Im Wintersemester 1999 begann mein erstes Semester an der Uni. Gerade aus der Armee entlassen, fühlte ich mich bei den Einführungsveranstaltungen sehr wohl – klare Ziele, klare Anweisungen. Brav trottete ich dem Tutoren-Team hinterher, dass uns die wichtigsten Orte der Universität zeigte. Das waren in erster Linie nicht etwa Audimax, Hörsäle oder Bibliotheken, sondern Mensa, Studienberatung und Fachschaft.
Ein paar nette ältere Dozenten sprachen von den großen Entbehrungen, die ein Geschichtsstudium mit sich bringen würde, und von den mindestens zehn Tageszeitungen, die man verteilt über den Tag so lesen solle, dazu gehörten nicht nur „FAZ“ und „SZ“ - nein, „Guardian“, „El Pais“, und „Le Monde“ (naturel-lemonde!) mussten es schon sein.
Als dann die erste Semesterwoche startete, war ich ziemlich verloren – räumliche und geistige Orientierung... Fehlanzeige. Wo war nochmal Raum 5072? Wieso gibt es überall im Hauptgebäude verborgene Zwischenetagen? In welchem Flügel bin ich eigentlich gerade?
Dann fand ich den Seminarraum. „Hitlers Weltanschauung“ lautete der Titel der Lektüre-Übung, die ich als erste Veranstaltung besuchte. Studierende jeden Semesters kamen hier zusammen, was sich dann auf eine Teilnehmerzahl von etwa 60 aufsummierte (etwa fünf Fußballmannschaften). Jede/r musste einmal referieren, die Texte sollten en détail diskutiert werden, organisatorischer Wahnsinn. Die Massenuniversität verschlang hunderte, tausende Studierende. Und spuckte viele wieder aus. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.
In der Übung meldeten sich die älteren Semester selbstbewusst, nannten Namen (Houston Stewart Chamberlain, Georg von Schönerer und Heinrich Treitschke) und warfen Worte wie „normativ“ (sagt das heut' noch einer?) in die Diskussionsrunde. Die jüngeren Semester schauten bedröppelt drein – für mich ein Blick in viele Spiegel. Wenige trauten sich, etwas zu sagen. Der Großteil schwieg – ob aus Ehrfurcht oder Angst ist nicht überliefert. Max Weber war damals ziemlich en vogue, mehr noch, das Statement ihn gelesen zu haben.
In meinem ersten Semester erlebte ich die Universität zunächst als einen Ort, der einschüchterte. Dozenten erschienen allwissend. Professoren wurden manchmal wie Säulenheilige verehrt, von einigen Vertretern der akademischen Öffentlichkeit auf so hohe Sockel gehoben, dass sie für uns „Erstis“ unerreichbar schienen. Na ja, so wirkte das jedenfalls auf den ersten Blick. Nach und nach erlebte ich die Universität als lebendigen, offenen Ort. Professoren rauchten mit Studierenden vor der Vorlesung auf dem Innenhof. Aktionsgruppen stürmten Seminare. Die Sommersemester rieselten wie feiner Sand durch Finger, während man auf der Wiese in der Sonne saß und lateinische Vokabeln büffelte. Und ehe ich mich versah, war ich selbst ein „alter Hase“.
Thomas Werneke, Oktober 2018