von Annette Vowinckel, Annelie Ramsbrock

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19. November 2020

Das digitale Semester 2020. Herausforderungen, Chancen und Ideen für die Zukunft der universitären Lehre. Ein Themenschwerpunkt auf zeitgeschichte|online

Die Interviews wurden schriftlich durchgeführt.

 

zeitgeschichte|online (z|o): Welche Seminare haben Sie im Sommersemester 2020 an einer Universität angeboten?

 

Annette Vowinckel (AV): Ich habe ein Masterseminar zum Thema "Mit Harry Potter durch das 20. Jahrhundert" angeboten.

Annelie Ramsbrock (AR): Ich habe an der Universität Göttingen ein Proseminar zur Europäischen Zeitgeschichte angeboten, ein BA-Seminar zu Human-Animal-Studies und ein Masterseminar zum Körper als Quelle und Methode der Geschichtswissenschaft. Hinzu kamen ein Forschungskolloquium und ein BA-Kolloquium.

 

z|o: Welche Vorerfahrungen hatten Sie mit digitalen (Lehr-)Angeboten?
 

AV: Ich arbeitet seit mehr als 10 Jahren mit Moodle, habe aber noch nie per Videokonferenz unterrichtet.

AR: Keine.

 

z|o: Haben sich Lernziele- und Methoden durch die digitale Lehre verändert?
 

AV: Am Ende weniger als ich gedacht hätte. Ich habe mal ein Quiz in den Kurs eingebaut und ein paar Aufgaben schriftlich bearbeiten lassen, aber Kern der Veranstaltung war die Diskussion im virtuellen Seminarraum.

AR: Für mich haben sie sich nicht geändert, weil ich meine Seminare per Zoom auf die gleiche Art und Weise abgehalten haben wie im Seminarraum.

 

z|o: In welchen Formaten haben Sie Ihre Lehrveranstaltung organisiert? Stichwort Blended Learning? Und woran haben Sie sich bei Gestaltung der Lehrformate orientiert? Gab es beispielsweise Erfahrungen aus anderen Ländern, die Sie übernehmen konnten?
 

AV: Siehe oben: ich habe einige Details für die online-Nutzung adaptiert, aber das hat die Lehre nicht grundsätzlich verändert.

AR: Meine Seminare haben ausschließlich per Zoom stattgefunden. Ich habe mich nicht an den Erfahrungen anderer orientiert.

 

z|o: Was sollten die Studierenden, im Unterschied zu den sonst üblichen Präsenzveranstaltungen aus IhrerLehrveranstaltung mitnehmen?
 

AV: Es hat sich gezeigt, dass einige Studierende große Probleme damit haben, sich vor einem Computer zu artikulieren. Ich hoffe, dass sich das im Lauf des Semesters etwas gebessert hat, aber ich fürchte, dass die Abneigung bei einigen eher grundsätzlicher Natur ist. Insgesamt hoffe ich, dass das Online-Semester die Medienkompetenz der Studis gefördert hat, aber das ist eher ein Wunsch als eine Feststellung.

AR: Tatsächlich habe ich hier keinen Unterschied gesehen und die gleichen Inhalte vermittelt wie in Präsenzveranstaltungen.

 

z|o: Wie war das Feedback der Studierenden auf die Seminare?
 

AV: Sehr unterschiedlich. Einige waren sehr dankbar dafür, dass sich mein Seminar jede Woche im Zoom-Raum getroffen hat, so dass man miteinander sprechen konnte (statt am einsamen Schreibtisch einsam Aufgaben zu bearbeiten). Andere haben sich sehr schwergetan damit, sich zu Wort zu melden. Bei vielen hat auch die Datenübertragung schlecht funktioniert, so dass sie ohne Kamera dabei waren und sich deutlich weniger zu Wort gemeldet haben als die, die mit Bild präsent waren.

AR: Ich habe im Laufe des Semesters mehrfach nachgefragt, ob die Studierenden ein anderes Format bevorzugen würden. Mir wurde durchgehend versichert, dass ein Seminar per Zoom wesentlich angenehmer sei als ein schriftliches Format, oder eine Diskussion im Chat. Die Studierenden wollten sich gegenseitig sehen und miteinander reden und diskutieren. Das käme der Seminarsituation am nächsten. Am Ende des Semesters haben mir Studierende vielfach dafür gedankt, dass ich auch im online-Format die Seminarsituation in Präsenz so gut es geht versucht habe aufrechtzuerhalten und sie so Kontakt zu Kommiliton*innen haben konnten. Vor allem für Erstsemester war das wichtig.

 

z|o: Gab es Einzelgespräche mit den Studierenden?
 

AV: Ja – ich habe mehrere Sprechstunden angeboten, und ich habe auch nach Semesterende noch zwei Sprechstunden und einige individuelle Beratungsgespräche durchgeführt.

AR: Ja, nach jeder Sitzung habe ich eine Sprechstunde angeboten, in der die Studierenden Hausarbeiten oder sonstige Anliegen besprechen konnten.

