von Niklas Poppe

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27. August 2019

Ines Geipel, ehemalige DDR-Leichtathletin, ist Schriftstellerin, Publizistin und Professorin für Verskunst an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Sie hat eine ganze Reihe Romane verfasst, widmet sich aber auch immer wieder gesellschaftspolitischen Themen wie dem Zwangsdoping, dem Amoklauf von Erfurt und der Zeitgeschichte der DDR. Als Leichtathletin war sie selbst Opfer des staatlichen Zwangsdopings. Nachdem der Staatssicherheit im Jahr 1984 ihre Fluchtabsichten bekannt wurden, ließ das MfS Geipels Karriere durch einen medizinischen Eingriff zerstören. Im Sommer 1989 floh sie über Ungarn in die Bundesrepublik.
In Darmstadt studierte Ines Geipel Soziologie und Philosophie. Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit war sie Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfevereins und veröffentlichte Literatur von Autor*innen, die in der DDR unterdrückt wurden.
In ihrem jüngsten Buch „Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass“ verzahnt sie Familiengeschichte mit deutscher Zeitgeschichte. In vielen Medien wurde das Buch zu einem „der wichtigsten Bücher des Jahres“ erklärt. Im Gespräch mit Niklas Poppe schildert Ines Geipel ihre Sicht auf die gegenwärtige politische Entwicklung im Osten, den Stand der Aufarbeitung von DDR-Unrecht und die Instrumentalisierung der ostdeutschen Geschichte.

 

 

Niklas Poppe: In letzter Zeit sind in Bezug auf die politischen Entwicklungen in Ostdeutschland verschiedene Entlastungserzählungen en vogue: Gesprochen wird von Diskriminierungserfahrungen, „Bürgern zweiter Klasse“ und „Integrationsbedürftigen“. Sie sind im Sommer 1989 in den Westen geflohen. Haben Sie selbst solche Erfahrungen gemacht?
 

Ines Geipel: Ich bin nach Darmstadt geflohen, und natürlich war der Anfang dort haarig. Das hatte aber in erster Linie mit mir, mit meinem Inneren, zu tun. Eine Flucht ist nunmal eine Flucht. Darüber hinaus war der Westen vollständig, er brauchte den Osten nicht. Die Verstörung war da, aber sie war auch im Alltag da. Es fing ja schon mit einem Fahrkartenautomaten an. Wie kommt das Ticket denn da nun raus? Ich hatte null Ahnung. Die Kultur des Westens, das Leben war für mich komplett neu. Außerdem verstand ich die Hessen und ihre Sprache nicht. Kurzum: Ich brauchte eine Weile, um im Neuen anzukommen. In dieser Zeit habe ich unwahrscheinlich viel gejobbt, in Darmstadt studiert, und gleichzeitig war mir natürlich klar, dass ich als Schriftstellerin mit meinen ostdeutschen Themen ab einem bestimmten Zeitpunkt nach Berlin musste. Das hatte mit den Archiven zu tun, aber es hatte auch mit meiner inneren Anbindung an den Osten zu tun. Jemand, der bewusst weggegangen ist und sich von einem System und seinem Leben in ihm verabschiedet, will nicht die Rückbindung an das Alte. Das System rutscht weg, und du bist draußen. Aber dann ging es um Sortierung, um historische Auswertung, um Neuordnung. Nein, dabei habe ich mich keine Sekunde gedemütigt oder als „Bürgerin zweiter Klasse“ gefühlt. Die Frage hat sich überhaupt nicht gestellt.
 

NP: Sie haben den Niedergang der DDR vom Westen aus verfolgt, haben aber gleichzeitig Kontakt mit der Bürgerrechtsszene gehabt. In Ihrem neusten Buch wird auf einen Bekannten aus jener Szene verwiesen, der nun der AfD sehr nahesteht. Medien wie der Spiegel hatten bereits zuvor über die Anbindung ehemaliger DDR- Bürgerrechtler*innen an die AfD berichtet. In Anbetracht der Größe dieser Szene erscheint die damalige Berichterstattung extrem selektiv. Haben Sie tatsächlich den Eindruck gewonnen, dass es Tendenzen hin zur AfD aus der Szene gibt?
 

