von Martin Schmitt

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15. Oktober 2018

Das Problem mit dem Stundenplan

 

Im Wintersemester 2005/2006 begann ich mein Studium an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Ich kombinierte Informatik und Geschichte als Magisterstudiengang, was seinerzeit weder naheliegend noch unkompliziert war. Informatik versteht sich fachlich im Sinne der Mathematik zwar als Geisteswissenschaft, ist aber merklich naturwissenschaftlich strukturiert. Das galt auch im ersten Semester. Einige meiner Freunde, die keinen Wehr- oder Zivildienst leisten mussten, hatten bereits zu studieren begonnen. Und zwar Naturwissenschaften. Auch sie sagten mir: „Den Stundenplan bekommst du zugeschickt“.

 

Wie zur Bestätigung bekam ich den Stundenplan in Informatik wie in der Schule rechtzeitig vom Studentensekretariat zugeschickt. Nur der aus Geschichte fehlte einige Tage vor Semesterbeginn immer noch. Ich dachte mir nichts dabei. Aus reiner Neugierde ging ich am Freitag vor Semesterbeginn in den Hegelbau, das grau-betonerne Geschichtsinstitut der Tübinger Universität. Ich wollte wissen, wo ich die nächsten fünf Jahre meines Lebens verbringen würde. Ich stach in ein Bienennest.

 

Erschreckte Studierende rannten verzweifelt durch das Institut. Alle Proseminare und Übungen seien bereits ausgebucht! Natürlich gab es keinen vorgefertigten Stundenplan. Ich versuchte mein Glück im Sekretariat der Zeitgeschichte. Keine Chance. „Aber probieren Sie es doch mal im 19. Jahrhundert.“ Die „Revolution von 1848“ klang doch gut. Im Sekretariat des 19. Jahrhunderts bot man mir an, mich dafür auf die Warteliste zu setzen. Platz 32. Das brachte also auch nichts. „Aber probieren Sie es doch mal im Institut für Osteuropäische Geschichte“, meinte die Sekretärin. Dort würde „Technik und Kultur der Sowjetunion“ angeboten. Osteuropa! Europas Osten war für mich damals Mitte der 2000er so weit weg wie Gerhard Schröder von der Wiederwahl. Aber es gab keine andere Möglichkeit.

 

Durch eine schwere Kunstholztür im Erdgeschoss betrat ich das Institut. Russische Sprachfetzen hallten über einen mit altgrünen Zeitschriftenbänden gesäumten Gang. Im Sekretariat stand neben mir ein Mann, als ich die Sekretärin fragte, ob denn im Proseminar noch ein Platz frei sei. Der Mann drehte sich schwungvoll um, streckte mir seine breite Pranke entgegen und begrüßte mich: „Ich bin Klaus Gestwa. Ich freu mich, dich in meinem Seminar zu begrüßen.“ Heute ist Klaus Gestwa Professor und Institutsdirektor des Instituts – und ich schreibe meine Dissertation unter anderem über Deutschlands Osten.

 

Martin Schmitt, Oktober 2018