 

z|o: Wie überhaupt war der Verlauf der digitalen Diskussionen?
 

AV: Im Vergleich zu "normalen" Diskussionen oft eher etwas schleppend. Im Grunde haben sich immer die gleiche 5,6,7 Personen zu Wort gemeldet. Mit der Textlektüre hat es bei vielen gehapert, weil man digital noch besser untertauchen kann als im Seminarraum. Im Lauf des Semesters hat sich auch eine Art digitale Müdigkeit ausgebreitet, auch bei mir selbst. Die Referate im Kurs waren allerdings teilweise auf sehr hohem Niveau.

AR: Die digitale Diskussion verlief sehr gut, teils war sie ebenso munter wie im Seminarraum. Technische Schwierigkeiten gab es zum Glück kaum. Und eine Scheu vorm online-Format konnte ich nicht feststellen, allenfalls anfänglich bei mir selbst.

 

z|o: Die Alt-Historikerin Lisa Pilar Eberle berichtet über ihr digitales Semester an der Universität Tübingen, dass sie noch nie so viel emotionale Arbeit geleistet habe wie in diesem Semester. Sie habe in  Sprechstunden und per E-Mail mit Studierenden „darüber geredet, wie schwierig es sein kann, an den Leistungen für das Studium zu arbeiten, wenn man gleichzeitig persönliche Probleme hat. [...] Wir haben über den Umgang mit dem Tod und mit psychologischen Problemen gesprochen. In der Präsenzlehre war mir das so noch nie passiert.“
Haben Sie vergleichbare Erfahrungen gemacht?

 

AV: Nicht im Seminar, aber mit einer Masterkandidatin, die aus Estland kommt und die in Berlin quasi gestrandet ist. Mit ihr hatte ich zu Beginn des Lockdowns ein sehr intensives Gespräch darüber, wie es weitergehen kann, was es für sie heißt, weit weg von ihrer Familie zu sein und nicht zu wissen, wann sie wieder nach Estland kann – ohne zu riskieren, dass sie dann nicht nach Deutschland zurückkommt. Ich hatte den Eindruck, dass es für nichtdeutsche Studierende noch viel schwieriger war als für die, die hier zu Hause sind.

AR: In der digitalen Sprechstunde ja. Viele Studierende saßen bei ihren Eltern, gaben Einblicke in den privaten Raum preis und sahen nicht die Kommiliton*innen, die sonst vorm Büro während der Sprechstundenzeiten warten, um als nächstes dran zu kommen. Zudem habe ich häufiger als sonst gefragt, wie sie mit der Studiensituation klarkommen. Entsprechend häufiger habe dann auch von Problemen gehört, die von fachlichen bis zu persönlichen Problemen reichten.

 

z|o: Der professionelle/traditionelle Rahmen des universitären Seminars fiel im letzten Semester weg. Wo überall haben Sie die Studierenden angetroffen? Und wo haben diese Sie angetroffen?
 

AV: Überwiegend im Zoom-Raum, aber gelegentlich auch zu Gesprächen im Grimm-Zentrum.

AR: Ich war während meiner Seminare zu Hause in meinem Arbeitszimmer, die Studierenden wahlweise bei ihren Eltern, häufig auf der Terrasse oder in ihren eigenen Göttinger Wohnungen.

 

z|o: Wie haben Studierende auf Ihr Lehrangebot reagiert? Ist der Kurs beispielsweise zahlenmäßig geschrumpft?
 

AV: Ich hatte über 100 Anmeldungen, von denen ich 70 zugelassen habe, bevor mir der Studienkoordinator mein Agnes-Account gesperrt hat. Ich habe die Gruppe dann in zwei geteilt, regelmäßig anwesend waren davon 40 bis 50. Das ist nach meiner Erfahrung eine ganz normale Fluktuation Ein Teil war nur nominell anwesend, aber das ist ja immer so – auch im Seminarraum.

AR: Nein, die Kurse waren voller als sonst, weil sich rasch herumgesprochen hatte, dass ich Diskussionen wie gehabt führe und sie nicht durch schriftliche Textarbeit ersetze.

 

z|o: Gab es Probleme mit der Technik? Wie wurden Sie von Seiten der Universität unterstützt?
 

AV: An der HU hat die Technik außerordentlich gut funktioniert. Die Uni hatte mit Zoom offenbar auf das richtige Pferd gesetzt, und die Sicherheitseinstellungen waren vom CMS zentral so gesetzt worden, dass die Sache auch datenschutzrechtlich aus meiner Sicht vertretbar war. Der Zoom-Raum besteht auch immer noch, ich kann mich darin jederzeit mit Studis verabreden. Außerdem habe ich meine Zoom-Räume ja auch vielen ZZF-Kolleg*innen zur Verfügung gestellt, zum Beispiel für Betriebsratssitzungen. Mit Moodle arbeite ich seit langer Zeit auch sehr gern und habe auch noch ein paar neue Features entdeckt (z.B. die Vergabe von Sprechstundenterminen, Umfragen, Quiz). Dass Zoom direkt in den Moodle-Kurs integriert ist, ist sehr benutzerfreundlich. Nur dass ich die Scheine immer noch auf Papier ausstellen und scannen muss, statt die Noten digital einzugeben, finde ich ein bisschen rückständig.

