von Annette Schuhmann

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15. Oktober 2018

Ich begann im April 1990 an der Freien Universität Berlin zu studieren, Geschichte und Südosteuropäische Geschichte, außerdem Politologie. Ein Jahr zuvor war ich aus der DDR ausgereist, ein halbes Jahr vor Beginn des Semesters war die Mauer gefallen: aufregende Zeiten.

Woran erinnere ich mich, wenn ich an mein erstes Semester denke?
Ich erinnere mich an eine unglaublich hässliche, in viele Gänge unterteilte Rostlaube, die aussah wie ein notgelandetes Raumschiff inmitten westdeutscher Vorgarten-Idylle. Selbst die U-Bahn-Linie, die dort landete, wirkte klein und dörflich. Ich habe dieses Gebäude bis zum Ende meines Studiums (und das dauerte lange) nicht verstanden. Zentrale Orte waren für mich der K-Gang (was für ein Wort), der Rosa-Salon, das einzige wirklich nette Café, und die Fachbereichsbibliothek.

Es gab wenig Schönheit an diesem Ort, einzig die unglaubliche Magnolie in dem kleinen Hof, der zur Bibliothek führte, erinnerte daran, dass es Eleganz und Freundlichkeit geben konnte. Ich erinnere mich an das mit zäher Unfreundlichkeit und einem ungeheuren Maß an Ineffizienz agierende Verwaltungspersonal und an ein hoffnungslos überaltertes, nahezu ausschließlich männliches Kollegium. Ältere Herren, die ihre Lehrveranstaltungen mit dem immer gleichen Titel seit Jahren wiederholten, denen das Erlernen der richtigen Zitierform wichtiger war als die Liebe zum Fach. Wirkliche Leidenschaft, die Fähigkeit uns Studierende zum Staunen und zum Lernen zu bringen, wie überhaupt ein Interesse an der Lehre, erfuhr ich in diesem ersten Semester vor allem von den Alt- und Mittelalterhistorikern.
Was Geschichtswissenschaft auch in der Praxis leisten kann, habe ich in diesem ersten Semester in einem Tutorium begriffen. Ein Student im Hauptstudium, aus unserer Sicht also ein ganz alter Hase, hat genau das vermittelt, was ich mir von einem Studium der Geschichte so sehr erhofft habe: die Fähigkeit, eine Verbindung herzustellen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dieser Tutor tobte mit uns durch die Ruinenlandschaft des Botschaftsviertels am Tiergarten, ließ uns wilde Rezensionen schreiben (meist Verrisse) und diskutierte mit uns die Idee, Texte zu schreiben, die Menschen lesen wollen und verstehen können. Er ging mit uns durch die Stauffenberg-Gedenkstätte in einer Weise, die meilenweit vom üblichen GeschichtslehrerInnen-Habitus entfernt war. Er hatte Spaß an der gemeinsamen Arbeit mit Studierenden und war schon allein deshalb ein schillernder Exot am Friedrich-Meinecke-Institut.
Man muss sich das Jahr 1990 noch einmal vor Augen halten: In Mittel-, Ost- und Südosteuropa brachen ganze staatssozialistische Länder zusammen bzw. auseinander, und im verrosteten Raumschiff in Dahlem-Dorf schien das niemanden zu interessieren.

Ich erinnere mich außerdem an eine große Verunsicherung bei vielen Studierenden, an ein allgemeines Gefühl der Fremdheit, an die Anonymität, die eine Massenuniversität mit sich bringt, an meine Aufregung, als ich mein erstes Referat vor siebzig Studierenden meiner Seminargruppe halten musste. Ich war so verängstigt, dass ich dachte, ich werde ohnmächtig. Ich erinnere mich an Veranstaltungen des AStA, die in der Regel todernst und kämpferisch verliefen, aber irgendwie den FDJ-Versammlungen in meiner Jugend ähnelten. Dagegen war die viel kleinere Unabhängige ErstsemesterInnen-Gruppe (sie hieß wirklich so) lustig, einfallsreich und solidarisch gegenüber anderen Verunsicherten.
Vor allem jedoch erinnere ich mich an das Glück, das ich empfand, endlich, endlich Geschichte studieren zu dürfen, dort angekommen zu sein, wo ich so lange schon hin wollte.

Annette Schuhmann, Oktober 2018