IG: Die Szene ist groß und sehr verschieden, die Spannbreite unglaublich. Gleichwohl habe ich es in den letzten fünf Jahren, also seit 2015, immer wieder erlebt, dass ehemalige Dissidenten mich angesprochen und gesagt haben: „Hast du das immer noch nicht verstanden? Wir leben längst in der dritten Diktatur.“ Ja, klar, es gibt diese Klientel, es wäre ja auch verwunderlich, wenn nicht. In meiner Wahrnehmung hat das viel mit dem Nicht-Ankommen im Jetzt zu tun, mit dem nicht wahrgenommenen eigenen Rückgrat zu DDR-Zeiten. Da geht es um Lebensbrüche, verunmöglichte Chancen, und wenn die von der Gesellschaft auf lange Zeit nicht wahrgenommen werden, wird das zur Einflugschneise, um eine andere politische Richtung einzuschlagen. Das ist mir auch bei einigen Mitarbeitern in Hohenschönhausen aufgefallen, die ich jetzt nicht der AfD zusprechen möchte, aber es gibt da doch eine Offenheit, den jetzigen Zustand der Demokratie im Kern infrage zu stellen.
 

NP: In Bezug darauf wirkt es äußerst fremd, wenn Menschen, die direkt unter der Staatssicherheit und den Repressionen gelitten haben, die Parallele zur DDR so stark ziehen. Warum kommt es gerade bei  früheren Gegner*innen und Opfern der DDR zu der Ansicht, man lebe erneut in einer Diktatur, einer „DDR 2.0“?
 

IG: Ich kann das nur aus einem Konzentrat der Gespräche heraus entwickeln: In meinen Augen geht es noch immer um die Leidensgeschichte des Ostens: 300.000 politische Häftlinge, die Toten an der Mauer, 75.000 wegen Flucht Inhaftierte, eine halbe Million in Kinderheimen, Millionen Flüchtlinge. Da ist so viel gebrochenes, zerrissenes, klein gemachtes, zerstörtes Leben. Und daran wiederum hängen Ehen, Kinder, Freunde. Das sind unendliche innere Seelenzeitschienen.

Was will ich sagen? Wir sehen heute, dass wir uns das Ganze nach 1989 leichter vorgestellt haben. Die Revolution war da, die Einheit auch, also, wo ist das Problem? Mittlerweile wird klar, dass das naiv war, dass man so salopp nicht über mehr als fünfzig Jahre Diktaturgeschichte hinwegkommen kann, selbst wenn der Wunsch groß war. Nein. Es geht um staatlich verursachte Traumata, die wir nur schwer loswerden, und um die wir als Ost-Gesellschaft nicht trauern konnten, weil dieser innere Kern nach 1989 immer wieder überschrieben und auch instrumentalisiert wurde. Deshalb kann man im Grunde das alte DDR-Kollektiv heute recht umstandslos neu aufladen. Man kann es neu formatieren. Das haben die Linken bis 2015 gemacht, und das schafft die AfD nun noch leichter. Es ist eine schiefe und auch perfide Identitätspolitik. Doch je schiefer und blöder die Bilder, die aktuell benutzt werden, umso größer die Erfolge der Populisten. Das ist emotionale Schizophrenie.
 

NP: Ähnlich paradox wirkt der Erfolg der AfD, da die ostdeutsche Gesellschaft nun mal eine Fluchtgesellschaft war und ist. So gut wie jede ostdeutsche Familie hat in einem Familienteil eine Fluchtgeschichte: Millionen, die nach dem Krieg aus den Ostgebieten flohen, jährlich hunderttausende gen Westen Fliehende vor dem Bau der Mauer und wiederum Hunderttausende im Zuge des Sommers 1989. Persönlich ist es kaum zu begreifen, wie auf diese Fluchten – etwa der Eltern oder Großeltern nach dem Krieg – verwiesen wird und die resultierende Schlussfolgerung ist: Geflüchteten wird heute zu viel geboten. Nach dem Motto: „Uns ging es damals schlecht, den anderen soll es doch bitte genauso schlecht gehen“. Wie erklären Sie sich diese „emotionale Schizophrenie“?

 