AR: Es gab keine Probleme. Die Uni Göttingen hat mir Zoom und BBB (Webkonferenzsystem) zur Verfügung gestellt.

 

z|o: Gab es in den Bibliotheken genügend Arbeitsplätze für die Studierenden, die von zu Hause nicht arbeiten konnten?
 

AV: Das Grimm-Zentrum war meines Wissens bis etwa Mitte Juli vollständig gesperrt, man konnte nur Bücher abgeben oder abholen. Wie die Lage jetzt ist, weiß ich nicht. Ich habe deshalb sehr viel Zeug aus meinem eigenen Bücherregal in der Lehre eingesetzt.

AR: Die Bibliotheken waren zunächst geschlossen und dann auch nur bedingt begehbar.

 

z|o: Wir gehen davon aus, dass das digitale Semester eine gutes Stück Mehrarbeit bedeutet. Wurde das adäquat kompensiert?
 

AV: Nein. Da ich aber sowieso zum Nulltarif und während meiner regulären Arbeitszeit lehre, macht das bei mir auch keinen Unterschied.

AR: Nein.

 

z|o: Knapp 6000 Hochschullehrende haben einen offenen Brief zur „Verteidigung der Präsenzlehre“ verfasst. Wie ist Ihre Meinung dazu? Siehst Du beispielsweise Anzeichen dafür, dass Hochschulen, vor dem Hintergrund ihrer wirtschaftlichen Situation, die digitale Lehre und/oder Verwaltungshandeln auch ohne zwingende Gründe beibehalten wollen?
 

AV: Grundsätzlich finde ich, dass die Verteidigung der Präsenzlehre gut und richtig ist. Vor allem der Aspekt der sozialen Vereinsamung bei Studierenden, die in Berlin kein eigenes soziales Netz haben oder gerade neu in die Stadt gekommen sind, ist dramatisch. Aber ich habe auch nicht den Eindruck, dass die HU ohne Not dauerhaft Dinge ins Netz zu verlegen plant. Wünschenswert wäre aus meiner Sicht, dass man aus beiden Welten das beste behält, also die Kombination von Präsenzlehre mit digitalen Formaten für diejenigen, die zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen nicht in den Seminarraum kommen können.

AR: Das ist genau meine Befürchtung, weil das digitale Semester gezeigt hat, dass es geht. Aus meiner Sicht wäre das verheerend für die Uni als Ort des Lernens, aber auch des Seins, der vor allem von der persönlichen Begegnung lebt.

 

z|o: Auch das Wintersemester 2020 ist ein digitales. Was muss jetzt dringend passieren, damit sich die Arbeitsbedingen für Lehrende und Studierende diesen neuen Herausforderungen anpassen?
 

AV: Ich lehre im WS selbst nicht, aber wenn ich das täte, würde ich das Programm abspecken: die Zoom-Lehre auf maximal eine Stunde begrenzen, weniger Aufgaben vergeben und vor allem: eine virtuelle Kaffeemaschine einrichten, an der sich Studierende auch außerhalb der Seminarzeiten treffen können.

AR: Das Lehrdeputat sollte unbedingt verringert werden und ich bin nach wie vor für ein Nicht-Semester, meint: es gibt Seminarangebote, das Semester wird aber für die Studierenden nicht gezählt.

 

z|o: In einem außerordentlich spannenden Interview mit Andreas Fickers (Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History, Universität Luxembourg) erklärte er die Notwendigkeit einer systematischen Weiterbildung der Dozierenden und eine Aufwertung (und Aufnahme) der „digital literacy“ in Stellenprofile und Berufungsverfahren. Haben Sie eine Vorstellung, wo es derzeit geeignete Formen einer solchen Weiterbildung gibt?
 

AV: Die HU hat ein ganz gutes Tutorial zur digitalen Lehre entwickelt. Ich selbst habe die Corona-Krise genutzt, um mir in einem Online-Kurs die Programmiersprache Python beibringen zu lassen, über die University of Michigan, die den Kurs dort anbietet. Das ging aber nur, weil meine Kinder erwachsen sind und ich nicht nebenher mit Kleinkindbetreuung, home schooling oder Hausaufgabenprogramm beschäftigt war. Die wirklichen Leidtragenden der Krise sind aus meiner Sicht diejenigen, die parallel ihre Kinder zu Hause betreuen. Vor ihnen ziehe ich ganz tief den Hut, und für sie müssen adäquate Lösungen gefunden werden, sei es die Verlängerung von befristeten Verträgen, die Finanzierung von Kinderbetreuung oder Haushaltshilfen oder die Unterstützung durch Hilfskräfte.

AR: Nein.