehen, vorbei an der Psychologie, der Soziologie und der Rechtswissenschaft. (Als ich 2003 nach Berlin/Potsdam kam, wurde mir im Vergleich der Bibliotheken noch einmal klar, was für ein Luxus dies war.) In der Geschichtsbibliothek gab es im Untergeschoß eine reichhaltige Zeitschriftenauslage, die mich schon in den ersten Semestern besonders anzog (was jetzt hoffentlich nicht bloß nachträgliche Selbststilisierung eines heutigen Zeitschriftenredakteurs ist). Hier konnte man hinter großen Glasscheiben in der Sonne sitzen (in Bielefeld regnet es weniger als in Münster…), neue Forschungen kennenlernen und gelegentlich auch Dozenten treffen, die ebenfalls bei den Zeitschriften stöberten.

Zum inhaltlichen Programm des ersten Semesters gehörte für mich eine Latein-Übung bei einem tollen Assistenten namens Tassilo Schmitt (heute Professor für Alte Geschichte in Bremen). Er war klug und witzig, verlor aber etwas den Humor, wenn ein Teil der Studierendengruppe in der für 8:30 Uhr angesetzten Übung mal wieder zu spät eintraf. Viele pendelten wie ich aus ostwestfälischen Kleinstädten und Dörfern nach Bielefeld, und weil die Stadtbahn-Anbindung der Uni seinerzeit erst im Bau war, kam es auf dem Weg mit Bahn und Bus nicht selten zu Verspätungen.

Für die geschichtswissenschaftliche Basisqualifikation prägend war in meinem ersten Semester ein „Grundkurs“ zur ländlichen Gesellschaft, der im Wintersemester mit dem Prümer Urbar (893) als Beispiel mittelalterlicher Grundherrschaft begann und sich im Sommersemester mit einem zweiten Teil zum 19./20. Jahrhundert fortsetzte. Diesen Kurs leitete Heinrich Rüthing (1937–2017), ein geborener Paderborner und überzeugter Westfale, eine Persönlichkeit, die wohl für fast jeden Bielefelder Geschichtsstudenten seit den 1970er Jahren in bestem Sinne eindrucksvoll gewesen ist – im Hörsaal und im Seminarraum, erst recht aber auf Exkursionen. Veröffentlicht hat er nach heutigen Maßstäben nicht allzu viel, aber als akademischer Lehrer, umfassend gebildeter Historiker und begeisterungsfähiger Forscher, war und ist er für mich unübertroffen (und die dankbare Erinnerung an ihn der eigentliche Grund, weshalb ich diesen kleinen Text überhaupt schreibe). Im ersten Semester sucht man ja nach Rollenvorbildern: Was macht einen Historiker aus, wie denkt, schreibt und spricht er? Als ich am Ende des Semesters meine erste Hausarbeit über eine Visitationsreise einer Herforder Äbtissin geschrieben hatte, wies mir Herr Rüthing einen Fehler bei einer Entfernungsangabe nach; er war in die Kartenabteilung der Bibliothek gegangen und hatte einige Stellen nachgeprüft. Das saß – zumal es seinem positiven Urteil über meine kleine Arbeit und seiner Bereitschaft, mich zu fördern, keinen Abbruch tat. Eine auf ganz andere Weise interessante Erfahrung war dagegen Hans-Ulrich Wehlers Freitagskolloquium, das ich mir wegen der oft vielversprechenden Themen und der unterschiedlichen Gäste schon ab dem ersten Semester gelegentlich anhörte. Das „agonale Prinzip“ von Wissenschaft, das dort üblich war, ist inzwischen vielfach beschrieben worden – am Anfang des Studiums vermutete ich, (Geschichts-)Wissenschaft sei immer so, bevor ich später und zum Glück noch rechtzeitig lernte, daß es auch anders geht.