IG: Wenn man sich jetzt anschaut, wer bei den Landtagswahlen an der Urne steht, dann sind das in meiner Wahrnehmung vier Generationen: die Kriegskinder, die Kriegsenkel, die Einheitskinder und die Millennials. Und was ich da vor allem höre, ist ein sehr lautes Nichtgespräch zwischen den Generationen. Ich finde schon, dass wir im Osten auch mal über das Thema Neid sprechen müssten. Chancenneid, aber eben auch Erfahrungsneid. Die Kriegskindergeneration hatte es biografisch mit '89 ohne Frage am schwersten. Sie waren um die fünfzig, und in dem Moment, wo sie richtig durchstarten konnten, kam der große Bruch. Die Kriegsenkelgeneration dagegen, laut Soziologen die glückliche Generation, ist heute die Kernwählerschaft der AfD, die in der Regel gut verdient und aus dem Wohlstand heraus politisch agiert. Ich meine, dass wir im Osten ein Stück weit den moralischen Kompass verloren haben, das hat sehr viel mit Nichtaufarbeitung der doppelten Diktaturerfahrung zu tun. Damit setze ich die eine Diktatur nicht gleich mit der anderen, aber für mich stellt sich schon die Frage: Wie hat sich das eigentlich im Inneren gestaltet? Da ist die Terror-, die Unterwerfungszeit der frühen 50er Jahre, als das System auf die Angstschiene gesetzt wurde, etwas sehr Prägendes, weil es etwas Transgenerationelles hat. Die Kriegskinder haben diese Angst an ihre Kinder weitergegeben, und wenn ich mir die beiden Folgegenerationen, die jetzt wählen gehen, anschaue, dann sind auch sie zwangsläufig Generationen mit starken Rissen, was Diktaturgeschichte angeht. Nur sagen wir das nicht. Wir reden immer von Demütigung nach 1989. Aber was ist mit den Demütigungen vor 1989 und ihren Weitergaben? Ich finde schon, dass es sich lohnen würde, den historischen Blick anzusetzen, um dem, was im Osten jetzt so entzündlich ist und so verrutscht, etwas entgegenzusetzen. Wir brauchen kein zweites Spaltungssyndrom: Hier der Westen, der nur noch genervt abwinkt, wenn es um den Osten geht. Da der Osten, der sich immer mehr mit Zorn auflädt. Damit kommen wir keinen Schritt weiter.
 

NP: Der Faschismusbegriff in der DDR war etwas, das man mitunter nur schwer annehmen konnte: der „antifaschistische Schutzwall“, der Volksaufstand des 17. Juni umgedeutet als faschistischer Putsch, der rote Antifaschismus. Neonazis gab es laut SED nur im Westen. Fehlt im Osten vielleicht immer noch der Blick auf das, was Rechtsextremismus konkret bedeutet? Man hat das Gefühl, dass es so etwas in den Augen der AfD und ihrer Wählerschaft gar nicht geben kann.
 

IG: Deshalb wollte ich in meinem Buch insbesondere die Kontinuitäten von Gewalt und Verdrängung beschreiben, nicht nur in der DDR, sondern ab 1933. Unweigerlich stößt man auf den integrierten Nazi, der immer da war. Wo sollte der auch hin? Und der in den 1980er Jahren dann auf den Straßen und auch in den Schulen sehr sichtbar wurde. Gut, da konnte man noch sagen, das war eine Art Revolte gegen das System, aber die Gewaltbereitschaft, der Hass, das Spiel mit den Nazisymbolen war schon sehr manifest und brach mit 1989 dann mit aller Wucht auf. Nach den Ausschreitungen Anfang der 1990er gab es viel Aufschrei, immer dieses kurzatmige Erschrecken, und kaum war das medial abgefrühstückt, ging es weiter. Eine Art politischer Stand-By-Modus, wo man sich sagen konnte: Ach, geht mich doch alles nichts an. Darüber sind 30 Jahre vergangen. Ist doch auffällig, dass keine einzige Partei ein seriöses Konzept gegen die Gewalt im Osten entwickelt hat. Es war nicht wichtig genug. Diese wirklich sehr anders gewachsenen politischen Lebenshäute, die 1989 kollidierten, sind nie wirklich unter den Voraussetzungen einer so langen Diktaturerfahrung angeschaut worden. An der Stelle muss natürlich gesagt werden, dass der Westen unter ganz anderen Bedingungen auch ewig gebraucht hat. Und wenn man in die Familien im Westen hineinschaut, kann man auch nicht gerade sagen, dass die Dinge solide geklärt sind. Dennoch hat es die alte Bundesrepublik in den Achtzigern bis zum antitotalitären Konsens geschafft und damit auch die wirkliche Opfergeschichte ins Zentrum der Gesellschaft gerückt. Das war dann aber 1989 alles so frisch und fragil, dass man die Wucht, die aus dem Osten kam, gar nicht schaffte, zu durchleuchten.

Jetzt sind 30 Jahre rum, und ich bin doch der Ansicht, dass der Osten sich im Inneren im Kern verschieben würde, wenn es uns gelänge, den Holocaust und die wirkliche Opfergeschichte des Ostens als eigentliche Erzählung einer Gesellschaft zu setzen. Das wäre dann endlich auch nicht mehr Osten und Westen, sondern eine deutsch-deutsche Geschichte. Das allerdings würde ein echtes Interesse auch des Westens voraussetzen. Denn wieso leistet sich der Westen den „dunklen, bösen“ Osten überhaupt? Warum ist es möglich, dass Kalbitz, Höcke, Gauland, Weidel, Storch aus dem Westen den Osten dermaßen politisch missbrauchen? Wohlwissend, dass der Osten mit der Einsortierung seiner eigenen Geschichte noch schwer zu kämpfen hat. Das ist doch abstoßend. Bei vielen Themen kommen wir kein Stück voran, im Gegenteil, es gibt enorm viel politische Erosion. Regelrechte Regression. Das merkt man auch in den Veranstaltungen. Auf einmal spielen die DDR-Nation oder Nationalhelden wie Täve Schur eine große Rolle.