Eine klare Fehlentscheidung war der anfängliche Versuch, mit Hilfe des Nebenfachs Anglistik meine eher dürftigen Englischkenntnisse zu verbessern. Sprachpraxis kam in diesem Fach zwar vor (unter Anleitung wenig motivierter Dozenten, die vermutlich schon lange Jahre dasselbe machen mußten), aber der Schwerpunkt lag auf literaturwissenschaftlichen Exegesen, die mich wenig bis gar nicht interessierten. Zudem brachten viele Studentinnen und Studenten hier familiäre Vorprägungen oder längere Auslandserfahrungen mit und waren sprachlich auf einem viel höheren Niveau als ich. Zum Glück gab es die Möglichkeit, als eines der beiden Magister-Nebenfächer auch einen historischen Epochenschwerpunkt zu wählen. Das bedeutete nur einen geringen Mehraufwand, erleichterte die Studienorganisation aber sehr. So kam es, daß ich neben Geschichte (dem epochenübergreifenden Hauptfach) in den folgenden Semestern dann auch Mittelalterliche Geschichte studierte.

Zeitgeschichte spielte in meinem ersten Semester keine besondere Rolle – das Bielefelder Angebot dazu war im Wintersemester 1993/94 gering. Christoph Kleßmann, den mir meine Geschichtslehrerin in der Oberstufe sehr eindrücklich empfohlen hatte, war bereits nach Potsdam gegangen. Erst in den folgenden Semestern übernahm Ingrid Gilcher-Holtey seine Nachfolge, und dies so dynamisch und mitreißend, daß sich meine Schwerpunkte bald doch stärker in die Zeitgeschichte verlagerten (sowie dank Jörn Rüsen zur Geschichtstheorie und Geschichtskultur). Im Rückblick muß ich auch eingestehen, daß meine zeithistorische Aufmerksamkeit zu Beginn des Studiums wohl nicht allzu hoch war: Obwohl ich mich für politische Ikonographie frühzeitig interessierte, ist mir die zeitgeschichtliche Bedeutung des großformatigen Chile-Solidaritäts-Wandbildes von 1976 vor dem Audimax in der Unihalle erst viele Jahre später aufgefallen und klar geworden – es gab dazu leider auch keine näheren Erläuterungen oder gar Lehrveranstaltungen. Ich betrachtete dieses Bild eher als buntes Inventar, nicht als historische Quelle. Immerhin hoben sich seine leuchtenden Farben sehr positiv ab von der Beton-Anmutung und (besonders abends) all dem herumliegenden Müll in der weitläufigen Unihalle. Es gab dort das bekannte Schwimmbad, eine Post und eine Sparkasse, die Mensa und eine Buchhandlung (die im Februar 2018 wegen mangelnder Lese- und Kaufbereitschaft leider aufgeben mußte), aber auch einen frappierend achtlosen Umgang mit dem eigenen Arbeits- und Lebensumfeld in der Universität. Daß man in der Unihalle damals noch rauchen durfte und viele (nicht nur die Raucher/innen) ihren Müll einfach unter sich fallen ließen, hat mich nicht nur im ersten Semester einigermaßen abgestoßen, zumal niemand nach den Arbeitsbedingungen des (meist migrantischen) Reinigungspersonals fragte.

Am Ende dieses Semesters, in der „vorlesungsfreien Zeit“, folgte für mich ein schönes Praktikum im Kommunalarchiv Herford. Zu den Vorteilen Ostwestfalens zählt, daß manches möglich ist, aber die Menge der Ablenkungen doch überschaubar bleibt. Auf die inzwischen auch ideengeschichtlich sondierte Frage „Was war Bielefeld?“ würde ich auf der persönlichen Ebene antworten: Zu Bielefeld gehörten mein erster akademischer Lehrer Heinrich Rüthing, eine intensive Zeit der Lektüre und viele Kontakte, die zum Teil bis heute andauern. Daß sich auch am Zentrum für Zeithistorische Forschung manche Ex-Bielefelder/innen finden, kann kein Zufall sein.

 

Jan-Holger Kirsch, Oktober 2018