 

NP: Fühlen Sie sich als Nestbeschmutzerin? Wird Ihnen das vorgeworfen?
 

IG: Sicher. Ich fühle mich nicht so, aber ich soll es wohl sein. Nestbeschmutzerin oder Volksverräterin. Das Thema mit den Sportopfern etwa ist als politisches Projekt auch an die Wand gefahren worden. Ich schaffe es gar nicht, das persönlich zu nehmen, aber das verbissene Schweigen des Ostens im Hinblick auf jene, die in die Mühle geraten sind oder das System nicht überlebt haben, ist nur schwer erträglich, in jedem Fall nicht hinzunehmen.
 

NP: In der Tendenz wird das Schweigen zu Missständen in der DDR und den politischen Opfern von einer aktiven Ostalgiewelle abgelöst. In den stärker werdenden Stimmen wird festgehalten: Unser Leben war doch ganz gut. Hier sind die Opfergeschichten nicht mehr enthalten. Es wird mitunter erzählt, das gehöre nicht zur eigenen, zu „unserer“ DDR-Geschichte.
 

IG: Das meine ich ja mit Rollback. Im Oktober läuft etwa in Berlin die Veranstaltung „Die DDR als glücklichste Epoche der deutschen Geschichte“, Hauptreferent Egon Krenz. Ausgerechnet am 9. Oktober spricht Gregor Gysi in Leipzig. Es sind ja vor allem auch die beiden jungen Generationen, die das gut und richtig finden und die Verpittiplatschisierung, die Märchenidee DDR, forcieren. Dabei wird über die Geschichte und den Schmerz der Opfer aufs Härteste hinweggelatscht. Dieses Fremdhalten der Schmerzgeschichte des Ostens finde ich ziemlich beunruhigend.
 

NP: Oft ist da der Reflex zu finden, es würde pauschal über „die Ostdeutschen“ geurteilt, wenn eigentlich sehr konkrete Probleme angesprochen werden. Warum spielt dieses kollektive Identitätsdenken 30 Jahre nach dem Mauerfall noch eine so große Rolle?
 

IG: Gerade diese vier Generationen, die ich schon angesprochen habe, haben natürlich eine sehr intensive Geschichte miteinander, wenn es um den Echoraum Ost geht. Da spielt 1989 als Zeitschnitt eine zentrale Rolle. Durch ihn haben sich die beiden jüngeren Generationen stark mit der Elterngeneration identifiziert. Verunsicherung und Ängste spielen da mit ein. Vielleicht muss man den Jüngeren mal sagen, dass sie keine Schuld haben, an der Geschichte nicht und auch an den Irrwegen ihrer Eltern nicht. Sie dürfen sich lösen, sie dürfen den Opfern einer Diktatur, in der die Eltern versehrt wurden, die Hand geben. Dieser private Schritt wäre schlagartig auch ein sehr politischer.
   

NP: Wie bewerten Sie die jüngst aufgekommene Diskussion in der FAZ über die Gewichtung der Akteure und die Entwicklung von '89 sowie die Rolle der Bürgerrechtsbewegung?
 

IG: Die Diskussion hat etwas sehr Symptomatisches, ich meine dahingehend, wie wenig geklärt ist. Andererseits denke ich, dass eine Revolution, die die Welt verändert hat, nicht zwischen Berlin und Leipzig erzählt werden kann. Wem gehört die Revolution? Eine Frau, die irgendwo in einem bayrischen Dorf dreißig Jahre lang Päckchen gepackt und in den Osten geschickt hat, gehört doch auch in diese Revolution. Kurzum: Wir machen diese Debatte unwahrscheinlich eng. Meine Sympathie gehört natürlich der Bürgerrechtsbewegung. Ihre enorme Leistung darf nicht zur Diskussion stehen. Trotzdem finde ich erstaunlich, dass wir in all dem nicht weiter sind.
 

NP: Dass anscheinend zu wenig geklärt ist, macht sich die AfD nun zunutze: Höcke und Kalbitz suggerieren im Wahlkampf, dass sie für die jetzige Situation '89 nicht auf die Straße gegangen wären. Der eine befand sich zu jener Zeit in Hessen, der andere in Bayern.
 

IG: Der Treppenwitz der Geschichte.

 

Ines Geipel: Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2019, Gebunden, 377 Seiten, 20,00 EUR.